Experten: Aussagekraft der Sieben-Tage-Inzidenz ist problematisch
Die Sieben-Tage-Meldeinzidenz als Hauptkriterium für die Aktivierung von Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung heranzuziehen ist aus Sicht mehrerer zu einer öffentlichen Anhörung des „Parlamentarischen Begleitgremiums Covid-19-Pandemie“ unter Vorsitz von Rudolf Henke (CDU/CSU) am Donnerstag, 27. Mai 2021, geladenen Sachverständigen problematisch. Es handle sich um eine ungenaue Erhebung mit systematischer Verzerrung, sagte Prof. Dr. Helmut Küchenhoff vom Institut für Statistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Sprecher der Covid-19 Data Analysis Group.
Alternativ zur Gesamtmeldeinzidenz sollte auf altersspezifische Meldeinzidenzen zurückgegriffen werden, befand er. Aktuell gelte es, sich auf die Gruppe der über 60-Jährigen zu fokussieren. Hier weise die entsprechende Sieben-Tagesinzidenz einen klareren und zeitstabileren Zusammenhang mit den medizinisch relevanten Größen der Mortalität und Morbidität auf.
„Der Inzidenzwert wird immer bedeutungsloser“
Die Inzidenz, „über alles gemessen“, sei ein recht unspezifischer Parameter, der auch von der Zahl der Getesteten abhängig sei, befand auch Prof. Dr. Detlev H. Krüger, Seniorprofessor am Institut für Virologie der Charité Berlin und bis 2016 dessen Leiter. Bei fortschreitenden Impfungen verbunden mit dem damit erreichten Schutz der Risikogruppen werde der Wert immer bedeutungsloser.
Bei dem im Herbst zu erwartenden jahreszeitlich bedingten Wiederanstieg der Infektionen sollte daher die Inzidenz in der Risikogruppe der Alten und Vorerkrankten zur Bewertung herangezogen werden, sagte Krüger. Als wichtigen Parameter benannte er ebenso wie Küchenhoff die Aufnahme von Corona-Patienten auf die Intensivstationen der Krankenhäuser. Die Sieben-Tagesinzidenz, so Krüger weiter, stelle im Übrigen auch nicht die Krankheitsinzidenz dar, sondern eine „Inzidenz der Positiv-Getesteten“. Wichtiger sei, die Krankheitslast festzustellen.
„Eine der schwierigsten Phasen für die Politik überhaupt“
Der jetzige Direktor des Instituts für Virologie an der Charité Berlin, Prof. Dr. Christian Drosten, vertrat die Auffassung, dass bislang die gemeldete Inzidenz in Deutschland, die auf der PCR-Testung basiert habe, die Krankheitslast in der Bevölkerung gut vorausgesagt habe. „Da ist nichts falsch gemacht worden“, betonte er. Richtig sei, dass die Impfungen dazu beitragen könnten, dass diese Werte in der Zukunft auseinander gehen.
Drosten hält nach eigener Aussage die jetzige Situation nicht für vergleichbar mit der zum Ende der ersten Welle im Sommer 2020. Damals sei das Virus in der Bevölkerung ganz anders verteilt gewesen. Die Entwicklungen seien jetzt – auch dank des Impffortschrittes – schwieriger zu modellieren. Daher muss aus seiner Sicht „mit Augenmaß und mit einer gewissen Vorsicht“ politisch gehandelt werden. So dürfe etwa bei den Kontaktreduktionen „nicht zu viel auf einmal zurückgenommen werden“, da es sonst erhöhte Inzidenzwerte geben könne, wenngleich auch dann die Krankheitslast reduziert sei. „Das ist jetzt eine der schwierigsten Phasen für die Politik überhaupt, das Ganze zu navigieren“, sagte Drosten.
„Gute Erfahrungen“ mit Abwasserscreening
Mit dem Abwasserscreening, das aus Sicht Drostens nicht zu priorisieren ist, weil die Werte ungenau seien, habe man beim Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes als zusätzliches Monitoring-Instrument gute Erfahrungen gemacht, sagte dessen Präsidentin Dr. Ute Teichert. Die hohe Zahl an Menschen mit gar keinen oder geringen Symptomen könne schließlich mit klinischen Parametern nicht erfasst werden.
Durch das Abwasserscreening könnten Infektionserreger erkannt werden, sagte sie. Der große Vorteil dabei ist laut Teichert, dass es dafür keine Teststrategien brauche, sondern nur das ohnehin untersuchte Abwasser. Die Verbandpräsidentin machte zugleich deutlich, dass es nach wie vor Probleme bei den Gesundheitsämtern gebe. Es fehle an Personal und Fortschritten bei der Digitalisierung.
„Digitalisierung bei allen Aufgaben, die sich digitalisieren lassen“
Prof. Dr. Gérard Krause, Leiter Epidemiologie beim Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, bestätigte diesen Befund. Da aber Personal nicht in beliebiger Höhe zusätzlich beschafft werden könne, brauche es die Digitalisierung bei allen Aufgaben, die sich digitalisieren lassen. In den letzten Monaten habe es in dieser Hinsicht gewaltige Fortschritte gegeben, betonte Krause. Die auch vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung entwickelte Open-Source-Plattform Sormas ermögliche eine Kommunikation zwischen den Gesundheitsämtern und könne perspektivisch den oftmals problematisierten Zeitverlust bei der Meldung von Daten überwinden.
Auf die Situation der Beschäftigten ging Dr. Elke Ahlers vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung ein. Die Sorge vor Ansteckung sei branchenübergreifend hoch gewesen. Am allerhöchsten sei sie aber bei den Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Aus Sicht von Ahlers hätte die Pflicht zum Homeoffice deutlich früher kommen müssen. Die Testpflicht in den Unternehmen bewertete sie positiv. Die Schnelltests liefen gut und sorgten für eine gesteigerte Zufriedenheit bei den Beschäftigten, sagte Ahlers.
„In die Breite öffnen“
Prof. Dr. Dr. h. c. Ilona Kickbusch, Gründerin des globalen Gesundheitsprogramms am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung in Genf, sieht in der Impfgerechtigkeit ein wichtiges Thema. Es müssten eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen werden, um in ärmeren Ländern zu impfen. Das habe auch starke Auswirkungen auf die Situation und in Deutschland, betonte sie. Die hierzulande zu wählenden Strategien seien auch von der internationalen Lage abhängig, wenn man an das Reiseverhalten und die verschiedenen Virusvarianten denke.
Prof. Dr. Kai Nagel vom Fachgebiet Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik der Technischen-Universität Berlin, sagte, der derzeitige Inzidenzwert gebe Spielräume für Öffnungen. „Wir dürfen aber nicht schneller öffnen, als diese Spielräume wachsen“, sagte er. Statt in die Tiefe, so Nagel, solle in die Breite geöffnet werden. „Also erst öffnen unter Schutzmaßnahmen und dann die Schutzmaßnahmen zurücknehmen“, forderte Nagel.
Das Parlamentarische Begleitgremium
Die Bewältigung der Covid-19-Pandemie ist eine gesellschaftliche Herausforderung, die zahlreiche gesundheitliche und soziale Fragen mit sich bringt. Um sich damit intensiver befassen zu können, hat der Gesundheitsausschuss das Parlamentarische Begleitgremium Covid-19-Pandemie eingerichtet. Ihm gehören 21 Mitglieder aus dem Gesundheitsausschuss, aber auch aus anderen Fachausschüssen an.
Sein Arbeitsbereich umfasst im Wesentlichen drei große Themenblöcke. Zunächst sind dies Fragen der Pandemiebekämpfung, wozu beispielsweise die Erforschung des Virus und seiner Mutationen, Chancen durch Digitalisierung sowie internationale Aspekte gehören. Der zweite Themenblock umfasst den Komplex der Impfungen, mit dem sowohl die Entwicklung und Zulassung von Impfstoffen als auch der Zugang zur Impfung und die damit verbundenen ethischen, sozialen und rechtlichen Aspekte gemeint sind. Schließlich sollen auch die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie und der damit verbundenen Kontaktbeschränkungen in den Blick genommen werden.
Als Erkenntnisquelle dienen dem Begleitgremium öffentliche Anhörungen von Sachverständigen und Expertengespräche. Zudem wird die Bundesregierung das Gremium regelmäßig über das aktuelle Infektionsgeschehen und anlassbezogen zu aktuellen Fragen der Pandemiebekämpfung unterrichten. (hau/27.05.2021)