Familie

Experten und Betroffene ziehen Bi­lanz nach Reform des Vormund­schaftsrechts

Mehr Zeit für die ihnen anvertrauten Kinder, weniger Fälle pro Vormund und eine bessere Qualifikation der in dem Bereich Tätigen: unter anderem darauf komme es bei der Umsetzung des kürzlich reformierten Vormundschaftsrechts an, so die Sachverständigen und Betroffene im öffentlichen Fachgespräch des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am Montag, 17. April 2023, zum Thema: „Kinder unter Vormundschaft: Baustellen und Weiterentwicklungsbedarf der Vormundschaftsrechtsreform im BGB und SGB VIII“.

Nach dem Inkrafttreten der neuen Regelungen gehe es darum, was für Konsequenzen diese für Kinder und Jugendliche hätten sowie für diejenigen, die sich in Jugendämtern und Vormundschaftsvereinen um die Kinder sorgten, sagte Ekin Deligöz, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)

„Vertrauen muss wachsen“

Der Gesetzgeber habe sich dazu bekannt, dass die Kinderrechte auch im Bereich des Vormundschaftsrechts im Mittelpunkt stehen sollten. Expertinnen und Experten müssten nun die Umsetzung beurteilen. Die Politik werde entsprechend der sich wandelnden Gesellschaft die bestehenden Regelungen regelmäßig hinterfragen und bei Bedarf neu fassen. „Wir werden schauen, ob das, was wir beabsichtigen, auch erreicht wird, und aus diesem Gesetz das Beste für Kinder und Jugendliche herausholen.“ 

Prof. Dr. Ulrike Urban-Stahl von der Freien Universität Berlin unterstrich die Verantwortung, die in der Tätigkeit der Vormundschaft liege. Es gehe darum, zu einem Schutzbefohlenen eine verlässliche, dauerhafte Beziehung aufzubauen, gemeinsam Zeit zu verbringen, um auf die Bedürfnisse und Interessen des Kindes eingehen zu können. „Vertrauen muss wachsen.“ Zentrale Aufgabe der Vormundschaft sei, die Rechte des Kindes, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention dargelegt seien, in allen die Kinder betreffenden Situationen zu wahren. Kinder und Jugendliche hätten zu wenig Macht, um ihre Rechte selbst einzufordern. Zu ihren Rechten gehöre, an Entscheidungen über ihr Leben beteiligt zu werden. 

Zahl der Fälle pro Betreuer

Die Reform des Vormundschaftsrechts setze richtige und wichtige Impulse. So richte sich heute die Wahl des Vormundes stärker nach dem Willen des Kindes. Der Vormund sei gehalten besser mit den Erziehungspersonen zusammenarbeiten. Es bestehe Bedarf die im Vormundschaftsbereich Tätigen fachlicher weiter zu qualifizieren. „Hier liegt eine echte Chance zur Stärkung der Vormundschaft.“ Das Vormundschaftsrecht werde heute anders gedacht als vor zwanzig Jahren. Heute stehe, über die rechtliche Betreuung hinaus, vielmehr der Kontakt zu dem anvertrauten Kind im Mittelpunkt. Das Kind müsse den Eindruck haben: Zu dem oder der kann ich kommen, wenn es nötig ist. Um mehr Zeit für die Kinder zu haben müsse die Zahl der Fälle pro Betreuer gesenkt werden. „50 Fälle sind zu viel.“

Über ihre persönlichen Erfahrungen mit einer Vormundschaft als junge Menschen berichteten Jana Paul und Daline Raphael vom Verein Careleaver. Gute Erfahrungen hat Jana Paul mit ihrem Vormund gemacht, berichtete sie. Ihr Vormund habe während ihrer gesamten Kindheit bis zu ihrem 18. Lebensjahr eine zentrale Rolle gespielt, sie in ihrer Pflegefamilie mehrmals pro Jahr besucht. „Es war ihr wichtig, dass es mir gut ging.“ Sie habe ihre Entscheidung bei der Familienwahl akzeptiert, ihr geholfen, traumatische Erlebnisse zu bewältigen und alles in Bewegung gesetzt, damit sie auch nach einem Wechsel des zuständigen Jugendamtes ihre Vormündin habe bleiben können. „Ich bin ihr sehr dankbar.“

13 verschiedene Pflegefamilien

13 verschiedene Pflegefamilien hatte Daline Raphael, die von den Schwierigkeiten erzählte, gehört zu werden. Ihre Vormünde hätten keine Zeit gehabt eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Die politischen Reformvorhaben dauerten zudem länger als eine Kindheit. Die Erwachsenen hätten die Macht, aber keinen Bezug zu den ihnen anvertrauten Kindern. Es sei immer zu wenig Zeit, die Fallzahlen pro Betreuer zu hoch. „Bei mir wurde immer alles genehmigt.“ Außer dem Wunsch, mit ihrer Schwester zusammen zu ziehen. Man müsse vor allem den Gedanken der Teilhabe fördern und die Qualifikation der Vormünde verbessern. 

Die Reform des Vormundschaftsrechtes sei ein Meilenstein auf dem Weg zur kinderrechtsbasierten Vormundschaft und mehr Kinderschutz, setze wichtige Akzente für eine besonders vulnerable Gruppe. Sie stärke die Rechte der Kinder, aber auch die Verantwortung der Betreuer, so Ruth Seyboldt vom Bundesforum Vormundschaft und Pflegschaft. Kinder bräuchten Vormünde, die sich aktiv für sie einsetzen. Es sei Aufgabe der Erwachsenen dafür zu sorgen, dass die Kinder ihre Rechte wahrnehmen könnten. Jedes Kind brauche einen individuell passenden Vormund. Vormünde müssten für das Kind insbesondere in schwierigen Situationen da sein. Um ihrer anspruchsvollen Aufgabe gerecht zu werden, brauche es für ehrenamtliche Vormünde entsprechende Schulungen und Qualitätskriterien. „Da sind Vereins- und Amtsvormundschaften stabile Stützen.“ Die Kooperation zwischen Erziehungsberechtigten und Vormund werde durch die Reform gestärkt. 

Entwicklungspsychologie und Pädagogik

Der Vormund müsse sich mit einer breiten Palette an Themen und Fachgebieten, von der Entwicklungspsychologie bis zu pädagogischer Kompetenz, auskennen und das ihm anvertraute Kind in allen Lebenslagen begleiten. Zudem seien die Kinder und Jugendlichen an den sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen. „Beteiligung ist die Grundlage der Interessenvertretung.“ Und die Kinder bräuchten Kontinuität statt allzu viele Betreuungspersonen, vor allem bei Ortswechseln. In der Reform stecke großes Potenzial. Sie werde aber kein Selbstläufer, sondern müsse in der praktischen Umsetzung begleitet und gestaltet werden.

Das Potenzial der Vormundschaftsvereine zu nutzen, dafür plädierte Dr. Heike Berger, Sozialdienst katholischer Frauen Gesamtverein. Die 167 Vormundschaftsvereine in Deutschland, die sich zumeist in konfessioneller Trägerschaft befänden, verfügten über viel Kompetenz und Erfahrung, um eine kinderrechtsbasierte Vormundschaft zu gewährleisten. In der offiziellen Statistik würden leider nur die Amtsvormundschaften geführt. Für rund 6.000 Kinder und Jugendliche aber hätten im Jahr 2020 Vormundschaftsvereine Vormundschaften und Pflegschaften übernommen. Diese arbeiteten gemäß staatlich geregelter Anerkennungsvoraussetzungen. 

„Der beste Vormund ist oft das Jugendamt“

Das Angebot an Vormundschaftsvereinen sei leider in Deutschland sehr unterschiedlich und erstrecke sich vor allem auf Bayern und Nordrhein-Westfalen. Es müsse jetzt darum gehen die Vereine finanziell besser auszustatten. An die Stelle minutengenauer Abrechnung müsse eine verlässliche Pauschale pro Fall treten, die Finanzierung müsse dynamisiert werden. Wegen der mangelhaften Finanzierung würden kaum Vereine neu gegründet. Außerdem müsse es möglich sein, sich vom Gericht als Vormundschaftsverein bestellen zu lassen, so wie es für das Jugendamt auch gelte, statt einzeln pro Fachkraft. 

Ohne die Jugendämter sei eine gute Vormundschaft nicht denkbar, ja „der beste Vormund ist oft das Jugendamt“, sagte Katharina Lohse, Leiterin des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF). 80 Prozent aller Vormundschaften seien Amtsvormundschaften. An dieser Zahl werde sich trotz der Zielsetzung, die ehrenamtliche Vormundschaft zu stärken, nur langsam etwas ändern. Oft könne schlicht kein ehrenamtlicher Vormund gefunden werden. Und der ehrenamtliche Vormund könne auch nur durch das Jugendamt ausgewählt, vorbereitet und beaufsichtigt werden. Bei der sinnvollen Stärkung des Ehrenamtes bleibe das Jugendamt der zentrale Akteur in Vormundschaftsverfahren. Damit die Jugendämter diese anspruchsvolle Aufgabe gut erfüllen könnten, müssten diese finanziell ausreichend ausgestattet werden und deren Mitarbeiter fachlich gut qualifiziert werden. 

„Das Gesetz mit Leben füllen“

Um eine angemessene Betreuung der Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten solle man sich an einer Fallzahl von 30 bis 40 statt von 50 Kindern pro Betreuer orientieren. Man müsse jetzt zudem an der Verbesserung der Kooperation aller Kontaktpersonen arbeiten, dabei jedoch die Wünsche und Vorstellungen des Kindes im Blick behalten. Innerhalb der Ämter gelte es, das neue Trennungsgebot umzusetzen, mit dem die Unabhängigkeit der Betreuer und deren Verpflichtung lediglich den Interessen des Kindes sichergestellt werden solle. Auf Baustellen aus juristischer Praxis wies Judith Pammler-Klein, Familienrichterin am Amtsgericht Kiel und Fachkoordinatorin für Familienrecht in Schleswig-Holstein, hin. So habe die Vormundschaftsreform zu einer erhöhten Belastung der Rechtspfleger geführt, deren Verantwortungsbereich ausgedehnt worden sei. Die Drei-Monats-Frist zur Bestellung eines endgültigen Vormundes sei angesichts der Länge des Hauptsacheverfahrens viel zu kurz. 

Während die Reform den Jugendämtern erhöhte Ermittlungs- und Darlegungspflichten auferlegt habe, entscheide das Familiengericht über die Person des Vormunds in der Regel nach nur einem Termin - viel zu wenig Zeit, um sich einen grundlegenden Eindruck zu verschaffen. Andererseits führe die deutliche Ausweitung der Anhörung von Kindern durch eine Vielzahl fremder Personen zu einer hohen Belastung oder „Anhörungsmüdigkeit“ der Kinder, die ihre Geschichte immer wieder neu erzählen müssten. Es gehe einhundert Tage nach dessen Inkrafttreten darum, das Gesetz mit Leben zu erfüllen und seine Umsetzung kontinuierlich zu begleiten, sagte Dr. Heike Schmid-Obkirchner, Referatsleiterin im BMFSFJ. Um den Kindern in ihrer besonderen Situation gerecht zu werden, gelte es, den in der Sitzung deutlich gewordenen neuralgischen Punkte besondere Beachtung zu schenken.  Dem Gesetz müsse jetzt erst einmal Zeit gegeben werden, um seine Wirkung zu entfalten, sagte Annette Schnellenbach, Referatsleiterin im Bundesministerium der Justiz. Man werde in einem Evaluierungsprozess in die Praxis hineinhorchen und die Umsetzung mit allen Betroffenen kontinuierlich begleiten. (ll/18.04.2023)