1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: Kein Gesetz regelt Eva­kuierung von Ortskräften

Verschiedene gepanzerte Radfahrzeuge eines Konvois

Soldaten auf dem Weg nach Fayzabad zum Empfang der Patrouille am 11.09.2009. (Bundeswehr/Dana Kazda)

Der Leiter des Risk Managements Office (RMO) Kabul der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (GIZ) hat am Donnerstag, 27. April 2023, im 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) zum Gefährdungsgrad der zivilen Entwicklungsorganisationen und der Ortskräfte ausgesagt. 

Er berichtete, das RMO habe zwar Pläne für eine eventuelle Evakuierung des internationalen Personals gemacht, nicht aber für die afghanischen Ortskräfte. Es hätte derartige Pläne auch nicht umsetzen dürfen, weil es dafür keine gesetzliche Grundlage gegeben habe. Diese sei für die Evakuierung der Ortskräfte erst am 18. August 2021 geschaffen worden – drei Tage nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban. Afghanistan sei in dieser Hinsicht „ein singulärer Vorgang“ gewesen.

Kern der Arbeit des RMO

Der Zeuge, der heute für die Durchführung des Ortskräfteverfahrens bei der GIZ verantwortlich ist, erklärte auf Nachfrage, der Auftrag seiner Abteilung sei generell und weltweit die Evakuierung des deutschen und internationalen Personals. Bei den Ortskräften sei nur vorgesehen, sie zum Heimatstandort zurückzubringen, sollten sie zum Zeitpunkt einer Krise auf Reisen sein. Kern der Arbeit des RMO, führte er weiter aus, seien Analysetätigkeiten. Auf dieser Basis würden Sicherheitsrisiken für die Entwicklungsprojekte identifiziert und beobachtet. Dabei habe niemand im RMO Zugang zu eingestuftem Material, unterstrich er mehrmals. Das würde andernfalls aber auch nichts Wesentliches an den Lageeinschätzungen ändern.

Bei der Sicherung der Projekte spielten in Afghanistan die sogenannten Schuras eine große Rolle, sagte der Zeuge. Dort kämen die Dorfältesten zusammen, um zu diskutieren und zu einem Konsens zu kommen. Er habe an vielen solcher Treffen teilgenommen, um die Ziele der deutschen Entwicklungsprojekte zu erklären und darzulegen, wer davon profitieren würde und wer nicht. Kulturelle Kompetenz sei dabei sehr wichtig und eine Stärke des RMO.

Die Sicherheit der GIZ-Mitarbeiter

Die Treffen seien vor allem für die Sicherheit der GIZ-Mitarbeiter von Bedeutung gewesen, weil die Projekte dadurch Legitimität erhalten hätten. Habe eine Schura die Sicherheit eines Projektes garantiert, seien die Mitarbeiter als Gäste behandelt worden, für deren Unversehrtheit die Dorfältesten sich verantwortlich fühlten. Die Taliban seien nicht Teil dieser Absprachen gewesen.

Daher hätten die Dorfältesten immer gewarnt, sollte zum Beispiel eine Reise in das Projektgebiet gefährlich sein. Die Organisationen der zivilen Entwicklungszusammenarbeit seien immer potenzielles Ziel gewesen, hätten jedoch nicht weit oben auf der Liste gestanden, betonte er. 

Zeuge: BMZ war mit Evakuierung der Ortskräfte überfordert

Der Referatsleiter Zentralasien, Afghanistan und Pakistan des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) berichtete im zweiten Teil der Zeugenbefragung, dass eine Task Force eineinhalb Jahre nach dem Fall von Kabul weiterhin an den Gefährdungsanträgen der Ortskräfte aus Afghanistan arbeite. Sein Ministerium sei auf diese Aufgabe nicht genug vorbereitet und überfordert gewesen.

Der Zeuge überraschte die Ausschussmitglieder mit einer auf den ersten Blick widersprüchlichen Sichtweise. Denn aus den Akten ging, aus Sicht der Abgeordneten, hervor, dass er und sein Team im Jahr 2021 die Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan mit einer nahezu perfekten Genauigkeit erfasst hatten. Dennoch hätten der Zeuge und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) nicht nur dafür plädiert, die Ortskräfte im zivilen Bereich nicht zu evakuieren. Das Haus hätte auch gegen die Erweiterung des Berechtigtenkreises um die ehemaligen Mitarbeiter gestimmt.

„Entwicklungserfolge stehen auf dem Spiel“

Für den Afghanistan-erfahrenen Beamten kein Widerspruch: „Als Akteure der Entwicklungszusammenarbeit ist unser Mandat dort Hilfe zu leisten, wo Entwicklungsarbeit notwendig ist.“ Vor allem in Krisengebieten sei dies der Fall, so auch in Afghanistan, wo „Entwicklungserfolge auf dem Spiel“ stünden. Aus diesem Grund habe er sich für die Fortsetzung der Arbeit des BMZ und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Entwicklungszusammenarbeit (GIZ) im Land ausgesprochen. „Die Entwicklungszusammenarbeit ist darauf eingestellt gewesen, nach dem Abzug weiterzumachen und wir sind auch heute dieser Meinung“, sagte er.

Wie der BMZ-Vertreter sagte, habe die Tatsache, dass sein Ministerium auch gegen die Erweiterung des Kreises Antragsberechtigten „rückwirkend bis zum Jahr 2013“ gewesen sei, mit dem Gedanken zu tun, dass alle Ortskräfte gleich behandelt werden müssten. Diese zeitliche Erweiterung sei zunächst nur für die Ortskräfte der Bundeswehr und der Bundespolizei gültig gewesen. Die Jahreszahl 2013 sei nur deshalb gesetzt worden, weil in diesem Jahr die Mission ISAF durch die Mission Resolute Support ersetzt worden und daher auch eine Zäsur für die genannten Institutionen gewesen sei. Bei der Entwicklungszusammenarbeit habe dieses Datum jedoch keine Rolle gespielt.

Langwierige Ortskräfteverfahren

Deshalb habe der damalige Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) davor gewarnt, dass sein Ressort bei Gleichbehandlung alle lokalen Mitarbeiter und ihre Familien während des gesamten Einsatzes berücksichtigen müsste und dies bis zu 50.000 Menschen umfassen würde. Stattdessen seien sie dafür eingetreten, den Kreis der Antragsberechtigten des Ortskräfteverfahrens nicht zeitlich zu erweitern, sondern dessen Umfang. So sollten nach Auffassung des BMZ nicht nur die lokalen Mitarbeiter der GIZ und der politischen Stiftungen, sondern auch die Ortskräfte der NGOs und deutscher Beratungsunternehmen das Recht bekommen, Gefährdungsanzeigen zu stellen und einen Anspruch auf das Ortskräfteverfahren erhalten, was nur bedeute, dass ihre Anträge geprüft werden würden. Eine automatische Zusage sei dies nicht.

Außerdem sei die Bearbeitungszeit beim Ortskräfteverfahren bis zum Ende des Afghanistan-Einsatzes sehr lange gewesen, weil eine Einzelprüfung der Gefährdungsanzeigen notwendig gewesen sei. Das habe Monate in Anspruch genommen. Im Sommer 2021 habe der deutsche Geschäftsträger aus Kabul berichtet, dass die Prozesse verkürzt werden müssten. Doch die Entscheidung, von Einzelprüfung zum beschleunigten Listenverfahren zu wechseln, sei bis zum Fall der afghanischen Hauptstadt nicht getroffen worden. „Am 15. August war jedem klar, dass wir das beschleunigte Verfahren anwenden“ sagte der Zeuge. „Die Entwicklung hat uns die Entscheidung aus der Hand genommen, wir hatten keine andere Wahl, die Entscheidung wurde nicht ausgesprochen, sie ist aber gefallen.“ Eine Woche später habe die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auch die Debatte über die Abweichung von der Jahresgrenze beendet, in dem sie entschieden habe, dass die Anträge von allen Mitarbeitern gestellt werden konnten, die ab 2013 für deutsche Organisationen tätig waren.

„Reputationsrisiken für die Bundesrepublik“

Auf Nachfrage erklärte der Zeuge, warum er sich gegenüber einer Initiative des damaligen Sonderbeauftragten Afghanistan der Bundesregierung, Markus Potzel, um den stockenden innerafghanische Friedensverhandlungen zum Erfolg zu verhelfen, mit den Taliban zu sprechen, skeptisch geäußert hatte.

Er sei nicht dagegen gewesen, sondern habe sich nur Sorgen gemacht, da „Reputationsrisiken für die Bundesrepublik“ bestünden. Denn „man hatte die Taliban 20 Jahre als Gegner betrachtet“. Deshalb habe er mehrere Punkte aufgeschrieben, die in einem eventuellen Gespräch erläutert werden müssten. Zu diesem Gespräch sei es ohnehin nie gekommen, ergänzte er.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/28.04.2023)

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