1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: Wir haben in Afghanistan vielfältige Interessen

Eine Gruppe Soldaten steht vor einem Transportflugzeug in der Dämmerung

Menschen stehen vor Militärmaschinen auf dem Flughafen in Kabul im August 2021. (picture alliance / zumapress.com | U.S. Air Force)

Der ehemalige Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, Markus Potzel, hat am Donnerstag, 21. März 2024, vor dem 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan ausgesagt. Potzel gilt als Kenner der Region und begleitete im Namen der Bundesregierung den Doha-Prozess. Dort hatten die USA und die Taliban im Jahr 2020 das Abkommen verhandelt, mit dem der Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan geregelt wurde. Der Untersuchungsausschuss beschäftigt sich mit der Zeit nach dem Doha-Abkommen bis zur chaotischen Evakuierung vom Flughafen Kabul im August 2021.

Schließung der Botschaft in Kabul

Während seiner Befragung musste Potzel unter anderem auch unangenehme Fragen beantworten, weil andere Zeugen, die früher ausgesagt hatten, ihm wegen seiner Entscheidungen und seines Auftretens schwere Vorwürfe gemacht hatten. Er habe die Berichte und Warnungen des ehemaligen Gesandten in der deutschen Botschaft, Jan van Thiel, nicht ernst genommen, so lautete ein Vorwurf. Er habe einen Tag vor der Schließung der Botschaft in Kabul dem Sicherheitsberater der Bundespolizei in der Botschaft die Anweisung gegeben, vor Ort zu bleiben und weiterzuarbeiten, lautete ein anderer. Außerdem hatten die Abgeordneten mehrere Mails von Potzel mit abfälligen Äußerungen über van Thiel in den Akten gefunden.

Potzel widersprach diesen Darstellungen teilweise. Er habe eng und gut mit dem ehemaligen Botschafter zusammengearbeitet. Die Eindrücke und Berichte von van Thiel seien immer ernst genommen worden und auch in die Entscheidungen eingeflossen, betonte der 59-jährige Diplomat mehrmals. Van Thiels Informationen seien jedoch nicht die einzigen gewesen. Die Entscheidungen in Berlin seien stets auf Basis von Informationen aus mehreren Quellen getroffen worden und die Zentrale sei immer gut informiert gewesen. Die Aussage des ehemaligen Sicherheitsberaters der Bundespolizei, Potzel habe ihm die Entsendung von KSK-Soldaten angeboten, begegnete er mit der Behauptung, diese Aussage vor dem Untersuchungsausschuss sei falsch gewesen.

Erinnerungslücken des Zeugen

Potzel, der heute als stellvertretender Sonderbeauftragter des UN-Generalsekretärs in Kabul arbeitet, konnte sich im Ausschuss häufiger nicht erinnern, was in den letzten Tagen vor der Evakuierungsoperation am Flughafen Kabul geschehen war. Vor allem den Obmann der CDU/CSU-Fraktion, Thomas Röwekamp, brachte das auf: „Der Zeuge kann sich immer dann nicht erinnern, wenn er gefragt wird, was er mit seinen eigenen Äußerungen meinte.“

Während dieser Teil der Befragung den Eindruck eher persönlicher Konflikte beim Personal des Auswärtigen Amtes (AA) zutage förderte, ging es auch um andere inhaltlich wichtige Fragen. Denn die Aussagen vieler Zeugen erhärten allmählich den Eindruck, die Bundesregierung sei im Untersuchungszeitraum bereit gewesen, mehr Risiken einzugehen als andere Nationen, um nach einem eventuellen Machtwechsel im Land bleiben zu können.

„Es war Wahlkampf in Deutschland“

Warum ein Verbleib in Afghanistan für Deutschland als wichtig erachtet wurde, begründete Markus Potzel mit „vielfältigen Interessen.“ Es sei hilfreich, vor Ort zu sein, wenn deutsche Staatsbürger, Schutzbedürftige oder Ortskräfte evakuiert werden sollen, ebenso für Rückführungen, für die Terror- und Drogenbekämpfung. Außerdem müsse man im Land sein, um die Entwicklungszusammenarbeit weiterführen zu können. Außerdem spielten Aspekte der deutschen Innenpolitik eine Rolle, führte Potzel aus. Zum Beispiel habe das Bundesministerium des Inneren (BMI) noch in den letzten Wochen Rückführungen durchführen wollen. „Es war Wahlkampf in Deutschland“, sagte der Zeuge.

Er habe in Doha fast jede Woche mit den Vertretern der Taliban gesprochen. Es habe eine Vertrauensgrundlage gegeben, berichtete Potzel. Sie hätten ihm persönlich versichert, dass sie kein Interesse daran hätten, dass die Botschaft verlassen werde und dass sie die Sicherheit der Auslandsvertretung gewährleisten würden. „Ich hatte keinen Grund das zu bezweifeln“, fügte der Zeuge hinzu. Deshalb habe er gedacht, dass eine Gefahr eher von kriminellen Banden ausgehen würde. Die Entscheidung, die Botschaft zu verlassen, sei erst dann gefallen, als die US-Amerikaner den Green Zone und ihre eigene Botschaft evakuiert hätten. 

Die Evakuierung beschrieb der ehemalige Sonderbeauftragte der Bundesregierung als erfolgreich. Es habe eine Zusicherung der Taliban gegeben. „Sehr vielen, die in Gefahr waren, konnten wir helfen“, sagte er. „Es sind mir zwar Fälle bekannt geworden, in denen die Leute nicht außer Landes gebracht werden konnten, aber niemand musste sein Leben lassen.“

Innerafghanische Friedensverhandlungen

Auch in Doha, bei den innerafghanischen Friedensverhandlungen seien Absprachen mit den Taliban zuverlässig und belastbar gewesen. Sie seien einheitlicher aufgetreten als die afghanische Regierung, in der viele gegen Präsident Aschraf Ghani gearbeitet hätten. Das sei einerseits durch die Diversität der afghanischen Gesellschaft zu erklären. Andererseits sei die Regierung auch an Machtambitionen und Korruption gescheitert, so Potzel. Es habe ihn jedenfalls sehr überrascht, „dass sich die Kräfte, die wir ausgebildet haben, so schnell aufgegeben haben.“ Es habe nicht an mangelnden Fähigkeiten gelegen.

Die Bundesregierung habe, trotz der Ankündigung des US-Präsidenten Joe Biden, die US-Truppen zu einem bestimmten Datum aus dem Land zurückzuziehen, gehofft, dass es zu einer Vereinbarung kommen würde. Sie hätte gehofft, die Taliban überzeugen zu können, die Macht zu teilen. Das sei auch die Hoffnung der afghanischen Regierung gewesen.

Zu Afghanistan herrschten sehr unterschiedliche Lagebilder

Im zweiten Teil der Sitzung des Untersuchungsausschusses Afghanistan ist Jasper Wieck befragt worden, ein weiterer Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan und der direkte Nachfolger des zuvor angehörten Markus Potzel. Wieck hatte diesen Posten Mitte Juli 2021 übernommen, ungefähr ein Monat vor dem Fall Kabuls. Wieck berichtete, dass er eine Woche, nachdem er seine Arbeit aufgenommen hatte, nach Afghanistan gefahren sei, um das Land und die Lage besser verstehen zu können. Sein Ziel sei gewesen, herauszufinden, wie aussichtsreich die Friedensverhandlungen waren und ob der Konflikt politisch beendet werden könne. Außerdem habe er sich darum bemüht, eine möglichst große Geschlossenheit in der internationalen Gemeinschaft zu erreichen, um den Taliban die einheitliche Botschaft senden zu können, dass eine gewaltsame Neuordnung in Afghanistan nicht anerkannt werden würde.

Er habe festgestellt, dass sehr unterschiedliche Lagebilder existierten, erinnerte sich der Diplomat. In der pakistanischen Hauptstadt Islamabad sei beispielsweise sein Gesprächspartner davon überzeugt gewesen, dass es am Ende zu einet Art Machtteilung kommen werde. Der russische Botschafter in Kabul hingegen habe geglaubt, dass es festgefrorene Linien zwischen Taliban und der Regierung geben werde. „Die Briten waren pessimistisch, die Amerikaner im Mittelfeld“, sagte Wieck.

Abschiebung schwerer Straftäter

Am Ende sei es am 12. August gelungen, eine klare Botschaft zu senden - zwei Tage vor dem Zusammenbruch der Regierung in Kabul. Bei seinen Gesprächen in Kabul, unter anderem auch mit der Zivilgesellschaft und einem Vertreter der Taliban, habe Wieck „viel Zuversicht vernommen“. Seine Gesprächspartner hätten auf ihn einen gelassenen aber kämpferischen Eindruck gemacht. Falls die Taliban die ganze Macht zu übernehmen versuchten, würden man kämpfen, um die Errungenschaften der letzten zwanzig Jahre zu bewahren. Wieck sagte, er habe das Gefühl gehabt, man müsse das Land nicht verlassen. 

Befragt nach dem letzten geplanten, aber am Ende wegen der Sicherheitslage in Kabul nicht durchgeführten Abschiebung schwerer Straftäter, berichtete der Zeuge, er habe ein Gespräch im zuständigen Migrationsministerium geführt. „Ich habe keinen Druck aufgebaut“, sagte er, denn die afghanische Seite habe noch bevor er im Ministerium angekommen war, der Rückführung zugestimmt. „Wir hatten ein freundschaftliches Gespräch“, führte er aus. Es sei lediglich darum gegangen, ob die Rückführung mit Charterflügen oder mit Linienmaschinen erfolgen solle. Die afghanische Seite sei dabei an Diskretion interessiert gewesen. Dass eine Woche später die Zustimmung der Afghanen in Unmut gekippt sei, sei nicht überraschend, so Wieck. Das habe man zur Kenntnis genommen. „Aber den Flug deshalb abzusagen, so weit sind wir nicht gegangen“, sagte er. Als die Abgeordneten von ihm wissen wollten, was seine „lessons learned“ seien, antwortete Wieck: „Wir haben uns von den Amerikanern abhängig gemacht. Wir sollten europäische Strukturen aufbauen, wo wir Mitspracherecht haben. Die Amerikaner haben entschieden, ohne uns einzubeziehen.“

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/27.03.2024)

Zeit: Donnerstag, 21. März 2024, 12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal (4.900)

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