GIZ wollte Ortskräfte an anderen Orten im Land unterbringen
Zeit:
Donnerstag, 25. April 2024,
12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal 4.900
Im Mittelpunkt der 72. Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses (Afghanistan) des Bundestages am Donnerstag, 25. April 2024, stand die Evakuierung der Ortskräfte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan. Dazu befragte der Ausschuss als erste Zeugin die ehemalige Vorstandssprecherin der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) Tanja Gönner. Gönner informierte den Ausschuss über die Evakuierungsbemühungen der GIZ und ihre Kontakte zur damaligen Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und der Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (beide CDU).
Bemühungen um Evakuierung ohne Erfolg
Die Juristin berichtete, dass sie damals bei der GIZ für die Unternehmenssicherheit zuständig gewesen sei. Sie sei immer informiert gewesen, wie sich die Lage in Afghanistan entwickelte, aber das Operative sei nicht in ihrem Aufgabenbereich gewesen. In der „intensiven Phase“ jedoch habe sie auch zwei Mal die damalige Bundeskanzlerin und auch die damalige Bundesverteidigungsministerin kontaktiert.
Dabei sei es vor allem darum gegangen, direkten Kontakt zu den deutschen Kräften im Flughafen Kabul zu bekommen, um Ortskräfte und ihre Familien in den Flughafen bringen zu können. Aber auch darum, herauszufinden, wie lange der Einsatz der US-Kräfte im Kabuler Flughafen dauern könnte. Alle diese Bemühungen hätten nicht zu größerem Erfolg geführt, weil die Umstände am Flughafen dies nicht erlaubt hätten. Laut Gönner sind es am Ende 20 bis 30 Ortskräfte und ihre Familien gewesen, die ausgeflogen werden konnten. „Als die Amerikaner die Evakuierung beendeten, war klar, dass die meisten Mitarbeiter nicht evakuiert werden konnten“, sagte sie.
Überlegungen zur Unterbringung an anderen Orten
Gönner räumte ein, dass die GIZ geplant hatte, die Ortskräfte aus Sicherheitsgründen notfalls an anderen Standorten innerhalb des Landes unterzubringen. Diese Überlegung habe mit dem Wunsch der GIZ zu tun gehabt, weiterhin in Afghanistan tätig zu sein.
Gönner führte aus, dass sie ein Szenario für wahrscheinlich hielt, in dem die Taliban an der Macht beteiligt werden würden. Unter Umständen hätte das eine Fortsetzung der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) ermöglicht. Dabei hätten für die GIZ die Sicherheit der nationalen Mitarbeiter und daher auch Sicherheitsgarantien im Fokus gestanden. Seitens der Bundesregierung habe es Versuche gegeben, erinnerte sich Gönner, mit den Taliban direkte Gespräche zu führen, um herauszufinden, ob die Entwicklungszusammenarbeit später weitergeführt werden könnte.
Ortskräfteverfahren laut Zeugin „sehr bürokratisch“
Die Zeugin unterstrich, dass das gesetzlich vorgesehene Ortskräfteverfahren (OKV) „sehr bürokratisch und langwierig“ sei. Man hätte ab April 2021 vertiefte Gespräche mit dem Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) geführt, um eine Änderung des Verfahrens zu erreichen. Im Rahmen von Gesprächen, fügte Gönner hinzu, sei darauf hingewiesen worden, dass sich die Mitarbeiter Pässe besorgen sollten. Die GIZ habe auch sehr schnell Listen erstellt und geliefert. Sie wisse jedoch nicht, wer diese Listen zusammengestellt hatte, so Gönner.
Die Abgeordneten erkundigten sich unter anderem zu einem Brief, in dem den Ortskräften ein in der Öffentlichkeit als „Bleibeprämie“ bekanntgewordene finanzielle Hilfe angeboten worden sei. Dazu erläuterte Gönner, dass der Begriff falsch sei. Denn es habe sich um ein Angebot an Mitarbeiter gehandelt, die das Land aus verschiedenen Gründen nicht verlassen wollten: „Wir sagten den Kollegen, dass wir auch in der Zukunft dort sein würden, aber wir wollten ihnen eine Sicherheit geben, falls sie in eine gefährliche Situation kämen. Wir wollten signalisieren, wir hätten sie vor Ort, weil sie unsere besten Assets sind.“ Zu keinem Zeitpunkt habe es im Vorstand den Gedanken gegeben, dass diejenigen, die das Angebot annehmen, vom Ortskräfteverfahren ausgeschlossen werden würden.
GIZ-Rückzug war zunächst nicht vorgesehen
Nach Tanja Gönner hat der 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan auch Thorsten Schäfer-Gümbel, als Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), befragt. Er erläuterte, aus welchen Gründen und auf welche Weise die GIZ vorhatte, nach dem Abzug der Truppen weiter in Afghanistan zu bleiben, und warum sie nicht mit dem Fall Kabuls gerechnet hatte. Der Ausschuss untersucht den Zeitraum zwischen der Unterzeichnung des Doha-Abkommens zwischen der USA und den Taliban zum Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan in Februar 2020 und dem Fall Kabuls in August 2021.
Laut Schäfer-Gümbel arbeitet die GIZ in vielen Ländern, „in denen die Militärs entweder noch nicht oder nicht mehr da sind“ und habe darin eine „enorme Erfahrung“. Daher habe auch in Afghanistan ein Rückzug der GIZ nicht zur Debatte gestanden. Der Zeuge räumte jedoch ein, dass man die Lage damals falsch analysiert habe. „Wir haben eher mit einem Bürgerkrieg gerechnet als mit der kompletten Übernahme der Macht“, sagte er. Man habe ein Szenario für wahrscheinlich gehalten, in dem die Macht zwischen den Taliban und der gewählten Regierung geteilt worden wäre.
Es habe Überlegungen gegeben, was passiert wäre, „wenn wir eine längere Phase operativ handlungsunfähig sind.“ Teil der Überlegung sei dann auch gewesen, unter welchen Rahmenbedingungen die nationalen Mitarbeiter das Land nicht verlassen würden. So sei die Idee entstanden, die Ortskräfte finanziell in die Lage zu versetzen, mit solch einer Phase umzugehen. Dass dieses finanzielle Angebot in der Öffentlichkeit „Bleibeprämie“ genannt wurde, sei ein Punkt, der ihn emotional aufwühle, so Schäfer-Gümbel.
Fall Kabuls: Der „absolute Krisenfall“
Als dann am 15. August 2021 die Hauptstadt Kabul in die Hände der Taliban fiel, sei die GIZ für eine Evakuierung der Ortskräfte nicht vorbereitet gewesen. Eine Evakuierung der Ortskräfte sei damals gesetzlich nicht vorgesehen gewesen. Das offizielle Ortskräfteverfahren (OKV) schreibe vor, dass jeder Mitarbeiter, der eine Gefahrenanzeige stelle, den Nachweis erbringen muss, dass die Bedrohung unmittelbar mit der Arbeit zu tun hat, die er für deutsche Organisationen erbracht hat, sagte Schäfer-Gümbel. Andererseits seien sich er und der damalige Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Martin Jäger darin einig gewesen, dass das OKV im „absoluten Krisenfall“ keine Lösung sei. Dies zu ändern, sei eine politische Entscheidung gewesen, welche die GiZ nicht habe treffen könne, betonte Schäfer-Gümbel. „Wenn das Bundesunternehmen GiZ sich nicht an gesetzlichen Vorgaben hält, wer sonst?“, fragte er.
Der „absolute Krisenfall“ sei mit dem Fall Kabuls eingetreten, sagte der frühere SPD-Politiker. Daraufhin sei am 15. August zunächst fernmündlich die Entscheidung gekommen, von der individuellen Prüfung der Ortskräfte zu pauschalen Listenverfahren zu übergehen. Diese sei zwei Tage später auch schriftlich vom Bundesinnenministerium bestätigt worden. Danach sei die GIZ ihrer Fürsorgepflicht nachgekommen, indem sie 1.358 Mitarbeiter und ihre Familien evakuiert habe. Insgesamt seien es bislang mehr als 30.000 Menschen gewesen. Er könne Kritik der Ortskräfte nachvollziehen, führte Schäfer-Gümbel aus, aber die GIZ hätte sich an die Regeln gehalten.
BMZ: Kein Gespräch mit dem Taliban
Zu später Stunde hat der Ausschuss am Donnerstagabend auch eine damalige Unterabteilungsleiterin im BMZ vernommen, die neben anderen Länder auch für Afghanistan verantwortlich war. Auch sie bestätigte, dass das BMZ in vielen Krisenländern unterwegs sei und dass die Organisation genau das auszeichne. „Wir wollen mit der Bevölkerung zusammenarbeiten und sie nicht allein lassen“, sagte sie. Im Untersuchungszeitraum habe es die Überlegung gegeben, mit den Taliban direkt Gespräche zu führen. Vorschlag des Auswärtigen Amtes (AA) sei gewesen, dass das BMZ den Taliban vermittle, was Entwicklungszusammenarbeit bedeute. Laut der Zeugin sei das zwar mit Risiken verbunden gewesen, aber nicht ins Gespräch zu kommen, sei auch keine Lösung gewesen. Ein Gespräch sei letztlich aber nie zustande gekommen.
Mit dem Hinweis darauf, dass man bis zum Sommer 2021 höchstens 70 Gefahrenanzeigen erhalten habe und keine Tötungen aufgrund einer unmittelbaren Beschäftigung im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit bekannt geworden seien, erklärte die Zeugin, dass es objektiv gesehen damals zunächst keine latente Gefährdung der Ortskräfte in Afghanistan gegeben habe. Dennoch hätte man dafür gesorgt, dass die Mitarbeiter ihre Pässe hatten und eine Liste der am meisten gefährdeten Ortskräfte erstellt wurde, um sie im schlimmsten Fall als erstes außer Landes zu bringen. Die Zeugin lobte außerdem die Arbeit der Bundeswehrsoldaten während der Evakuierung. Nach einem Telefonat hätten diese unter Lebensgefahr das Flughafen-Gelände verlassen, um dort ankommende Menschen reinzuholen.
Die Entscheidung der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), den Kreis der Aufnahmeberechtigten auch auf die Ortskräfte des BMZ auszuweiten, habe das Ministerium in Schwierigkeit gebracht, erinnerte sich die Zeugin. Denn dadurch sei die Zahl der zusageberechtigten Ortskräfte von ungefähr 1.600 auf eine fünfstellige Anzahl gestiegen.
Untersuchungsauftrag
Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.
Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ziehen sind. (crs/26.04.2024)