1. Untersuchungsausschuss

Zeugin beschreibt Einschätzung des BND vor dem Fall von Kabul

Flüchtlinge besteigen im August 2021 auf dem Flughafen von Kabul US-amerikanische Militärmaschinen.

Der Afghanistan-Untersuchungsausschuss setzt seine Zeugenvernehmungen fort. (© picture alliance / zumapress.com | U.S. Air Force)

Zeit: Donnerstag, 4. Juli 2024, 12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal 4.900

Der 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) hat sich am Donnerstag, 4. Juli 2024, hauptsächlich mit der Rolle des Bundesnachrichtendienstes (BND) in der letzten Phase des Afghanistan-Engagements Deutschlands befasst. Zunächst wurde die ehemalige Vizepräsidentin des BND Tania Freiin von Uslar-Gleichen befragt. 

Die Zeugin war zu einer der Schlüsselfiguren der gesamten Untersuchung geworden, weil bei den bisherigen Zeugenbefragungen der Eindruck entstanden war, dass sie bei der Krisenstabsitzung zwei Tage vor dem Fall Kabuls in die Hände der Taliban, eine Evakuierung der deutschen Botschaft, der Ortskräfte und der Schutzbedürftigen durch den von ihr vorgetragenen Lagebericht verzögert hatte.

Geschwindigkeit der Taliban-Machtübernahme nicht erkannt

Von Uslar-Gleichen wies diese Vorwürfe in ihrer Aussage entschieden zurück und versuchte, das Geschehene aus ihrer Perspektive zu erklären. Demnach habe der BND über Jahre belastbare Lageeinschätzungen geliefert. “Wir haben es nicht für übermorgen vorgesehen, aber perspektivisch beschrieben, dass ein Emirat entstehen würde„, sagte sie. Im Rückblick werde jedoch deutlich, dass der BND die Geschwindigkeit der Machtübernahme der Taliban nicht habe erkennen können.

Andererseits müsse man bedenken, unterstrich die Juristin, dass in dem BND-Lagebericht am 13. August 2021 zwar eine Einnahme der afghanischen Hauptstadt innerhalb von 30 Tagen für nicht wahrscheinlich gehalten worden war damit jedoch ausschließlich eine militärische Eroberung gemeint gewesen sei. “Ich vertraute den Mitarbeitern des BND, dass sie die besten und korrektesten Schlüsse ziehen„, sagte sie, “Sie haben aber nicht vorhergesehen, dass Kabul kampflos übergeben werden würde.„

“Kipppunkte„ traten innerhalb von 36 Stunden ein

Sie hätten am 12. August schriftlich fünf Kipppunkte formuliert, führte von Uslar-Gleichen aus, und darauf hingewiesen, dass deren Eintreten die Lage ändern und den Zeithorizont verkürzen würde. “Wir haben nicht gedacht, dass alle Kipppunkte innerhalb von 36 Stunden eintreten würden„, gab sie zu. Im Mittelpunkt des Lageberichtes der besagten Krisenstabsitzung am 13. August hätten die militärische Fähigkeit und die Absichten der Taliban gestanden. 

Sie hätten der Runde berichtet, dass Distrikte in der Fläche fallen und die Taliban der Hauptstadt Kabul immer näherkommen würden. Aber die Taliban hätten kein Interesse gehabt, die Stadt mit einem Häuserkampf zu erobern, da sie die Unterstützung der Bevölkerung hätten gewinnen wollen, meinte die Zeugin. Außerdem hätten auch die US-Partner eine Einnahme vor dem 11. September 2021 ausgeschlossen.

Widerspruch von Jan van Thiel

An die Sitzung am 13. August könne sie sich sehr gut erinnern, sagte die ehemalige Vizepräsidentin des BND, weil der deutsche Gesandte in Kabul, Jan van Thiel, dem BND sehr stark widersprochen habe. Er habe gesagt, er sehe das ganz anders, weil er ganz andere Erkenntnisse aus seinen Kontakten mit den US- und britischen Vertretern vor Ort habe. 

Er habe dem BND zwar pauschal widersprochen und keine konkreten Angaben gemacht, sei dabei aber sehr überzeugt gewesen. Das habe bei ihr ein “Aha-Moment„ ausgelöst. Daraufhin habe sie sich schon am selben Nachmittag an ihre Mitarbeiter gewandt und gebeten, die Lage zu prüfen. Sie hätten nach einem Bericht aus der Botschaft gesucht, aber keinen gefunden: “Hätten wir gewusst, dass keine abstrakten, sondern konkrete Kipppunkte eingetreten gewesen sind, hätten wir die Lage anders bewertet.„

Jan van Thiel nicht kontaktiert

Auf die Frage eines Abgeordneten, ob sie oder ihre Mitarbeiter versucht hätten, Jan van Thiel direkt zu kontaktieren, antwortete sie: “Ich habe ihn nicht angerufen. Vielleicht hätte ich ihn anrufen sollen. Es ist eine gute Frage, warum ich ihn nicht angerufen habe.„

Der Bericht der damaligen deutschen Botschafterin in den USA, Emily Haber, vom 9. August 2021 sei hingegen für den BND sehr relevant gewesen, führte von Uslar-Gleichen aus. Die Analyse der Kipppunkte sei zwar das Ergebnis einer langen Arbeit gewesen, aber die vielen Szenarien, die in diesem Bericht beschrieben worden seien, hätten bei ihnen Aktivität ausgelöst und in der “klaren Formulierung der Kipppunkte ihren Niederschlag gefunden„. Diese seien dann am 12. August auf Bitte des Bundeskanzleramtes schriftlich niederlegt worden.

 

BND-Präsident Kahl: Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit

Im weiteren Verlauf der Sitzung hat der 1. Untersuchungsausschuss am Donnerstagabend den Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes (BND), Dr. Bruno Kahl, angehört. Kahl verteidigte die in die Kritik geratene Berichterstattung seines Dienstes in den Wochen vor dem Fall Kabuls. Er bezeichnete die Kritik am BND als “eine himmelschreiende Ungerechtigkeit„. Er habe sich nicht dagegen wehren können, weil das Bundeskanzleramt ihn angewiesen habe, sich “nicht an dem Schwarze-Peter-Spiel zu beteiligen.„

Der BND habe jahrzehntelange in Afghanistan dazu beigetragen, Menschenleben zu retten. Auch die Wiederherstellung des Emirats 2.0. durch die Taliban hätten seine Mitarbeiter frühzeitig, richtig und präzise beschrieben. Kahl räumte lediglich ein, dass der BND “in den letzten Zentimetern„ die Geschwindigkeit der Entwicklungen nicht vorausgesehen habe.

Dabei hätten die Mitarbeiter die Beschleunigung der Ereignisse in ihre Berichte aufgenommen. Die entscheidende Frage sei gewesen, was das für Kabul bedeute, sagte Kahl und fügte hinzu: “Hier ging der BND wie alle anderen Nachrichtendienste davon aus, dass die afghanischen Sicherheitskräfte länger durchhalten würden. Das war eine Fehleinschätzung.„

BND definierte fünf Kipppunkte 

Um den Fall vorhersagen zu können, habe der BND fünf Kipppunkte definiert und diese vor dem Fall Kabuls auch schriftlich in seinem Lagebericht festgehalten. Demnach waren diese Kipppunkte die nahezu vollständige Isolation Kabuls, die Einnahme von Provinzzentren im Großraum Kabul, Absetzbewegungen der afghanischen Führung, der Abzug der US-Truppen aus der “Grünen Zone„ und der Botschaft sowie die Evakuierung weiterer westlicher Botschaften. 

Mehrere dieser Kipppunkte seien nur Stunden nach der entscheidenden Krisenstabssitzung am 13. August 2021, bei der sie präsentiert worden waren, eingetreten also nur zwei Tage vor dem Fall Kabuls in die Hände der Taliban. Zu diesem Zeitpunkt habe es keine Hinweise darauf gegeben, dass ein Kipppunkt noch vor dem 15. August 2021 eintreten würde.

“Ich habe aber von einer Fehleinschätzung gesprochen„, erklärte Kahl. Denn im Nachhinein habe man “jeden Stein umgedreht„, um herauszufinden, welche Hinweise sie gehabt hätten. Es habe aber keinen Hinweis gegeben, der die Fehleinschätzung der Geschwindigkeit hätte korrigieren können. Im Gegenteil, selbst die Taliban seien überrascht gewesen, Kabul “auf einem Silbertablett geschenkt bekommen„ zu haben. 

Dass die Amerikaner ihre Botschaft über Nacht geräumt und die “Green Zone“ unbewacht gelassen hätten, darauf habe es keinen Hinweis geben können, ließ der BND-Präsident die Abgeordneten wissen. Denn sonst, so Kahl, wäre der Abzug der US-Truppen gefährdet gewesen und ein „Run auf den Flughafen“ hätte eingesetzt. Das hätte zu noch größerem Chaos geführt.

Abzug der Bundeswehr

Bruno Kahl ergänzte, dass mit dem Abzug der Bundeswehr auch die „Sensoren“ teilweise verloren gegangen seien, wenngleich die Aufklärung in Kabul intakt geblieben sei. Allerdings sei der Informationsfluss in der letzten Woche dünner geworden. Erst nach dem 15. August habe er von dem Phänomen erfahren, dass es unmittelbar vor der Evakuierung der Botschaften eine „Informationsdelle“ gegeben habe, wobei dann eine Intensivierung der Kommunikation der Diplomaten eingesetzte.

Zu den Vorwürfen, der damalige deutsche Gesandte Jan van Thiel habe vor dem Fall Kabuls gewarnt, sagte Kahl, ihm sei nicht bekannt, dass van Thiel eine Quelle haben nennen können, die ihn zu seiner Lageeinschätzung gebracht habe. Die Einschätzungen anderer flössen in die Analysen des BND ein. „Aber“, so Kahl, „der BND würde seine Arbeit nicht machen, wenn er mit gespaltener Zunge auftreten würde“. Bruno Kahl versicherte dem Ausschuss, dass seine Behörde die Aufklärung weiter unterstützen werde, da der BND ein großes Interesse an der Aufklärung habe.

Befragung zur Schließung der Botschaft

Anschließend begann der Ausschuss mit der Befragung von Petra Sigmund, Leiterin des Referats Asien und Pazifik im Auswärtigen Amt (AA). Sigmund sagte zum Lagebericht des BND, der am 13. August im Krisenstab vorgestellt worden war, das seien alte Informationen gewesen. Sie habe die Lage aufgrund der Berichte etwa ganz anders gesehen, die Berichte von van Thiel gelesen und mit den Partnern telefoniert: „Alles, was wir gehört haben, hat eine andere Sprache gesprochen.“ 

Man habe die Warnungen des deutschen Gesandten sehr ernst genommen. Die Krisenstabssitzung sei einberufen worden, weil „wir in eine ganz andere Phase übergegangen sind“. Die BND-Informationen schienen nicht richtig zu sein und hätten danach keine Rolle mehr gespielt.

Aus ihrer Sicht ist am Samstagmorgen, dem 14. August 2021, klar gewesen, dass der damalige Außenminister Heiko Maas die Schließung der Botschaft beschließen müsse, was er auch getan habe. Sie räumte ein, dass es innerhalb des AA „Divergenzen der Einschätzung“ gegeben habe. Letztlich hätten aber die Stimmen vor Ort mehr Gewicht gehabt. Der Ausschuss beendete seine Arbeit um Mitternacht und beschloss, die Befragung von Petra Sigmund nach der Sommerpause fortzusetzen.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/08.07.2024)

Marginalspalte