Müller lobt Abstimmung in Afghanistan-Politik – Maas räumt Fehler ein
Zeit:
Donnerstag, 28. November 2024,
9.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal (4.900)
Der ehemalige Entwicklungsminister Dr. Gerd Müller (CSU) hat am Donnerstag, 28. November 2024, vor dem 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan die aus seiner Sicht positive Zusammenarbeit der einzelnen Ressorts in der Afghanistanpolitik betont. Der Ausschuss untersucht die Ereignisse zwischen der Unterzeichnung des Doha-Abkommens im Februar 2020, mit dem die USA und die Taliban den Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan regelten, und der militärischen Evakuierung vom Flughafen Kabul Mitte August 2021.
„Deutsche Entwicklungszusammenarbeit Nummer 1“
Müller, der heute in Wien Generaldirektor einer UN-Institution ist, berichtete dem Ausschuss über die seiner Meinung nach „hervorragende Zusammenarbeit“ zwischen seinem Ministerium, dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), und anderen Ressorts einerseits sowie den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Afghanistan andererseits. Er sei nur einmal im Jahr 2019 nach Afghanistan gereist und habe später beschlossen, davon abzusehen, weil Reisen außerhalb Kabuls nicht möglich gewesen seien.
Der ehemalige Bundesminister unterstrich, das Afghanistan-Mandat der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) sei „im Gesamtumfang Nummer 1“ gewesen. Erfolge der EZ in Afghanistan seien bemerkenswert und bleibend.
„Sehr schwierige Sicherheitslage vor Ort“
Die Sicherheitslage vor Ort sei sehr schwierig gewesen, aber er habe mit Staatssekretär Jäger einen Mitarbeiter mit sehr guten Ortskenntnissen gehabt. Martin Jäger, der ein Jahr lang als Botschafter in Kabul tätig war, habe als ehemaliger Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes offiziellen und inoffiziellen Zugang gehabt.
Das Doha-Abkommen sei eine „absolute Überraschung“ gewesen, führte Müller aus. Obwohl es zunächst nur Auswirkungen auf den militärischen Einsatz gehabt habe, habe man sofort für die Entwicklungszusammenarbeit entschieden, sich auf zwei Szenarien einzustellen: „Schneller Abzug oder ein Verbleiben der EZ im Land.“
Nach dem Doha-Abkommen sei nicht sofort erkennbar gewesen, wie die Lage eskalieren würde, und die Zahl der Gefahrenanzeigen afghanischer Ortskräfte sei bis zum Fall Kabuls nicht hoch gewesen. „Die Meinung in der Community“ sei gewesen, dass die EZ im Land bleiben solle. Als die Taliban immer größere Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht hätten, habe die EZ ihre Arbeit in diesen Regionen beendet.
„Keine Toten und keine ernsthaften Bedrohungen“
Bei der Einschätzung der Sicherheitslage habe man sich auf die Lageeinschätzung des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Auswärtigen Amtes stützen müssen, jedoch „Zugang zu allen Informationen“ gehabt, so Gerd Müller. Dazu habe er im ständigen Dialog mit Jäger gestanden, aber auch mit den NGOs zusammengearbeitet, um zu erfahren, wie diese die Sicherheitslage einschätzten.
„Wenn jemand sagte, ich will raus, oblag es der Lageeinschätzung vor Ort“, sagte der Ex-Minister in Bezug auf die Ortskräfte. Die Maßgabe sei gewesen, „keine Gefahr für die Mitarbeiter“ zuzulassen, und das Ergebnis sei befriedigend gewesen: „Es gab keine Toten und keine ernsthaften Bedrohungen.“
„Es wurden richtige Entscheidungen getroffen“
Später sei auch sehr schnell eine Taskforce mit zehn Personen gegründet worden, die mit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) vernetzt war. „Wir hatten uns auf verschiedene Szenarien vorbereitet“, gab Müller zu Protokoll, „es hätte auch der ,worst case' eintreten können, dass Ortskräfte verschleppt und getötet werden.“
Kurz bevor die Taliban Kabul einnahmen, sei er im Urlaub gewesen, berichtete Müller. Es habe „keinen täglichen Lageaustausch“ gegeben, aber einen „gut organisierten Austausch“, erläuterte er weiter. Wichtig sei gewesen, „dass es in einer Urlaubsphase eine klare Verantwortlichkeit in den Ministerien“ gegeben habe, und das sei der Fall gewesen.
Man werde als Minister auch im Urlaub in Entscheidungen eingebunden. Alle Entscheidungsabläufe seien professionell gewesen. Es sei wichtig gewesen, dass richtige Entscheidungen getroffen wurden – und diese seien getroffen worden. „Wenn es notwendig gewesen wäre, wäre ich ins Ministerium gegangen“, sagte Müller.
„Hervorragende Zusammenarbeit der Ministerien“
Nach der Machtübernahme der Taliban habe die Gefahrenlage neu bewertet werden müssen. Das BMZ habe dafür operationalisierbare Szenarien gehabt, führte Müller aus, konnte aber keine Auskunft darüber geben, wie diese Szenarien konkret aussahen. „Wenn es ein Szenario gibt, gehe ich davon aus, dass in der entsprechenden Abteilung auch die Dokumente dazu existieren“, sagte er.
Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ministerien in Berlin bezeichnete Gerd Müller wiederholt als „hervorragend“. Auch auf Staatssekretärs-Ebene sei es „sehr professionell“ gelaufen. Die Abstimmung zwischen den Häusern sei andauernd und reibungslos gewesen: „Wir haben immer alle am gleichen Strang gezogen.“
Die Grundentscheidungen in seinem Ministerium habe er im Austausch mit den Fachreferaten selbst getroffen, berichtete Müller. Staatssekretär Jäger sei sowohl bei operativen als auch bei grundsätzlichen Entscheidungen stets beteiligt gewesen und habe seine volle Rückendeckung gehabt. Die Entscheidungen über die Gefahrenanzeigen der Ortskräfte, so betonte der CSU-Politiker, seien jedoch Entscheidungen über Einzelfälle gewesen. Dazu sei ein ordnungsgemäßes Verfahren eingesetzt worden. „Es hat nicht der Minister entschieden, ob Herr oder Frau XY aufgenommen wird“, sagte er.
Maas: Mangelnder Kooperationswillen der USA
Im weiteren Verlauf der Sitzung befragte der Ausschuss den ehemaligen Außenminister Heiko Maas (SPD) und den ehemaligen Staatssekretär im Bundeskanzleramt Johannes Geismann. Maas kritisierte die mangelhafte Kooperation seitens der USA, gab aber auch seine eigenen Fehler zu. Geismann verteidigte den BND und berichtete, wie der deutsche Geheimdienst die Politik sehr früh und richtig informiert habe.
Maas hob während seiner Befragung vor allem mangelnden Kooperationswillen der USA angesichts des Zusammenbruchs der afghanischen Regierung hervor. Die Trump-Administration habe während der Verhandlungen in Doha der afghanischen Regierung „den Stuhl vor die Tür“ gestellt. Das Weiße Haus habe in dieser Zeit unberechenbar gehandelt und die westlichen Verbündeten oftmals vor vollendete Tatsachen gestellt.
Nach dem Machtwechsel in Washington sei viel besser kommuniziert worden, aber laut Maas blieben dennoch die Probleme. Die Nato-Partner hätten in dieser Zeit von den USA „eine enge Koordination“ gefordert. Am Ende hätten sich beide Administrationen nicht darauf eingelassen, so Maas.
„Entscheidend war die Flucht des afghanischen Präsidenten“
Dennoch habe man in der Nato die Hoffnung gehabt, dass der Abzug sehr ordentlich stattfinden würde und man „das Land nicht mit komplett leeren Händen verlässt“, führte der Ex-Minister aus. Dass am Ende nichts am Abkommen geändert wurde, habe ihn doch überrascht. Denn nach Gesprächen hätte man den Eindruck gewonnen, dass „nicht alles in den Müll geschmissen, aber einiges geändert wird“.
Auf die Frage, warum die Bundesregierung glaubte, dass die innerafghanischen Friedensverhandlungen noch Erfolg haben könnten und die Taliban sich nach dem für sie vorteilhaften Doha-Abkommen auf eine Machtbeteiligung einlassen sollten, erklärte der frühere Bundesaußenminister, es habe „eine Vielzahl von Möglichkeiten gegeben“ wie beispielsweise Vereinbarungen über Finanzhilfen. Diese seien aber von den Amerikanern nicht genutzt worden. Für den Zusammenbruch sei letztendlich die Flucht des afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani entscheidend gewesen.
„Niemand hat die späteren Entwicklungen kommen sehen“
Maas berichtete, dass er bei seiner Reise in die Region im April 2021 die Gelegenheit hatte, nicht nur Ghani und seinen Gegenspieler Abdullah Abdullah zu treffen, sondern auch US-Generäle und pakistanische Militärs, die Einfluss auf die Taliban hatten. Niemand habe damals die späteren Entwicklungen kommen sehen. In Kabul habe er nicht den Eindruck bekommen, alles würde schnell zugrunde gehen, so Maas.
Die Einschätzung des BND am 13. August 2021 sei falsch gewesen, führte Maas aus in Bezug auf die Aussage des BND bei der Krisenstabssitzung, wonach keine unmittelbare Machtübernahme der Taliban bevorgestanden hätte. Ein Tag später seien die Entscheidungen getroffen worden, die zur Evakuierung der Botschaft geführt hätten.
Später sei ihm zur Kenntnis gebracht worden, dass es unterschiedliche Einschätzungen gegeben habe, wie jene des deutschen Gesandten vor Ort, Jan Hendrik van Thiel. Es sei aber schwieriger gewesen, sich auf eine Einzelperson zu verlassen als auf das Lagebild des BND. Dieser sei nicht die einzige Institution gewesen, die die Lage fehlerhaft analysiert habe, und auch kein unerheblicher Akteur.
„Rückblickend war meine Entscheidung falsch“
„Schaut man von heute auf die Situation zurück, war meine Entscheidung rückblickend falsch“, fügte der Ex-Minister hinzu, „viel früher hätte man die Entscheidung treffen und die Situation am Kabuler Flughafen verhindern müssen.“
In seiner verbleibenden Amtszeit sei keine Zeit gewesen, die Vergangenheit zu analysieren, weil man damit beschäftigt gewesen sei, Menschen aus dem Land zu bringen. Er habe aus den Ereignissen gelernt, dass man generell klären müsse, welche Auslandseinsätze man machen wolle und welche nicht, sagte Maas. Der Afghanistan-Einsatz sei seiner heutigen Einschätzung nach richtig gewesen in Bezug auf die Terrorbekämpfung. Aber der Versuch, neue, demokratische Strukturen zu schaffen, sei gescheitert.
Geismann lobt Berichte des BND
Im Anschluss an Heiko Maas wurde der ehemalige Staatssekretär im Bundeskanzleramt Johannes Geismann befragt, der unter anderem für die Qualitätskontrolle der Berichte des BND zuständig war. Er berichtete, dass der Nachrichtendienst die Bundesregierung und das Auswärtige Amt über die Entwicklungen in Afghanistan regelmäßig unterrichtet habe. Die Berichte hätten hohe Qualität gehabt, und der Dienst habe sehr gute Kenntnisse über das Land gehabt.
In den Jahren 2020 und 2021 habe der BND zweimal Szenarioanalysen vorgelegt und sehr früh und „relativ deutlich“ darauf hingewiesen, dass das wahrscheinlichste Szenario eine vollständige Machtübernahme der Taliban sei. Dabei habe der BND immer auf sogenannte Triggerpunkte hingewiesen. „Wenn diese eintreten würden, würde es sehr schnell gehen“, sagte Geismann und fügte hinzu: „Dass aber die Triggerpunkte alle am damaligen Samstag eingetreten sind, hat sogar die Taliban überrascht.“
Auftrag des Untersuchungsausschusses
Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.
Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/02.12.2024)