Abgabe einer Regierungserklärung durch Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) am 8. Mai 1970
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen sind 25 Jahre vergangen, seit der totale Krieg des nazistischen Reiches in der totalen Niederlage endete. Nach fast 6 Kriegsjahren schwiegen in Europa endlich die Waffen. Der von Hitler begonnene Krieg forderte das Opfer von Millionen Menschen, von Kindern, Frauen und Männern, von Gefangenen und von Soldaten vieler Nationen. Wir gedenken ihrer aller in Ehrfurcht. Das Leid, das ihr Sterben mit sich brachte, und die Leiden, die der Krieg zur Folge hatte, mahnen uns, die Lehren der Vergangenheit nicht zu vergessen und in der Sicherung des Friedens das oberste Ziel unseres politischen Handelns zu sehen.
Die Verpflichtung zum Frieden wird uns in diesen Tagen besonders bewußt. Mit den anderen Völkern teilen wir die Sorge darüber, daß die kriegerische Auseinandersetzung in Südostasien und die Krise im Nahen Osten sich verschärft und ausgeweitet haben. Die Bundesregierung hofft, daß die Bemühungen um eine friedliche Lösung dieser leidvollen und gefahrvollen Konflikte bald erfolgreich sein mögen.
(Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)
Wir Deutschen sind dankbar dafür, daß wir seit 1945 von der Geißel des Krieges verschont geblieben sind. Damals vollzog sich mit der bedingungslosen Kapitulation nicht nur der Zusammenbruch des Reiches;
(Abg. Dr. Barzel: Deutschland ist nicht untergegangen!)
die Existenz des Volkes selbst war in Frage gestellt. Das Land war militärisch besetzt. Eine unübersehbare Zahl unserer Landsleute war ohne Haus und ohne Heimat. Die Familien waren zerstreut, die Städte zerstört. Hoffnungslosigkeit drohte den Lebensmut zu ersticken. Vielen erschien es zweifelhaft, ob ein Wiederaufbau gelingen würde. Die Hauptlast in jener schweren Zeit trugen die Frauen, die Mütter. Sie hatten schon die Ängste der Bombennächte zu überstehen gehabt; harte Arbeit und der Kampf mit dem Hunger waren ihnen auferlegt. Hinzu kam die Sorge um die Männer, die Söhne, die Familie. Es ist angemessen, heute des Anteils der Frauen an dem Schicksal des ganzen Volkes besonders zu gedenken.
Die Kirchen und andere Institutionen haben unserem Volk ihr Wort zu diesem Tag gesagt. Wenn die Bundesregierung heute mit einer besonderen Erklärung vor den Deutschen Bundestag tritt, so ist es der Sinn dieser Stunde, zu erkennen, was war. Ein Volk muß bereit sein, nüchtern auf seine Geschichte zu blicken; denn nur wer sich daran erinnert, was gewesen ist, erkennt auch, was heute ist, und vermag zu überschauen, was morgen sein kann. Dies gilt besonders für die jüngere Generation. Sie war nicht beteiligt an dem, was damals zu Ende ging. Die heute Zwanzigjährigen waren noch nicht geboren. Die Dreißigjährigen waren noch Kinder. Und selbst die Vierzigjährigen hatten keinen Anteil an dem, was 1933 über uns kam. Dennoch ist niemand frei von der Geschichte, die er geerbt hat.
Dies wird jedem deutlich, der – wie ich selbst vor wenigen Wochen — vor dem Mahnmal eines der ehemaligen Konzentrationslager steht. Auch dies gilt es zu sehen! Was in jenen Tagen vor 25 Jahren von unzähligen Deutschen neben der persönlichen als nationale Not empfunden wurde, war für andere Völker die Befreiung von Fremdherrschaft, von Terror und Angst. Auch für die Mehrheit des deutschen Volkes erwuchs die Chance zum Neubeginn, zur Schaffung rechtsstaatlicher und demokratischer Verhältnisse. Für jeden der damals Lebenden war das Jahr 1945 ein tiefer Einschnitt. Es war auch ein tiefer Einschnitt in der Geschichte unseres Volkes. Die europäische Landkarte wurde entscheidend verändert. Weite Gebiete Deutschlands wurden anderen Staaten zugeschlagen. Die markanteste der Besatzungslinien jener Zeit bestimmt noch heute die Grenzlinie, die Deutschland teilt.
Im aktuellen politischen Geschehen haben wir uns immer noch mit der politischen Wirklichkeit auseinanderzusetzen, die durch die Niederlage des Hitler-Reiches entstanden ist. So ist es nicht nur für uns und nicht nur in diesem Teil der Welt. Der zweite Weltkrieg ging zuerst in Europa und erst dann in Asien zu Ende. Auch andere Länder wurden in seiner Folge geteilt. Blutige Konflikte schlossen sich an. Zum anderen haben die ersten Atombomben, die 1945 den Krieg gegen Japan beendeten, das nukleare Zeitalter eröffnet — mit seinen Dimensionen des Schreckens, aber auch jenen des Fortschritts. 1945 wurde die Organisation der Vereinten Nationen gegründet. Sie leitete, bei allen Unzulänglichkeiten eine Epoche internationaler Zusammenarbeit von bisher ungekannter Intensität ein. Die Bildung zahlreicher neuer Staaten nach der Beendigung des Zeitalters des Kolonialismus hat dazu entscheidend beigetragen. Diese internationale Zusammenarbeit muß ausgeweitet werden, damit die internationalen Spannungen abgebaut werden können. Deshalb bemühen sich die Regierungen des Westens darum, in Europa die friedliche Kooperation mit den Staaten des Ostens zu verstärken. Dies geschieht in dem Bewußtsein, daß friedliche, aktive Koexistenz 'am besten gefördert wird, wenn die Völker zusammen ,an die Lösung von Problemen herangehen, die ihnen gemeinsam sind. Die Bundesrepublik Deutschland nimmt an diesen Bemühungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten voll Anteil. Sie ist zu einem geachteten und vielfach auch begehrten Partner der Völkergemeinschaft geworden. Dies kann uns mit Genugtuung erfüllen. Aber wir dürfen darüber doch nicht vergessen, daß die Narben, die der Krieg hinterlassen hat, noch nicht überall verheilt sind, daß das Mißtrauen uns gegenüber noch nicht verschwunden ist, sondern bei manchem, auch geringfügigem Anlaß wieder sichtbar wird. Auch dies ist eine der Realitäten, mit denen die deutsche Politik fertig werden muß. Wir können dies nur, wenn wir sie ständig auf den Frieden ausrichten.
In der Regierungserklärung vom 28. Oktober vergangenen Jahres hatte ich angekündigt, wir würden die Initiative unseres Bundespräsidenten aufgreifen und die Friedensforschung koordinieren. Inzwischen wurden die Voraussetzungen geschaffen, um zur Gründung einer „Deutschen Gesellschaft zur Förderung der Friedens- und Konfliktforschung“ einzuladen. Nichtstaatliche und staatliche Stellen wollen bei Wahrung der wissenschaftlichen Unabhängigkeit hierbei eng zusammenarbeiten. Es gibt schwierige Vaterländer„, hat Bundespräsident Heinemann bei seinem Amtsantritt gesagt, und er fügte hinzu, eines davon sei Deutschland. Selten war Deutschland ein schwierigeres Vaterland als im Jahre 1945. Damals war dieses Bewußtsein allgemeiner, als es heute ist. Seitdem ist der Begriff des Vaterlandes vielen jüngeren Menschen schon fremd geworden. Aber gleich, ob wir von Vaterland, von Heimat oder von der Nation sprechen: das Bewußtsein, daß es Deutschland gibt und daß die Deutschen sich als ein Volk verstehen, dieses Bewußtsein ist nicht erloschen.
Dieses deutsche Volk hat sich 1945 verbissen und fleißig an die Arbeit gemacht — in beiden Teilen Deutschlands. Die sichtbaren Trümmer des Krieges wurden geräumt. Die Städte und Dörfer wurden wiederaufgebaut. Neue Arbeitsplätze wurden geschaffen. Industrie und Handel wurden zu einer in der Welt bewunderten Blüte gebracht. In den Bereichen der Wissenschaften, der Kunst, der Kultur wurde die Isolierung überwunden und Wesentliches neu geschaffen. All das wäre nicht möglich gewesen ohne die Mitarbeit der Vertriebenen und Flüchtlinge. Mit Mut und Zähigkeit haben sie ihr hartes Schicksal bewältigt. Sie wurden Bürger unserer gemeinsamen neuen Heimat und ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Diese Eingliederung kann wohl als größte Leistung der deutschen Nachkriegsgeschichte angesehen werden. Damit ist zugleich — was immer hier und außerhalb 'unserer Grenzen 'behauptet werden mag — eine wesentliche Vorkehrung gegen die Gefährdung des Friedens, für die Wahrung von Freiheit und Recht geschaffen worden.
Der Wiederaufbau Deutschlands war das Ergebnis der Arbeit von Menschen aus allen Schichten unseres Volkes. Nur wer sich daran erinnert, wie es 1945 aussah, kann den Abstand ermessen, der zwischen heute und damals liegt. Er wird auch die Sorgen und Probleme, mit denen wir zu ringen haben, richtig einschätzen. Er wird Geduld üben, wo es auf der Hand liegt, daß Lösungen nicht von heute auf morgen zu erreichen sind. Er wird aber ungeduldig sein, wo es darum geht, Menschen zu helfen, deren Schicksal mittelbar oder unmittelbar immer noch von den Folgen des Krieges bestimmt wird. Dabei denken wir an die Schwerversehrten, an die Kriegerwitwen und ihre Kinder, an Flüchtlinge und Vertriebene, die noch nicht wirklich seßhaft werden konnten. Wir denken auch an Deutsche, die nach Deutschland kommen wollen, aber bisher keine Ausreisegenehmigung erhalten. Und wir erinnern uns auch daran, daß Schuld sehr unterschiedlich gemessen werden kann, so daß es noch immer Häftlinge gibt, die sich in fremdem Gewahrsam befinden.
Wenn vom Wiederaufbau die Rede ist, wollen wir die Arbeit nicht vergessen, die im anderen Teil Deutschlands geleistet worden ist. Unsere Landsleute in der DDR haben unter größeren Schwierigkeiten, als wir sie hatten, und unter gesellschaftspolitischen Bedingungen, die sie sich nicht ausgesucht haben, Erfolge erzielt, auf die sie stolz sind und die wir voll anerkennen müssen. Nicht zuletzt auf der Achtung vor dieser Leistung sollten sich gleichberechtigte Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland gründen lassen. Wir in der Bundesrepublik Deutschland konnten uns in den Jahren nach 1945 eine neue demokratische Ordnung geben. Sie bedarf gewiß noch ständiger Reformen, Verbesserungen und Ergänzungen. Insgesamt aber ist sie die freiheitlichste Verfassung, sowohl den Bestimmungen als auch der Praxis nach, die es in der deutschen Geschichte je gegeben hat. Die Kraft unserer neuen Demokratie hat es ermöglicht, daß — anders als nach dem ersten Weltkrieg — alle Parteien in diesem Hohen Hause fest auf dem Boden der Verfassung stehen. Die letzten Bundestagswahlen haben unsere Fähigkeit bestätigt, mit den Mitteln der Aufklärung und der Überzeugung Feinde der Demokratie zurückzuweisen.
Das Bewußtsein der gemeinsamen Erfahrung und der gemeinsamen Treue zum Grundgesetz sollte es uns auch ermöglichen, bei unseren politischen Auseinandersetzungen jene Grenze zu erkennen und zu beachten, jenseits derer sich Gefahren für die Demokratie selbst ergeben. Die Weimarer Republik ist ja auch daran zugrunde gegangen, daß politische Parteien diese Grenze nicht eingehalten haben. Das darf sich ebensowenig wiederholen wie ein Rückfall in nationalistische Verirrungen. Der Frieden nach außen und der Frieden im Innern gehören zusammen. Beides ist nichts anderes als ein geregeltes Miteinander. Das innenpolitische System unserer Bundesrepublik kennt keine schweigende Mehrheit und keine ins Gewicht fallende antidemokratische Minderheit. Es wird getragen von der Zustimmung der Bevölkerung, die von Wahl zu Wahl ihr Vertrauen in die demokratischen Parteien bekundet. Diese demokratische Ordnung garantiert unsere Freiheit.
Ich appelliere heute von dieser Stelle aus an die jüngere Generation, daran unbeirrt festzuhalten. Alle Jungen sind zwar frei von den schrecklichen Erlebnissen ihrer Eltern, aber auch ohne die teils bedrückenden, teils verpflichtenden Erfahrungen, die wir daraus ableiten konnten. Es wäre gefährlich für die Demokratie in Deutschland, wenn eine größere Zahl jüngerer Menschen die schmerzlichen Erfahrungen der Geschichte in den Wind schlagen und ihr Heil im Radikalismus suchen würde. Ein solcher Radikalismus könnte auch die teils schon vollzogene, teils mögliche Aussöhnung mit unseren Nachbarn in Frage stellen. Es entsprach der weltpolitischen Lage, wie sie nach dem Ende des zweiten Weltkrieges entstanden war, daß uns eine Verständigung zuerst mit den westlichen Völkern gelang. Diese Politik wurde von Bundeskanzler Adenauer, unter unserem ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, wesentlich geformt. Dies war eine historische Leistung, die das Fundament unseres politischen Wirkens und die Garantie unserer Sicherheit bleibt.
Die Teilung der Welt in zwei große Machtblöcke hat aber zugleich Europa gespalten, unser Land und seine alte 'Hauptstadt in zwei Teile zerrissen und unsere Verständigung mit den Völkern im Osten verzögert. Diese Verständigung und Aussöhnung ist, wie wir wissen, besonders schwierig. Aber sie ist im Interesse des Friedens ebenso notwendig wie die mit dem Westen. In dieser Hinsicht müssen wir scheinbar da beginnen, wo wir 1945 oder 1949 gegenüber dem Westen standen. Wir schreiben jedoch nicht mehr das Jahr 1945, sondern das Jahr 1970. In den vergangenen 25 Jahren haben sich Tatsachen ergeben, die wir nicht einfach rückgängig machen können. Von ihnen müssen wir ausgehen, wenn wir weiterkommen wollen. Es gibt bittere und schmerzhafte Realitäten wie die Grenzlinie, die Deutschland teilt, und die der Grenze an Oder und Neiße. Es gibt aber auch hoffnungsvolle Realitäten wie die der fortdauernden und lebendigen Wirklichkeit einer 'deutschen Nation und die der festen Bindungen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin. Und nicht zuletzt gibt es die unverkennbare und zukunftsträchtige Realität Europa.
Die beiden Weltkriege unseres Jahrhunderts hatten ihren Ursprung in der Rivalität der europäischen Mächte. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich vom Tage ihres Bestehens an zu einer engen europäischen Zusammenarbeit verpflichtet und bekannt. Sie ist der Erklärung des französischen Außenministers Schuman vom 9. Mai 1950, also morgen vor 20 Jahren, gefolgt. Sie wird diese Politik weiterführen und alles tun, damit der Zusammenschluß der europäischen Staaten immer tiefer und nach Möglichkeit auch breiter wird, zunächst durch die Integration im Westen, aber hoffentlich auch durch zunehmende Kooperation zwischen West und Ost, Der begonnene europäische Zusammenschluß ist wohl das zukunftsträchtigste Ergebnis der tragischen Ereignisse des Jahres 1945. Er ist zugleich eine der wichtigsten Voraussetzungen für die europäische Friedensordnung, die das Ziel der Politik aller europäischen Staaten sein muß, im Westen wie im Osten. Ich hoffe, man wird es überall richtig verstehen, wenn ich sage: Erst eine europäische Friedensordnung wird den Schlußstrich der Geschichte ziehen können unter das, was sich für uns Deutsche mit dem Jahr 1945 verbindet.
(Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)