Parlament

Grete Thiele

Schwarz-weiß Porträtfoto von Grete Thiele (KPD), 1913 bis 1993

(© Handbuch des Deutschen Bundestags, hg. Von Fritz Sänger und Bundestagsverwaltung, 1. Wahlperiode 1949/53, 2. Auflage)

Die gelernte Kontoristin wurde unter dem NS-Regime für mehre Jahre inhaftiert. Sie war Mitglied des Landtages von NRW, später des Deutschen Bundestages. Wegen des Verbots der KPD und aus Furcht vor der bundesdeutschen Justiz ging sie zeitweise in die DDR. Nach dem Beschluss einer Amnestie im Jahr 1968 kehrte sie nach Wuppertal zurück.

Während ihrer dreieinhalbjährigen Zuchthausstrafe, zu der die Nationalsozialisten sie wegen einer Flugblattaktion verurteilt hatten, sei sie Kommunistin geworden, erzählt Grete Thiele 1969 in einem Interview. Ebenso nachdrücklich sagt sie später, als ein ereignisreiches Leben als Politikerin hinter ihr liegt, in dem sie unter anderem Stadträtin, Landtagsabgeordnete und Mitglied des ersten Deutschen Bundestages war: „Ich habe mich nie als Politikerin bezeichnet (…) ich hatte doch einen Beruf: Kontoristin.“ 

Margaretha (Grete) Rettig wurde 1913 nur wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in der heranwachsenden Bergbaustadt Bottrop geboren. Der Vater war Bergmann, die Mutter Hausfrau. Nur zwei ihrer sechs Kinder blieben am Leben: Grete und ihr jüngerer Bruder Heinrich. Das politische Engagement des Vaters als Gewerkschafter, Betriebsrat und Mitglied der SPD prägte sie. Nach dem tödlichen Arbeitsunfall ihres Vaters zog die Mutter mit den beiden heranwachsenden Kindern zurück in ihre Heimatstadt Wuppertal. Hier beendete Grete Rettig die Handelsschule und trat ihre erste Stelle als Kontoristin an. Sie wurde Mitglied der SPD und Vorsitzende der dortigen Sozialistischen Arbeiterjugend; 1933 schloss sie sich der Sozialistischen Arbeiterpartei an. Im Dezember 1933 wurde sie das erste Mal von der Gestapo verhaftet. Als sie nach einigen Tagen wieder freigelassen wurde, stellte ihre Firma sie erst auf ihren Protest hin wieder ein. 1936 wurde sie nach einem missglückten Kurierdienst ihres Bruders erneut verhaftet und zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, da man sie für die Urheberin der Aktion hielt. Eine der Mitinhaftierten war die Kommunistin Hanna Melzer, deren Haltung sie nachhaltig beeindruckte. Viele dieser Frauen wurden später in Konzentrationslager deportiert, doch Grete Rettig wurde 1939 freigelassen und fand eine neue Arbeitsstelle. 1941 heiratete sie, 1956 wurde das Paar geschieden. „Es waren persönliche Dinge“, sagte sie später selbst dazu. In dem kleinen Ort, in den sie gemeinsam mit ihrer Mutter evakuiert wurde, erleidet sie 1945 inmitten von Bombenangriffen eine Totgeburt. 

Margaretha Thiele, wie sie nun heißt, kehrt nach Wuppertal zurück und engagiert sich in der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Bald darauf gehört sie der ersten ernannten sowie ab 1948 der gewählten Wuppertaler Stadtverordnetenversammlung an. Als sie 1947 Mitglied des ersten gewählten Landtages von Nordrhein-Westfalen wird, trifft sie dort Hanna Melzer wieder. Sie gibt ihre Berufstätigkeit als Kontoristin auf und ist von nun an ausschließlich als Politikerin aktiv. Während der Beteiligung der KPD an der CDU-geführten Allparteien-Regierung wird auf Initiative von Grete Thiele zur Entlastung berufstätiger Frauen ein freier bezahlter Hausarbeitstag eingeführt; ein großer Erfolg für die junge Abgeordnete.

1949 wird Grete Thiele wie fünf weitere ehemalige Mitglieder ihrer Landtagsfraktion in den ersten Deutschen Bundestag gewählt, mit 35 Jahren ist sie die jüngste weibliche Abgeordnete. Gerade hat sie ihren Sohn zur Welt gebracht und nur dank ihrer Mutter kann sie Beruf und Familie vereinbaren. 

Um die schwierigen Lebensbedingungen erwerbstätiger Mütter im Nachkriegsdeutschland zu verbessern, ermahnt sie das vorwiegend männlich besetzte Plenum im Dezember 1949, die Gleichberechtigung mit dem Rechtsanspruch auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu verbinden: „Von allen Forderungen, die die Frauen im Sinne der Gleichberechtigung erheben, ist dies eine der wichtigsten Forderungen. Denn heute stehen Hunderttausende von Frauen im Arbeitsprozess, haben eine Familie zu versorgen und arbeiten unter Bedingungen, die wesentlich schlechter sind als die der Männer.“

Zitat: Ich habe mich nie als Politikerin bezeichnet […] ich hatte doch einen Beruf: Kontoristin.

(© DBT)

Noch bevor die Bundesregierung im November 1951 beim Bundesverfassungsgericht das Verbot der KPD beantragt, sind kommunistische Bundestagsabgeordnete von polizeilichen Durchsuchungen und strafrechtlicher Verfolgung nach Aufhebung ihrer Immunität betroffen. Grete Thiele ist vorerst geschützt, da der Bundestag es ablehnt, ihre Immunität aufzuheben. Der Ton in den Bundestagsdebatten wird schärfer – auf allen Seiten. In der zweitägigen Debatte über einen deutschen Verteidigungsbeitrag im Februar 1952 versucht Grete Thiele zunächst – wie die fast gleichaltrige CDU-Abgeordnete Brauksiepe – potentielle Wählerinnen anzusprechen: „In dieser Debatte, wo es um das Schicksal unseres Volkes geht, wo über Leben und Zukunft unserer Jugend verhandelt wird, spreche ich zu Ihnen als Frau über die Angst und die Sorge der Frauen und Mütter.“ Häufig verzeichnet das Protokoll „große Unruhe“, auch ihr Ton wird schärfer, und sie erhält einen Ordnungsruf wegen beleidigender Äußerungen. Die Aufstände am 17. Juni 1953 in der DDR führen am Ende der ersten Wahlperiode zur Isolation der KPD. Die aufgeregte Stimmung bricht sich Bahn, als Grete Thiele am selben Tag den Antrag ihrer Gruppe zur Reduzierung des Wahlalters auf 18 Jahre vorstellt. Die zahlreichen und emotionalen Zwischenrufe und auch ihre eigene Rede drehen sich nur noch um die Ereignisse in der DDR, bis ihr der Präsident das Rederecht entzieht.

Die KPD kommt bei der Bundestagswahl 1953 nicht über die neue Fünfprozenthürde, und die ehemaligen Abgeordneten verlieren ihre Immunität; es kommt zu zahlreichen Ermittlungsverfahren, auch gegen Grete Thiele. 1956 erklärt das Bundesverfassungsgericht die KPD für verfassungswidrig. Wie viele prominente Mitglieder der verbotenen KPD verbringen sie und ihr Sohn die nächsten Jahre vorwiegend in der DDR. In Interviews, die sie später westdeutschen Autorinnen gibt, äußert sie sich nicht zu diesem Lebensabschnitt. Mit dem 8. Strafrechtsänderungsgesetz vom 29. Mai 1968 werden die Voraussetzungen für die Neugründung einer kommunistischen Partei geschaffen. Als am 28. Juni der Bundestag einstimmig eine Amnestie für alle bis dahin begangenen politischen Straftaten, die kommunistischen Urhebern zur Last gelegt wurden, beschließt, kann Grete Thiele wieder nach Wuppertal zurückkehren. Die Wiederzulassung der KPD kann sie in ihren Gesprächen mit Bundesjustizminister Gustav Heinemann nicht erreichen; doch sie wird die 1968 gegründete „Deutsche Kommunistische Partei“ (DKP) bis zu ihrem Lebensende vor allem publizistisch unterstützen. 

Sie stirbt am 29. Dezember 1993 in ihrem Heimatort Wuppertal.

(he)

Der Text ist entnommen aus dem Buch „Der nächste Redner ist eine Dame“, herausgegeben vom Deutschen Bundestag, erschienen im Ch. Links Verlag, 2024.

Zum Weiterlesen:

Birgitta Schuh: Grete Thiele. In: Irmgard Birn und Hans Zinnkamm, Frauen im Landtag, Düsseldorf 1992, S. 58-63.

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