Parlament

Jeanette Wolff

Schwarz-weiß Porträtfoto von Jeanette Wolff (SPD), 1888 bis 1976

(© Handbuch des Deutschen Bundestags, hg. Von Fritz Sänger und Bundestagsverwaltung, 1. Wahlperiode 1949/53, 2. Auflage)

Jeanette Wolff überlebte den Holocaust. Im KZ und auf Todesmärschen verlor sie fast ihre gesamte Familie. Unmittelbar nach Kriegsende engagierte sie sich wieder politisch und setzte sich im Parlament als eine der ersten für Entschädigungszahlungen an NS-Opfer ein. Wolff gehörte dem Deutschen Bundestag bis 1961 an.

Als Jeannette Wolff 1952 mit 64 Jahren in den Bundestag einzieht, bringt sie als Holocaust-Überlebende, praktizierende Jüdin und verfolgte Sozialdemokratin Erfahrungen ins Parlament ein, die ihre Arbeit in den kommenden drei Legislaturperioden zutiefst prägen werden: „Ich bin Jüdin und habe meine ganze Familie, meine Kinder, meinen Mann, die Schwiegersöhne und die Enkelkinder verloren“, sagt sie zu Beginn einer ihrer ersten Reden im Plenum, bei der es um die unmenschlichen Haftbedingungen in den Jugend-Strafanstalten und -Lagern der sowjetischen Besatzungszone geht. „Aber ich möchte hier an dieser Stelle sagen: es geht nicht an, dass diese Methoden weiterbestehen.“ 

Bereits mit siebzehn Jahren hatte sich die Zweitälteste von dreizehn Kindern (manche Quellen sprechen auch von 16 Geschwistern) aus dem niederrheinischen Bocholt dem Verband der sozialistischen Jugend angeschlossen. Auch ihr Vater Isaac war bekennender Sozialdemokrat und wurde deshalb Ende des 19. Jahrhunderts vom Lehrerberuf ausgeschlossen. Gemeinsam mit seiner Frau Dina betrieb er in einem Arbeiterviertel Bocholts einen Textilwarenladen. Er brachte seiner aufgeweckten Tochter noch vor dem Schuleintritt das Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Die soziale Not war jedoch groß. Neun ihrer Geschwister starben noch im Säuglings- und Kindesalter. 

Da es ihrer Familie nicht möglich ist, ihr ein Studium zu finanzieren, senden sie sie zu Verwandten nach Brüssel, wo sie den Beruf der Kindergärtnerin erlernt. Mit zwanzig wird Jeanette Wolff zum ersten Mal Mutter. Ihr Kind stirbt jedoch mit nur zehn Monaten. Nur zwei Wochen später verliert sie auch ihren Mann, den niederländischen Gemüsehändler Philip(p) Fuldauer, der an Tuberkulose erkrankt war. Das Trauma des Verlusts ihrer ersten Familie thematisiert sie später nie. 

1910 heiratet sie den Kaufmann Hermann Wolff und bekommt mit ihm drei Töchter. Die Gründung ihrer zweiten Familie hindert sie nicht daran, ihr politisches Engagement fortzusetzen. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 wird ihr Mann zum Kriegsdienst eingezogen. Jeanette Wolff leitet nun den Betrieb, kümmert sich um die Kinder und engagiert sich für soziale Belange. Im Jahr 1919 bekommen Frauen erstmals das aktive und passive Wahlrecht zur Reichstagswahl. Im gleichen Jahr wird Jeanette Wolff in die Bocholter Stadtverordnetenversammlung gewählt. 

Jeanette Wolff erkennt früh, dass von den Nationalsozialisten eine tödliche Gefahr ausgeht. Sie scheut keine Auseinandersetzung und wird als stadtbekannte Sozialdemokratin bedroht: „Dich kriegen wir als erste.“ Tatsächlich verhaftet man sie bereits wenige Tage nach den Reichstagswahlen am 5. März 1933. Auch ihr Mann Hermann und die älteste Tochter Juliane werden in Haft genommen. Von nun an erlebt die fünfköpfige Familie zwölf Jahre lang Verfolgung, Misshandlung, Erniedrigung und Tod. 

Zitat: Vergiftete Seelen können nur mit dem Gegengift restloser Aufklärung entgiftet werden. …Soll all das vergossene Blut der Millionen Menschen im Krieg, soll all das Leid der Besten unseres Volkes, die in den Konzentrationslagern erschlagen, gehängt, gefoltert, erschossen, vergast und verbrannt worden sind, umsonst gewesen sein? Nein, und abermals nein! Ein Deutschland der wahren Demokratie, der Freiheit und des Friedens soll erwachen.

(© DBT)

Einzig Jeanette Wolff und ihre mittlere Tochter Edith überleben den Holocaust. Als die beiden im Januar 1946 krank und von den jahrelangen Qualen in den Konzentrationslagern, als Zwangsarbeiterinnen und auf Todesmärschen körperlich und seelisch geschwächt nach Berlin zurückkehren, schreibt Jeanette Wolff auf 64 Seiten ihren Leidens- und Überlebensbericht, der teils unvorstellbare Grausamkeiten enthält. Doch wie so oft in ihrem Leben ist Aufgeben für sie keine Option. Im Gegenteil. „Vergiftete Seelen können nur mit dem Gegengift restloser Aufklärung entgiftet werden“, schreibt sie. „Soll all das vergossene Blut der Millionen Menschen im Krieg, soll all das Leid der Besten unseres Volkes, die in den Konzentrationslagern erschlagen, gehängt, gefoltert, erschossen, vergast und verbrannt worden sind, umsonst gewesen sein? Nein, und abermals nein! Ein Deutschland der wahren Demokratie, der Freiheit und des Friedens soll erwachen.“

In den nächsten dreißig Jahren verfolgt sie unbeirrt dieses Ziel. Sie wird Vorstandsmitglied der neuen SPD, Stadtverordnete in Berlin und lässt sich 1952 in den ersten Deutschen Bundestag entsenden. Dort engagiert sie sich besonders für die Belange der Holocaust-Überlebenden und kämpft für ein bundesweites Entschädigungsgesetz, das 1953 beschlossen wird. Unermüdlich kümmert sie sich als Mitglied im Petitionsausschuss um jeden einzelnen Fall. Die Entschädigungszahlungen für NS-Opfer sind in der jungen Bundesrepublik hoch umstritten und beschäftigen den Bundestag über Jahre. Immer wieder ergreift Jeanette Wolff hierzu im Plenum das Wort. Im Juni 1955 fordert sie bei den Haushaltsberatungen eine Erhöhung der Zahlungen und rechnet vor, dass zehn Jahre nach dem Ende des Krieges die Witwenpensionen hoher Wehrmachtsangehöriger etwa fünf Mal höher sind als die durchschnittlichen Zahlungen für die Witwen der Opfer: „Meine sehr verehrten Herren und Damen, ich habe nicht aus irgendwelchen Ressentiments über diese Dinge gesprochen; denn obwohl ich selber Betroffene aus der Nazizeit bin, gehöre ich zu denjenigen, die in der Lage sind, sich wirtschaftlich sehr gut durchzuhelfen. Ich spreche für jene, denen es nicht wie mir vom Schicksal gegeben war, noch einmal wieder eingreifen zu können in den Beruf oder in die Geschicke des Staates oder auf dem Gebiet der Politik oder auf irgendeinem anderen Gebiet, wo es mir möglich war, mir eine anständige Existenz zu schaffen. Ich spreche für jene Kreise, die noch heute Not leiden. Ich spreche für jene Kreise, die heute am Rande des Grabes stehen. Ich spreche für jene Witwen, deren Haare in jugendlichem Alter ergraut sind, da sie mitlitten unter der Verachtung, als Frauen der Opfer des Nationalsozialismus zu gelten. Sie sind heute noch in einer Notlage, und sie sind diejenigen, derer wir uns anzunehmen haben.“

Das Eintreten für die Opfer sowie Versöhnung und Verständigung werden zu ihrem Lebensthema. 1949 gründet sie unter anderem mit Annedore Leber und Siegmund Weltlinger die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Bis zu ihrem Tod bleibt sie aktives Mitglied in der Jüdischen Gemeinde. Sie stirbt am 19. Mai 1976 im Jüdischen Krankenhaus in Berlin. Zu ihrem ersten Todestag erinnert der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski, in einer Gedenkstunde an „eine der größten jüdischen Frauengestalten dieses Jahrhunderts“ und nennt sie die „Personifizierung des ewigen Dennoch, das die jüdische Geschichte wie ein roter Faden durchzieht“. 

(nw)

Der Text ist entnommen aus dem Buch „Der nächste Redner ist eine Dame“, herausgegeben vom Deutschen Bundestag, erschienen im Ch. Links Verlag, 2024.

Zum Weiterlesen:

Jeanette Wolff: Sadismus oder Wahnsinn. Erlebnisse in den deutschen Konzentrationslagern im Osten. Dresden 1947.

Birgit Seemann: Jeanette Wolff. Politikerin und engagierte Demokratin. Frankfurt/Main 2000.

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