Gesetzentwurf zur Änderung von Artikel 93 und 94 des Grundgesetzes (Bundesverfassungsgericht)
Gesetzentwurf der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP sowie des Abgeordneten Stefan Seidler: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 93 und 94) (Drucksachen 20/12977 und 20/14302 Buchstabe a)
Der Bundestag hat am Donnerstag, 19. Dezember 2024, für die Festschreibung wesentlicher Strukturmerkmale des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz gestimmt. Diese Festschreibung sieht ein Gesetzentwurf (20/12977) vor, der von den Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP sowie dem fraktionslosen Abgeordneten Stefan Seidler (Südschleswigscher Wählerverband) eingebracht worden ist und den der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit angenommen hat. In namentlicher Abstimmung votierten 600 Abgeordnete für die Grundgesetzänderung, 69 Parlamentarier haben dagegen gestimmt. Für die Zweidrittelmehrheit waren mindestens 489 Stimmen der Abgeordneten des Bundestages erforderlich.
Gesetzentwurf zur Änderung von Artikel 93 und 94 des Grundgesetzes (Bundesverfassungsgericht)
Zudem wurde für den Fall einer Blockade bei der Richterwahl ein Ersatzwahlmechanismus eingeführt. Ein dazu von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP sowie Stefan Seidler (Südschleswigscher Wählerverband) eingebrachter Gesetzentwurf (20/12978) wurde mit der Mehrheit von SPD, Union, Grünen, FDP und der Gruppe Die Linke gegen die Stimmen der AfD angenommen. Ein von der AfD-Fraktion zu dem Gesetzentwurf vorgelegter Änderungsantrag (20/14306) wurde gegen das Votum der Antragsteller mit der Mehrheit der übrigen Fraktionen und der Gruppe Die Linke bei Enthaltung der Gruppe BSW abgelehnt. Zu beiden Gesetzentwürfen hat der Rechtsausschuss eine Beschlussempfehlung (20/14302) abgegeben. Am 18. Dezember hatte der Ausschuss beide Gesetzentwürfe mehrheitlich ohne Änderungen gebilligt.
Angenommen wurde im Anschluss an die Debatte die von den vier Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vorgelegte Novellierung des Abgeordnetengesetzes, wobei es vor allem um die Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen geht (20/11944). Die Vorlage wurde mit der Mehrheit der Antragsteller gegen die Stimmen der AfD und die Gruppe BSW bei Enthaltung der Gruppe Die Linke beschlossen. Dazu lag eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (20/13714) vor. Die ursprünglich geplante Abstimmung über einen Gesetzentwurf der AfD-Fraktion zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (Gesetz zur Einführung der Begründungspflicht, 20/2763) wurde hingegen von der Tagesordnung abgesetzt.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) wies darauf hin, dass mit der Schaffung des Bundesverfassungsgerichts vor 75 Jahren den Erfahrungen mit der Weimarer Republik und ihrem Scheitern Rechnung getragen worden sei. Das Gericht sei heute „als Hüter der Verfassung fest etabliert“ und genieße weltweites Ansehen.
Allerdings zeigten Erfahrungen in anderen Ländern, dass Verfassungsgerichte „oft erste Ziele“ seien, wenn „Autokraten ans Ruder kommen“. Faeser begrüßte daher das Vorhaben der Fraktionen, bisher einfachgesetzliche Regelungen „in der Verfassung abzusichern“. Bundesjustizminister Dr. Volker Wissing ergänzte: „Das Gericht zu sabotieren, wird künftig deutlich schwieriger werden.“
Union lobt Ersatzwahlmechanismus
Die einfachgesetzliche Regelung, nach der Richter mit Zweidrittelmehrheit ins Bundesverfassungsgericht gewählt werden, wird wegen Bedenken der CDU/CSU-Fraktion nicht ins Grundgesetz übernommen. Andrea Lindholz (CDU/CSU) begründete dies damit, dass sonst eine Minderheit von einem Drittel im Bundestag Richterwahlen blockieren könnte. Sie lobte die stattdessen gefundene Regelung, dass sich im Falle einer solchen Blockade Bundestag und Bundesrat gegenseitig vertreten können.
Den Charakter der Änderungen als Notfallregelung für den Fall des Erstarkens antidemokratischer Kräfte hob Ansgar Heveling (CDU/CSU) hervor. Der „größte Gewinn für unsere Demokratie“ wäre es, erklärte er, „wenn die Regelungen, die wir heute beschließen, überhaupt keine Anwendung finden“.
FDP lobt Gemeinsamkeit trotz Wahlkampf
So wie auch andere Redner hob der FDP-Abgeordnete Dr. Marco Buschmann, bis vor Kurzem Bundesjustizminister, die Erfahrungen insbesondere mit der ehemaligen PiS-Regierung in Polen als Grund für die Neuregelung hervor. Diese habe mit ihren Eingriffen beim dortigen Verfassungsgericht die Botschaft gesendet, „dass die Macht immer stärker sei als das Recht“.
Man habe von den Nachbarn gelernt, wie verletzlich der Rechtsstaat sein könne, stellte Buschmann fest. Er lobte daher die Neuregelung als Zeichen, „dass trotz des aufziehenden Wahlkampfs das Gemeinsame stärker ist als das, was uns trennt“.
Grüne greifen AfD frontal an
Die nach 15 Jahren nicht erneut zum Bundestag kandidierende Katja Keul (Bündnis 90/Die Grünen) erklärte, Demokratie und Rechtsstaat funktionierten nur miteinander. „Ohne Rechtsstaat bliebe von einer Demokratie nur die Diktatur der Mehrheit“, sagte sie.
Ihr Fraktionskollege Dr. Konstantin von Notz griff die AfD-Fraktion als „ernsthafte Bedrohung“ für den Rechtsstaat frontal an. Er prangerte Kontakte zu Rechtsextremisten sowie „chinesischen und russischen Spionen“ an. „Ihre Russlandnähe ist unerträglich“, stellte er fest und bezog auch die Gruppe BSW und ihre Vorsitzende Sahra Wagenknecht in diese Kritik ein.
Gegenangriff der AfD-Fraktion
Die Redner der AfD-Fraktion stellten die Motive der antragstellenden Fraktionen in Frage. Tatsächlich sorgten diese sich, dass sie bei der Verfassungsrichterwahl „genötigt sein könnten, mit der AfD zumindest zu reden“, befand Fabian Jacobi (AfD). Sie sähen das Bundesverfassungsgericht„als Herrschaftsinstrument eines Parteienkartells, das Sie nicht bereit sind aus der Hand zu geben“.
Stephan Brandner (AfD) erhob wegen früherer Wahlen von Parteipolitikern zu Verfassungsrichtern den Gegenvorwurf: „Sie manipulieren doch seit Jahren am Bundesverfassungsgericht herum.“ Mit der Grundgesetzänderung gehe es den Antragstellern allein darum, „neue starke politische Kräfte auszuschalten“.
Teilkritik der Gruppe BSW
Als „Grundpfeiler der Demokratie“, der geschützt werden müsse, bezeichnete Amira Mohamed Ali (Gruppe BSW) das Bundesverfassungsgericht. Sie begrüßte alle vorgesehenen Änderungen „bis auf eine“, nämlich dass im Fall einer fehlenden Zweidrittelmehrheit im Bundestag ersatzweise der Bundesrat eine Richterwahl übernehmen könne. Denn letzterer bestehe fast vollständig aus Ministerpräsidenten von Union und SPD. Die Regelung zeige eine „unfassbare Arroganz der Herrschenden“, empörte sich Mohamed Ali.
Linke: Angriffe auf Grundrechte
Für die Gruppe Die Linke warf Clara Bünger der AfD vor, sie wolle „die Unabhängigkeit der Justiz angreifen“. Allerdings komme der Angriff auf die Grundrechte nicht nur von rechts, sondern auch aus der Mitte. Das Asylrecht sei in den letzten Jahren „fast vollständig demontiert“ worden, die Ungleichheit wachse. „Diese Angriffe schwächen die Demokratie“, befand Bünger.
Erster Gesetzentwurf der Fraktionen
„Aus dem Abstand von mittlerweile etwa 75 Jahren ist es angemessen, die den Status des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan prägenden Elemente im Grundgesetz selbst deutlicher sichtbar werden zu lassen, wie dies bei Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident und Bundesregierung bereits der Fall ist“, heißt es in dem Entwurf zur Änderung des Grundgesetzes. Mit der Einführung eines Ersatzwahlmechanismus ist laut Begründung vorgesehen, die Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts für Situationen sicherzustellen, „in denen die für die Wahl der Richterinnen und Richter erforderliche Zweidrittelmehrheit in Bundestag [...] oder Bundesrat [...] absehbar nicht zustande kommt“.
Im Grundgesetz sollen laut dem ersten Entwurf (20/12977) die Artikel 93 und 94 geändert werden. In Artikel 93 soll künftig der Status als Verfassungsorgan und die Organisation des Bundesverfassungsgerichts verankert werden. Festgeschrieben werden soll unter anderem, dass das Gericht aus zwei Senaten mit jeweils acht Richterinnen und Richtern besteht. Ebenso sollen die Amtszeit von zwölf Jahren, die Altersgrenze der Richterinnen und Richter, das Wiederwahlverbot und die Geschäftsordnungsautonomie des Gerichts in dem Artikel normiert werden.
Ersatzwahlmechanismus für den Fall einer Blockade
Artikel 94 regelt laut Entwurf künftig die Zuständigkeiten des Gerichts, die bisher in Artikel 93 geregelt sind. Zudem soll die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts explizit im Grundgesetz festgeschrieben werden. Die Wahl der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts soll laut Entwurf künftig in Artikel 93 (bisher: Artikel 94) grundgesetzlich geregelt werden. Die Richterinnen und Richter sollen weiterhin je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden.
Neu aufgenommen werden soll ein Ersatzwahlmechanismus, der greifen soll, „wenn innerhalb einer zu bestimmenden Frist nach dem Ende der Amtszeit oder dem vorzeitigen Ausscheiden eines Richters eine Wahl seines Nachfolgers nicht zustande kommt“. Dann soll das Wahlrecht vom jeweils anderen Wahlorgan wahrgenommen werden. Die Details dazu sollen laut Entwurf per Bundesgesetz, also im Bundesverfassungsgerichtsgesetz, geregelt werden.
Zweiter Gesetzentwurf der Fraktionen
Genau das ist das Ziel des zweiten Entwurfs (20/12978). Der Entwurf sieht vor, in Paragraf 7a des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes in einem neuen Absatz 5 zu normieren, dass das jeweils andere Wahlorgan die Wahl übernehmen kann, wenn das eigentlich zuständige Wahlorgan innerhalb von drei Monaten nach Vorlage eines Wahlvorschlags durch das Plenum des Bundesverfassungsgerichts keine neue Richterin beziehungsweise keinen neuen Richter gewählt hat.
Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz sieht aktuell vor, dass das Plenum des Bundesverfassungsgerichts eigene Wahlvorschläge unterbreiten kann, wenn eine Richterwahl nicht innerhalb von zwei Monaten nach Ende der Amtszeit beziehungsweise dem vorzeitigen Ausscheiden eines Richters oder einer Richterin erfolgt ist. Voraussetzung ist zudem die Aufforderung durch das älteste Mitglied des Wahlausschusses des Bundestages beziehungsweise die Spitze des Bundesrates.
Weitere Änderungen im Bundesverfassungsgerichtsgesetz sind dem Entwurf zufolge erforderlich, um die durch den ersten Gesetzentwurf neu geordneten Artikel 93 und 94 des Grundgesetzes in korrekte rechtliche Beziehung zu setzen. Ebenso sei deswegen eine Änderung im Untersuchungsausschussgesetz notwendig.
Novellierung des Abgeordnetengesetzes
Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes (20/11944) sollen in der Praxis aufgetretene Unsicherheiten in Bezug auf die zulässige Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen durch gesetzliche Normierung beseitigt werden. Die Fraktionen wollen klarstellen, dass neben der Unterrichtung der Öffentlichkeit über parlamentarische Vorgänge auch die Vermittlung allgemeiner politischer Standpunkte der Fraktionen und der Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern über die parlamentarisch-politische Arbeit ein „zulässiger Zweck der Öffentlichkeitsarbeit“ ist.
Dabei sollen die Fraktionen frei über Mittel, Ort, Zeit und Häufigkeit der Informationsangebote entscheiden können, ein „Gebot politischer Neutralität“ bestehe dabei nicht.
Effektive Kontrolle der Mittelverwendung
Zugleich müssten vor allem unmittelbar vor Bundestagswahlen besondere Anforderungen an den „parlamentarischen Kontext der Öffentlichkeitsarbeit“ gestellt werden. Vorgesehen ist, dass die „Pflicht zur Rückgewähr zweckwidrig verwendeter Fraktionsmittel“ gesetzlich normiert wird. Neben der Rechnungslegung und Prüfmöglichkeit des Bundesrechnungshofes werde damit ausdrücklich ein „Korrekturinstrument“ festgelegt, falls Geld- und Sachleistungen durch die Fraktionen nicht zweckentsprechend verwendet werden.
Aus Sicht der Fraktionen sichert dies die „effektive Kontrolle der Mittelverwendung“ und stärkt die „Legitimität der Fraktionsfinanzierung“. Mangels gesetzlicher Rechtsgrundlage werde derzeit bei zweckwidriger Verwendung von einer Rückforderung der ausgezahlten Mittel abgesehen.
Mitteilungspflicht bei Interessenverknüpfungen
Ein Abgeordneter, der „entgeltlich mit einem Beratungsgegenstand beschäftigt ist“, zu dem er in einem Ausschuss des Bundestages oder innerhalb einer Fraktion die Berichterstattung übernommen hat, muss künftig vor einer Beratung in einem Ausschuss offenlegen, wenn eine konkrete gegenwärtige oder zukünftige Interessenverknüpfung besteht.
Sonstige an einer Ausschussberatung teilnehmende Mitglieder des Bundestages, für die dies zutrifft, müssen die Interessenverknüpfung ebenfalls offenlegen, wenn sie nicht bereits aus den veröffentlichungspflichtigen Angaben ersichtlich ist. Eine mitgeteilte Interessenverknüpfung soll in der Beschlussempfehlung des Ausschusses vermerkt werden. (hau/scr/vom/19.12.2024)