Parlament

Worte von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor Eintritt in die Tagesordnung zum 50. Jahrestag der Wahl von Annemarie Renger zur Bundestagspräsidentin und zum 50. MdB-Jubiläum von Wolfgang Schäuble

[Stenografischer Dienst]

Präsidentin Bärbel Bas:

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche Ihnen allen einen schönen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße heute Morgen auf der Ehrentribüne auch die frühere Präsidentin der freien Volkskammer der DDR, Frau Dr. Bergmann-Pohl,

(Beifall)

sowie den früheren Bundestagspräsidenten Dr. Wolfgang Thierse.

(Beifall)

Ich begrüße sehr herzlich auch Frau Schäuble und Familie sowie weitere Weggefährten Wolfgang Schäubles auf der Ehrentribüne. Herzlich willkommen!

(Beifall)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der 13. Dezember 1972 ist ein besonderes Datum in unserer Geschichte. An diesem Tag hat der Deutsche Bundestag zum ersten Mal eine Frau zur Präsidentin gewählt. Die Zeitung „Das Parlament“ titelte damals: „Der zweite Mann im Staat - eine Frau!“ Nicht nur im geteilten Deutschland war dies eine Premiere: Annemarie Renger war weltweit die erste Frau an der Spitze eines frei gewählten Parlaments.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wahlbeteiligung lag 1972 bei traumhaften 91,1 Prozent.

(Beifall)

Der Frauenanteil im Parlament allerdings war so niedrig wie nie zuvor und übrigens auch danach. Zu Beginn der 7. Wahlperiode gehörten nur 30 Frauen dem Bundestag an - 5,8 Prozent der Abgeordneten.

(Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unvorstellbar!)

In ihrer Antrittsrede sagte Annemarie Renger:

Die Wahl einer Frau … für dieses Amt hat verständlicherweise einiges Aufsehen erregt. Das Erstmalige und mithin Ungewohnte gerät in die Gefahr, zum Einmaligen und Besonderen erhoben zu werden.

In der Tat dauerte es 12 Jahre, bis mit Rita Süssmuth wiederum eine Frau an der Spitze des Bundestags war. Und nach Rita Süssmuth dauerte es sogar 23 Jahre bis zur dritten Bundestagspräsidentin. 

Heute nehmen Frauen selbstverständlich ihren Platz in Politik und in der Gesellschaft ein. Das verdanken wir auch der parlamentarischen Pionierarbeit von Annemarie Renger.

(Beifall)

Sie ebnete Frauen den Weg in die Politik und in der Politik. Annemarie Renger nutzte ihre Stellung als Bundestagspräsidentin, um, wie sie selbst sagte, „der Sache der Frauen zu dienen“. Sie wusste: Politisches Engagement und Familienleben lassen sich nur vereinbaren, wenn die Rahmenbedingungen passen. Das gilt noch heute, und nicht nur im Parlament. Für Annemarie Renger gehörte dazu, den Frauen der Bundestagsverwaltung die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Die Eröffnung der Bundestagskita im Jahr 1970 geht auch auf ihre Initiative zurück.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Frauenanteil ist mit knapp 35 Prozent auch im aktuellen 20. Bundestag zu niedrig.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

Frauen sind in Führungspositionen unterrepräsentiert. Sie verdienen oft weniger. Sie leisten mehrheitlich die Carearbeit, mit allen Folgen. Der Weg zu echter Gleichstellung ist noch weit. Annemarie Renger kann uns aber mit ihrer Beharrlichkeit Vorbild sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Annemarie Renger wurde 1919 geboren - im Jahr der Einführung des Frauenwahlrechts. Ihr sozialdemokratisches Elternhaus stand in Opposition zum Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kurt Schumacher ihr politischer Mentor und Vertrauter. 37 Jahre gehörte sie dem Deutschen Bundestag ununterbrochen an. Sie war die erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, vier Jahre Bundestagspräsidentin und 14 Jahre Vizepräsidentin.

Ihr half dabei, dass sie „eine gehörige Portion Selbstbewusstsein“ besaß, wie sie sagte.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Ja!)

Als Abgeordnete behielt sie immer ihren eigenen Kopf - nicht immer zur Freude ihrer Fraktion. Den Deutschen Bundestag führte sie souverän mit natürlicher Autorität und mit Charme.

Annemarie Renger hat nicht nur bewiesen, dass Frauen es können - sie prägte die damalige Politik in vielen Fragen: Sie führte Bürgergespräche im ganzen Land, sie trieb die Parlamentsreform voran, sie etablierte den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, sie stärkte das Petitionswesen und intensivierte die Arbeit der Enquete-Kommissionen.

Ihre Herzensangelegenheit war die Aussöhnung mit Polen und Israel; 14 Jahre lang leitete sie die Deutsch-Israelische Parlamentariergruppe. Der glücklichste Augenblick ihres politischen Lebens war für sie aber der 9. November 1989. Als sich die Nachricht vom Fall der Mauer verbreitete, leitete sie gerade als Vizepräsidentin die Beratungen im Bundestag in Bonn.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Annemarie Renger war als Bundestagspräsidentin auch deshalb so erfolgreich, weil sie einen feinen Humor besaß. In ihrer Antrittsrede würdigte sie die jungen Abgeordneten mit folgenden Worten - ich zitiere -:

In unserer Mitte begrüße ich die neuen Mitglieder dieses Hauses, die mit ihrer großen Anzahl jüngerer Abgeordneter zum ersten Mal das Durchschnittsalter des Bundestages unter die 50-Jahres-Grenze gedrückt haben.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Und damit begrüßte Annemarie Renger auch Sie, lieber Herr Kollege Schäuble. Sie waren gerade 30 Jahre alt, ein promovierter Jurist und Finanzbeamter. Wenn ich auf Ihr Lebenswerk blicke, kann ich eines kaum glauben: Nach eigener Auskunft waren Sie eigentlich ein Verlegenheitskandidat der CDU in Ihrem Wahlkreis.

(Heiterkeit - Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das glauben wir nicht!)

Seit einem halben Jahrhundert gehören Sie nun ununterbrochen dem Deutschen Bundestag an. Das ist einmalig in der gesamten Geschichte des deutschen Parlamentarismus. Das ist eine Ära.

(Beifall)

Sie haben sogar August Bebel übertroffen, der „nur“ 44 Jahre Reichstagsabgeordneter war.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Sönke Rix (SPD), an den Abg. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) gewandt: Das nehmen wir Ihnen übel!)

Lieber Herr Schäuble, Ihre Wählerinnen und Wähler haben Sie 14-mal in Folge mit einem Direktmandat betraut und Ihnen damit ihr Vertrauen geschenkt - das wichtigste Kapital in einer parlamentarischen Demokratie. Sie haben die Geschicke unseres Landes in den vergangenen Jahrzehnten wie nur wenige geprägt. Als Kanzleramtsminister haben Sie maßgeblich die deutsch-deutschen Beziehungen gestaltet. Als Innenminister unter Helmut Kohl haben Sie den Einigungsvertrag entworfen und den Wiedervereinigungsprozess entscheidend mitgelenkt. Sie sind zum Architekten der deutschen Einheit geworden.

Als Innenminister unter Angela Merkel haben Sie zum Beispiel die Islam-Konferenz ins Leben gerufen - einen Meilenstein in der Integrationspolitik. Als Finanzminister haben Sie Deutschland und Europa durch die Finanz- und Eurokrise navigiert. Christine Lagarde nannte Sie einmal einen „Felsen“, einen „Giganten“. Als Bundestagspräsident haben Sie beispielsweise die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung etabliert und mit dem Bürgerrat ein neues Instrument zur Belebung unserer Demokratie auf den Weg gebracht.

Für mich sind Sie ganz besonders ein großer Europäer, der sich mit Leidenschaft und aus tiefster Überzeugung für die Einheit Europas einsetzt. Dieses Engagement wurde übrigens auch im Jahr 2012 mit dem Karlspreis gewürdigt. Angela Merkel hat Ihre politischen Verdienste einmal so zusammengefasst: „Wolfgang Schäuble ist ein Glücksfall für die deutsche und europäische Politik.“

Wie Annemarie Renger haben Sie sich immer mit unglaublicher Disziplin und großem Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein in den Dienst unseres Staates gestellt - und mit Freude an der Politik. In einer Festschrift wurden Sie einmal als „fröhlicher Sisyphos“ betitelt. Ich denke, mit dieser Beschreibung können Sie ganz gut leben.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lieber Herr Schäuble, nicht ohne Grund gelten Sie als ein Mann der Exekutive. Ihre Gestaltungskraft und Ihr Gestaltungsdrang sind berühmt. Ich habe jetzt einige Wegmarken Ihres Wirkens erwähnt. Zugleich sind Sie aber bis heute Parlamentarier aus Leidenschaft. Sie kennen den Bundestag aus verschiedenen Perspektiven: als einfacher Abgeordneter, Parlamentarischer Geschäftsführer, Fraktionschef, Oppositionsführer, Alterspräsident und Bundestagspräsident. In jeder dieser Positionen waren Sie ein großer Verfechter des demokratischen Streits im Respekt vor dem Gegenüber.

Als Fraktionsvorsitzender waren Sie ein gefürchteter Debattenredner. Ihr Wort hat Gewicht und Überzeugungskraft. Ihre mitreißende Rede in der Berlin-Bonn-Debatte am 20. Juni 1991 ist dafür ein starkes Beispiel. Ihre Plenarrede war eine der entscheidenden Reden, die am Ende zum Beschluss für Berlin als Parlaments- und Regierungssitz führte und Ihnen ganz nebenbei auch die Ehrenbürgerschaft der Hauptstadt einbrachte.

(Beifall)

„Streit ist das Salz der Demokratie“ - das war immer Ihre Devise. Zum konstruktiven Streit haben Sie uns Abgeordnete als Parlamentspräsident immer ermuntert, auch in herausfordernden Zeiten. Sie haben das Parlament immer angehalten, gegensätzliche Standpunkte auch auszuhalten. Den politischen Streit haben Sie nie als Selbstzweck verstanden, sondern als ein Instrument, um widerstreitende Interessen in Rede und Gegenrede zu artikulieren und bei drängenden Zukunftsfragen auch wirklich voranzukommen. Über den Bundestag haben Sie gesagt - ich zitiere -:

Hier ist der Ort, an dem wir streiten dürfen. An dem wir streiten sollen. Fair und nach Regeln. Leidenschaftlich, aber auch mit der Gelassenheit, die einer erregten Öffentlichkeit Beispiel geben kann.

Lieber Herr Schäuble, auch nach 50 Jahren dienen Sie dem Parlament mit Ihrer unvergleichlichen Erfahrung, mit Ihrer Weitsicht und Ihrem intellektuellen Scharfsinn. Wir sind jetzt gespannt auf Ihre Ausführungen. - Herr Schäuble, Sie haben das Wort.

(Beifall)

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