Predigt von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas für die ökumenische Barbarafeier bei HKM in Duisburg
[Es gilt das gesprochene Wort]
Liebe Barbaragemeinde,
als Predigerin darf ich endlich einmal lange Anreden weglassen.
Die Bibel gibt mir Recht: Vor Gott ist „kein Ansehen der Person“.
In einem Gottesdienst zu sprechen, ist für mich etwas Besonderes.
Sie wissen: Ich bin keine Theologin und konfessionell ungebunden.
Die Barbarafeier ist für mich aber ein wichtiger Brauch bei uns in Duisburg.
Und die heilige Barbara war eine ausgesprochen starke Frau.
Die Barbarafeier ist für mich auch immer ein Ort, an dem man diese Gemeinschaft und diesen Zusammenhalt bei uns im Pott erleben kann.
Das ist gerade in diesen schwierigen Zeiten für uns als Stahlstadt so wichtig.
„Macht hoch Tor 1“ – die traditionelle Losung für die Barbarafeier bei HKM bekommt in diesen Wochen eine besondere Bedeutung.
Sie wissen: Ich stehe fest an der Seite der Beschäftigten, denn „Stahl ist Zukunft“.
Meine Damen und Herren,
„Menschenrecht Freiheit“: das ist die Überschrift für diesen adventlichen Abend hier.
Gewählt mit Blick auf den Tag der Menschenrechte am 10. Dezember.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Vereinten Nationen von 1948.
Trotzdem werden Menschen in vielen Ländern weiterhin unterdrückt, verfolgt oder ausgebeutet.
Millionen Menschen sind gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, weil ihnen die grundlegenden Freiheiten verwehrt werden.
Weil sie vor Krieg oder Armut fliehen müssen.
Oder weil sie wegen ihres Glaubens inhaftiert oder getötet werden.
Andere kämpfen für ihre Freiheit und Selbstbestimmung – wie in der Ukraine.
Das ist die bittere Realität im 21.Jahrhundert.
Was für ein Kontrast zu unserer Lebenswirklichkeit – trotz aller Herausforderungen und auch großer Probleme, vor denen wir stehen!
Freiheit!
Ein kostbares und zerbrechliches Gut.
Ein großes Thema in der Geschichte der Menschheit.
Und ein großes Thema im Leben eines jeden Menschen.
Ob an den großen Wegmarken des Lebens oder im Alltag.
Ob in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Oder in Beruf, Familie, Religion.
Das Thema Freiheit begleitet uns in allen Lebensbereichen.
Tag für Tag.
Bewusst oder unbewusst.
Und – wie könnte es anders sein – Freiheit ist ein großes Thema in der Bibel.
Schon auf den ersten Seiten.
Da erschafft Gott den Menschen nach seinem Bilde und gibt ihm den freien Willen.
Damit verleiht Gott dem Menschen eine unveräußerliche Würde.
Darauf nimmt unser Grundgesetz im Artikel 1 indirekt Bezug:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar,“ heißt es dort.
Ein wunderbarer Satz, der einen absoluten Anspruch formuliert.
Aus der Erfahrung der totalen Verneinung der Menschenwürde im Nationalsozialismus heraus.
Erst der freie Wille macht den Menschen mündig.
Sich zu entscheiden – für das Gute oder für das Böse.
Und fähig, Verantwortung für sein Tun und Lassen zu übernehmen.
Damit der Mensch die Orientierung nicht verliert, haben wir auch einen inneren Kompass für unser Handeln – das freie, unbestechliche Gewissen als letzte Instanz.
Wir alle kennen diese innere Stimme, die auch unangenehm sein kann.
Manchmal leiser, manchmal lauter – und manchmal hart wie „Heavy Metall-Fußball“ – um es mit MSV-Trainer Didi Hirsch zu sagen.
Der Advent ist übrigens eine gute Zeit, intensiver in sich hineinzuhören.
Das sollte aber auch kein Freibrief sein, um im Rest des Jahres diese innere Stimme konsequent zu ignorieren.
Die Gewissensfreiheit ist ein hohes Gut.
Martin Luther hat sich darauf berufen.
Unser Grundgesetz garantiert sie.
Und die Abgeordneten des Bundestages sind in der Ausübung ihres freien Mandats nur ihrem Gewissen unterworfen.
Das kann in der Politik auch einsam machen.
Und manchmal Mut und Standfestigkeit erfordern.
Denn Freiheit gibt es nicht umsonst. Freiheit ist nicht bequem.
Freiheit ist manchmal anstrengend.
Freiheit ist eine ständige Aufgabe, Verantwortung zu übernehmen.
- Im Umgang mit sich selbst.
- Im Umgang mit den Mitmenschen – untereinander und miteinander.
- Im Umgang mit der Gesellschaft.
- Im Umgang mit der Schöpfung, mit der Natur.
Es gibt keine absolute Freiheit.
Aber es gibt eine Freiheit ohne Verantwortung.
Und die kann zerstörerisch sein.
Anarchie, Ausbeutung oder Abhängigkeit sind die Folgen.
Das alles hatte schon der Apostel Paulus vor Augen, als er an die Galater schrieb:
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“
Wir haben es gerade in der Lesung gehört.
Was bedeutet das?
Zur Freiheit befreit?
Haben wir nicht schon den freien Willen?
Paulus weiß: Es genügt nicht, von äußeren Zwängen befreit zu sein.
Von selbst- oder fremdgesetzten Normen, Konventionen oder rituellen Geboten.
Von der „Knechtschaft“, wie der Apostel sagt.
Diese Freiheit von etwas ist nur die Voraussetzung für die Freiheit zu etwas.
Entscheidend ist, wie und wofür wir unsere Freiheit gebrauchen.
Entscheidend ist die innere Freiheit.
Paulus buchstabiert in seinem Brief verschiedene Aspekte der Freiheit durch:
- die Freiheit von Fremdbestimmung und die Freiheit zur Verantwortung füreinander.
- Das Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und Gemeinsinn oder Sicherheitsdenken.
- Den Missbrauch von Freiheit und ihre Grenzen.
Seine Gedanken sind auch heute sehr aktuell.
Meine Damen und Herren,
2000 Jahre später leben wir in einer freiheitlichen Demokratie.
Sie gibt uns den Raum „zur“ Freiheit – wie es Paulus in seinem Brief an die Galater als Auftrag formuliert.
Das Fundament unserer freiheitlichen Demokratie ist das Grundgesetz.
Wir haben in diesem Jahr seinen
75. Geburtstag gefeiert.
Sowie auch den 75. Geburtstag des Deutschen Bundestag.
Das Grundgesetz hat uns die besten Voraussetzungen für ein frei-bestimmtes Leben geschaffen.
Das Grundgesetz hat Deutschland zu einem Sehnsuchtsort gemacht.
Viele Menschen weltweit beneiden uns um unsere Demokratie, unsere Freiheiten und unsere 19 Grundrechte.
Grundrechte wie die Versammlungs-, Presse- oder Meinungsfreiheit spielen in unserem Alltag eine große Rolle – obwohl wir es oft gar nicht merken.
Aber sie sind nicht selbstverständlich!
Das wissen wir aus unserer Geschichte.
Die Menschen in der DDR etwa spürten spätestens im Juni 1953, was die Grundrechte in ihrer Verfassung wirklich wert waren.
„Wir wollen freie Menschen sein,“
riefen die Ost-Berliner Arbeiterinnen und Arbeiter am 17. Juni 1953.
Sowjetische Panzer walzten den Aufstand nieder.
Den Freiheitsdrang der Menschen konnten die Panzer aber nicht brechen. Der Aufstand fand 1989 seine späte Vollendung in der friedlichen Revolution.
Vor wenigen Wochen haben wir den 35. Jahrestag des Mauerfalls gefeiert.
Auch hier ging es um Freiheit.
Freiheit von Unterdrückung, von Diktatur, von Fremdbestimmung.
Hunderttausende Menschen sind dafür auf die Straße gegangen, obwohl sie die Bilder vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking kannten.
Andere stimmten mit den Füßen ab.
Und flohen.
Alle riskierten viel für die Freiheit.
Ja, Freiheit bedeutet auch Mut und Risikobereitschaft.
Die mutigen Frauen und Männer in der DDR haben eine große historische und menschliche Leistung vollbracht, die auch wir hier im Westen nicht hoch genug wertschätzen können.
Es ist ein Glücksfall unserer Geschichte, dass wir seitdem unsere Freiheit gemeinsam gestalten dürfen.
Wir sind alle gemeinsam – in Ost und West – „zur“ freiheitlichen Demokratie befreit und berufen.
Um hier nochmal den Galaterbrief aufzugreifen.
Als freie Menschen und als mündige Bürgerinnen und Bürger.
Meine Damen und Herren,
wir leben heute in einer Zeit des Umbruchs.
In einer Zeit, in der sich Krisen überlagern und gegenseitig verstärken.
Zeitenwende, Umwälzung, Disruption. Begriffe, die uns täglich begleiten.
Das macht es für die freiheitliche Demokratie nicht einfacher.
Die Herausforderungen sind vielschichtig:
- Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten;
- die wirtschaftlichen Turbulenzen und die Angst um den Arbeitsplatz – auch und gerade bei uns in Duisburg;
- der Fachkräftemangel in Wirtschaft und Pflege
- der Klimawandel mit seinen Folgen.
Um nur einige Herausforderungen zu nennen.
Die Menschen sind müde und gereizt.
Sie sorgen sich, einige haben existenzielle Ängste. Verständlicherweise.
Mich persönlich treibt besonders um, dass in unserer Gesellschaft viel Verbindendes verloren zu gehen scheint.
Als Abgeordnete bin ich oft unterwegs in meiner Heimatstadt Duisburg, aber auch als Bundestagspräsidentin im Rest der Republik.
Und ich spüre: Das Vertrauen der Menschen in die Kraft der Demokratie schwindet.
Und dieses Vertrauen ist das wichtigste Kapital der Demokratie.
Die große Mehrheit der Menschen in unserem Land ist von der Demokratie als Staatsform überzeugt.
Das ist wichtig.
Viele sind aber unzufrieden mit der Art und Weise, wie unsere Demokratie heute funktioniert.
Weil sie sich andere Ergebnisse erwarten.
Weil sie vom politischen Personal enttäuscht sind.
Weil der Ton etwa im Bundestag viel aggressiver geworden ist.
Wie übrigens in der ganzen Gesellschaft. Man schaue nur in die so genannten Sozialen Medien.
Paulus gibt in der heutigen Lesung auch hier einen mahnenden Rat:
„Wenn ihr aber einander beißt und fresst, dann gebt Acht, dass ihr nicht einer vom anderen verschlungen werdet!“
Das gilt uns allen.
Als Abgeordnete müssen wir aber besonders selbstkritisch sein.
Die Menschen erwarten zu Recht von uns, dass der Deutsche Bundestag eine konstruktive Debattenkultur vorlebt.
Immer die Erkenntnis im Hinterkopf: „Der Andere kann auch Recht haben.“
Rita Süssmuth hat diesen Satz oft wiederholt.
Ein kluger Satz.
Aber es ist gar nicht so einfach, danach zu handeln.
Die aktuellen Zuspitzungen in den gesellschaftlichen Debatten zeigen mir:
Wir brauchen mehr Offenheit, mehr Toleranz und mehr Respekt für unsere Gegenüber.
Wer Gegenpositionen einfach abtut, macht es sich zu leicht.
Es ist jede Mühe wert, das Gespräch mit unseren Mitmenschen aktiv zu suchen.
Noch mehr zuzuhören.
Und auch nachzufragen.
Mit einer Sprache, die verstanden wird und die nicht ausgrenzt.
Zugleich brauchen wir Grenzen, unverrückbare Grenzen.
Wir müssen zusammenstehen gegen jene, die mit Hass, Lügen und Verachtung die Werte unseres Zusammenlebens untergraben wollen.
Die bevorstehende Bundestagswahl gibt uns allen die Chance, hier klar Position zu beziehen.
Und die Wahlfreiheit verantwortungsvoll zu nutzen.
Meine Damen und Herren,
Bundestagswahlen werden häufig als „Fest der Demokratie“ bezeichnet.
Diesmal müssen wir das Fest vorzeitig ausrichten und Winter-Wahlkampf machen.
Aber auch das gehört zur freiheitlichen Demokratie dazu.
Wichtig ist mir, dass die Menschen ihre Wahlfreiheit auch nutzen.
Deshalb schon jetzt mein Appell an Sie alle hier im Saal und zu Hause:
Gehen Sie wählen!
Liebe Gemeinde,
wie bewahren wir unsere Freiheit in Zeiten von Krisen und Umbrüchen
– als Einzelne und als Gesellschaft?
Klar ist: Die freiheitliche Demokratie gibt es nicht umsonst.
Das wissen die Menschen am besten, die darum kämpfen mussten – und auch heute kämpfen!
Die freiheitliche Demokratie muss sich gegen ihre Feinde verteidigen.
Freiheit und Demokratie müssen gelebt werden, um lebendig zu bleiben.
Es liegt an uns, die Grundlagen unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zu sichern.
Der vielleicht größte Feind der freiheitlichen Grundordnung ist die innere Gleichgültigkeit.
Fragen wir uns also immer wieder ehrlich selbst:
Was bedeutet Freiheit für mich?
Wie nutze ich sie?
Und respektiere ich die Freiheit anderer?
In der Familie wie im Beruf, im gesellschaftlichen Leben wie in der Politik.
Für Paulus ist die Liebe das Maß der Freiheit.
Das ist ein hoher Anspruch.
Wie es um die Nächstenliebe bei uns bestellt ist, muss jede und jeder für sich selbst beantworten.
Ich würde mich schon über mehr Respekt und Toleranz im Umgang miteinander freuen.
Freiheit ist eine Lebensaufgabe.
Sie muss sich im Alltag bei jedem von uns bewähren.
In Verantwortung für sich selbst, füreinander und für die Welt.
Damit sie nicht nur ein Ideal bleibt, sondern gelebte Wirklichkeit.
Dazu sind wir befreit und berufen.
Meine Damen und Herren,
die Arbeitswelt ist ein Bereich, in dem das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Verantwortung besonders stark spürbar ist.
Die Lage bei HKM steht exemplarisch für viele Herausforderungen in der heutigen Arbeitswelt:
Wirtschaftliche Unsicherheit, Globalisierung und die Sorge um den Arbeitsplatz belasten viele Menschen.
Sie, liebe HKM-Beschäftigten, erleben aktuell schwierigen Zeiten.
In Zeiten wie diesen fühlt sich die Freiheit besonders bedroht an.
Die Freiheit, sicher und selbstbestimmt zu leben.
Die Freiheit, mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken.
Auch als Aufsichtsratsrätin von HKM fühle ich mit Ihnen und Ihren Familien.
Klar ist für mich aber auch:
Die Belegschaften von Thyssenkrupp und HKM brauchen jetzt mehr als Mitgefühl.
Sie brauchen konkrete Solidarität und Unterstützung.
Auch von uns als Politik.
Deshalb möchte ich noch einmal betonen: Ich stehe fest an Ihrer und Eurer Seite.
Ich hoffe, dass wir gemeinsam Wege finden, die Krise zu bewältigen.
Denn ich glaube daran:
„Stahl ist Zukunft“.
Und ich sage mit aller Klarheit dazu: Stahl hat nur Zukunft, wenn alle sorgsam mit ihrer Freiheit umgehen und sich als Partner in der Verantwortung für die Zukunft verstehen.
Die Hüttenwerke Krupp Mannesmann stehen für die Kraft der Gemeinschaft und der gegenseitigen Verantwortung. Diese Tradition darf nicht verloren gehen.
Deshalb sage ich:
„Macht hoch Tor 1!“
Damit alle Beschäftigten der HKM
auch in Zukunft eine sichere Existenzgrundlage haben.
Für ihr Leben.
Für ihre Familien.
Für ihre persönliche Freiheit.
Vielen Dank und eine schöne Barbarafeier!