27. Juni 2000: Jacques Chirac spricht vor dem Deutschen Bundestag

Der französische Staatspräsident Jaques Chirac sprach im Sommer 2000 als erster Gastredner im Plenarsaal des neu gestalteten Reichstagsgebäudes. (© DBT/MELDEPRESS/Achim Melde)
Am 27. Juni 2000 hielt der französische Staatspräsident Jacques Chirac als erster amtierender Staatschef eine Rede im Plenarsaal des neu gestalteten Reichstagsgebäudes in Berlin. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse betonte in seiner Begrüßung, das Parlament mache „nur äußerst selten von der Möglichkeit Gebrauch, ein ausländisches Staatsoberhaupt im Plenum zu hören“.
Von Feinden zu Freunden
Nach François Mitterrand im Jahr 1983 war es erst das zweite Mal, dass ein französischer Staatspräsident das Wort an die Abgeordneten des Bundestages richtete. „Die Tatsache, dass Sie das erste Staatsoberhaupt sind, das im Reichstag, der wiedergewonnenen Heimstatt des deutschen Parlaments, sprechen wird, will mir aus doppeltem Grunde angemessen erscheinen: Sie, Herr Präsident, haben sich für die deutsche Vereinigung entschieden und wie selbstverständlich eingesetzt. Dafür unseren herzlichen Dank!“
„Sie sagten es: Ich gehöre zu denjenigen, die immer gehofft hatten, dass Deutschland seine Einheit und seine Hauptstadt wieder erlangen werde, und die seit jeher auf diesen Zeitpunkt gewartet hatten“, sagte Chirac. „Dass ich der erste ausländische Staatschef bin, der hier von diesem Pult aus zu ganz Deutschland sprechen kann, bewegt mich tief! Zu Deutschland, unserem Nachbarn, unserem Feind von gestern und unserem Weggefährten von heute! Zum wiedervereinigten Deutschland! Zu dem Deutschland, das zu sich heim gekehrt ist!“
Historische Aussöhnung
In seiner Rede würdigte der französische Staatspräsident die historische Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland und sprach sich für eine Vertiefung ihrer Freundschaft aus. Mit einem Blick auf die wechselvolle Geschichte beider Länder würdigte er die Staatsmänner, die den Mut zur Versöhnung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aufbrachten. „Welche Kühnheit und welchen Mut mussten sie aufbringen, um unmittelbar nach dem Kriege in der Sprache des Vertrauens und der Zusammenarbeit miteinander zu reden. Ein Wunder ist auch, dass unsere beiden Länder in jeder wichtigen Phase die Männer fanden, die die Annäherung festigten und immer weiter voranbrachten.“
Er betonte, diese Freundschaft müsse weiter vertieft werden und könne sogar „einen neuen Impuls“ erhalten. In diesem Sinne schlug er eine jährliche deutsch-französische Konferenz vor, auf der Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften, Verbänden, Medien und Kultur zusammentreffen sollten, um über die bilateralen Beziehungen zu beraten. Zugleich forderte er die Wirtschaftsverbände beider Länder auf, mit Unterstützung ihrer Regierungen eine gemeinsame Stiftung zu gründen, in der deutsche und französische Unternehmer und Führungskräfte zusammenkommen können.
Deutsch-französisches Kulturinstitut
Als kulturelle Geste regte Chirac die Einrichtung eines deutsch-französischen Kulturinstituts in Berlin an – nach Vorbild ähnlicher Institutionen in Rom und Madrid – damit Künstler beider Nationen in der im Wandel befindlichen Hauptstadt Inspiration und Arbeitsmöglichkeiten finden.
Schließlich versicherte Chirac, dass die deutsche Sprache in Frankreich weiterhin als eine der ersten Fremdsprachen gelehrt werde, und plädierte dafür, den Schüleraustausch zwischen beiden Ländern zu intensivieren.
Rolle in Europa und der Welt
Deutliche Worte fand Chirac auch zur Rolle Deutschlands und Europas in der Weltpolitik. Gleich zu Beginn unterstrich er den französischen Wunsch, dass Deutschland einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erhält – „in Anerkennung seines Engagements, seines Ranges als Großmacht und seines internationalen Einflusses“. Chirac begrüßte ausdrücklich die als historisch bezeichnete Entscheidung Deutschlands, „mit der sie sich erstmals seit über einem halben Jahrhundert bereit erklärten, Soldaten zu einem Auslandseinsatz zu entsenden“.
Mit Blick auf die bevorstehende Ratspräsidentschaft seines Landes in der Europäischen Union im zweiten Halbjahr 2000 präsentierte Chirac seine Vorstellungen für ein starkes und handlungsfähiges Europa. „Bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe wird unser Land Beschlüsse herbeiführen müssen, die für die Zukunft entscheidend sind. Natürlich denke ich hierbei an den wichtigsten von uns zu fassenden Beschluss, das heißt an die unerlässliche Reform unserer gemeinsamen Institutionen, die wir, dessen bin ich gewiss, mit der Unterstützung unserer deutschen Partner durchführen werden.“
Frankreich werde bedeutende Vorhaben voranbringen müssen, sagt Chirac. Dazu gehöre das Projekt der europäischen Verteidigung. „Wir hoffen, dass wir hierbei neue Etappen zurücklegen können, die den beträchtlichen Fortschritten gerecht werden, die innerhalb weniger Monate – insbesondere unter dem deutschen Vorsitz – erzielt werden konnten.“
Für mehr Bürgernähe und Demokratie
Mit Blick auf die anstehenden Aufgaben der EU betonte der französische Präsident, die Union müsse bürgernäher und demokratischer werden. Vielen Europäern erscheine die EU zu abstrakt und weltfern; sie kümmere sich zu wenig um die wirklichen Belange der Menschen, „wie Wachstum, Beschäftigung und Ausbildung, Justiz und Sicherheit, Bekämpfung des illegalen Drogenhandels und der Schlepperkriminalität, Umwelt, Gesundheit und andere Fragen. In allen diesen Bereichen müssen wir im kommenden Halbjahr weiterkommen“, mahnte Chirac.
Der europäische Einigungsprozess sei bisher allzu sehr das Werk von Politikern und Eliten gewesen, kritisierte Chirac weiter. Nun müsse die Demokratie in Europa mit mehr Leben erfüllt werden – vor allem durch eine stärkere Rolle des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente. Zugleich sprach er sich dafür aus, die Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten klarer zu verteilen. Nicht alles müsse zentral in Brüssel entschieden werden. Dennoch dürfe man die Aufgabenteilung nicht ein für alle Mal festschreiben, da flexible Anpassungen nötig bleiben.
Europa der „verschiedenen Geschwindigkeiten“
Chirac plädierte überdies für ein Europa der „verschiedenen Geschwindigkeiten“. Jenen EU-Ländern, die in bestimmten Bereichen schneller voranschreiten wollten, solle man dies freiwillig ermöglichen. „Gemeinsam mit Deutschland und Frankreich könnten sie eine ‚Avantgarde-Gruppe‘ bilden.“ Die EU brauche schließlich solide Institutionen und effiziente Entscheidungsmechanismen, betonte Chirac.
Wichtig sei, dass Mehrheitsentscheidungen in der Union ihren angemessenen Platz erhielten und das Stimmgewicht der Mitgliedstaaten dabei „fair“ widerspiegelten. Vor dem Hintergrund der laufenden Regierungskonferenz zur EU-Reform (die am 11. Dezember 2000 im Vertrag von Nizza mündete) warnte Chirac eindringlich vor einem „faulen Kompromiss“. Man dürfe sich nicht mit einer „Einigung zum Billigtarif“ zufriedengeben, die die Handlungsfähigkeit der Union für Jahre lähmen würde.
Thierse: Motor der europäischen Einigung
Auch der Bundestagspräsident hatte in seiner Begrüßungsrede im Namen aller Abgeordneten den Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass die enge Partnerschaft zwischen Deutschen und Franzosen von Dauer sein möge und die Bedeutung von Chiracs Besuch sowohl für die deutsch-französische Freundschaft als auch für Europa hervorgehoben. Wie Chirac erinnerte Thierse daran, dass die Geschichte beider Völker lange von Rivalität und Feindschaft geprägt war – umso bemerkenswerter sei der seit nunmehr fünf Jahrzehnten währende stabile Frieden und die Freundschaft zwischen beiden Nationen.
Mit Blick auf die anstehenden Aufgaben in Europa betonte er, Deutschland und Frankreich müssten erneut unter Beweis stellen, dass sie der „Motor der europäischen Einigung“ seien. Insbesondere im Hinblick auf die bevorstehende EU-Erweiterung in Osteuropa und nötige institutionelle Reformen komme der deutsch-französischen Kooperation eine Schlüsselrolle zu. Der Deutsche Bundestag werde seinen Beitrag dazu leisten, versicherte der Bundestagspräsident.
Gleichzeitig plädierte er dafür, die Debatte darüber zu intensivieren, welche politischen Aufgaben wirklich auf europäischer Ebene gelöst werden müssen – und welche „vielleicht doch viel effizienter, viel bürgernäher, noch demokratischer und transparenter“ auf der Ebene der Nationalstaaten oder Regionen zu regeln seien. „Es kommt darauf an, ob wir uns zuerst fragen, was wir selbst lösen könnten oder ob wir nur fragen, welche Politik als nächstes nach Brüssel delegiert werden kann“, gab Thierse zu bedenken.
Jacques Chirac (1932 bis 2019)
Jacques Chirac (1932 bis 2019) war von 1995 bis 2007 Staatspräsident der Französischen Republik. In seine Präsidentschaft fielen bedeutende Weichenstellungen: die Einführung des Euro als gemeinsame Währung, die EU-Osterweiterung und der Kampf gegen den internationalen Terrorismus nach 2001.
Außenpolitisch profilierte sich Chirac als überzeugter Europäer und verlässlicher Partner Deutschlands. So setzte er die Tradition der engen Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik fort – etwa mit Bundeskanzler Gerhard Schröder, mit dem ihn auch die gemeinsame Ablehnung des Irakkrieges 2003 verband.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt widmete sich Chirac unter anderem der Arbeit seiner Stiftung, die seinen Namen trägt und unter anderem für die nachhaltige Entwicklung und den Dialog zwischen den Kulturen eintritt. Jacques Chirac starb am 26. September 2019 im Alter von 86 Jahren in Paris. (klz/23.06.2025)