Europäische Union

Experten sehen viele offene Fragen beim Brexit-Abkommen

Experten sehen nach der Unterzeichnung des „Handels- und Kooperationsabkommens“ (TCA) zwischen der Europäischen Union (EU) und dem Vereinigten Königreich am 30. Dezember 2020 noch viele offene Fragen. Diese beträfen etwa die vereinbarten Streitbeilegungsmechanismen und die Entscheidungsprozesse innerhalb und zwischen Kommission, Rat und Parlament, betonten sie am Montag, 25. Januar 2021, in einer öffentlichen Anhörung des Europaausschusses. Vor allem mahnten die Sachverständigen in der rund zweieinhalbstündigen öffentlichen Anhörung unter Leitung von Gunther Krichbaum (CDU/CSU) eine umfassende parlamentarische Begleitung durch Bundestag und Europäisches Parlament bei der Umsetzung und möglichen Erweiterungen des Abkommens an. Laut Krichbaum arbeitet der Bundestag bereits an einer Stellungnahme zum TCA.

Als Vertreter der Wirtschaft begrüßte Steffen Kampeter von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände die vorläufige Anwendung des Abkommens und sprach sich für eine rasche Ratifikation aus. Jedoch blieben auch aufgrund schwacher Mobilitätsregeln und fehlender Regelungen zur gegenseitigen Anerkennung beruflicher Qualifikationen zahlreiche Unsicherheiten für die Unternehmen bestehen.

„Ausgewogenes Ergebnis“

Jürgen Knirsch (Greenpeace) lobte, dass der Kampf gegen den Klimawandel erstmals elementarer Bestandteil eines Handels- beziehungsweise Assoziierungsabkommens der EU geworden sei. Ob der starke rechtliche Durchsetzungsmechanismus jedoch tatsächlich genutzt werde, sei fraglich. Zudem seien der Zuständigkeitsbereich und die Ausstattung der zivilgesellschaftlichen internen Beratungsgruppen nicht klar geregelt, kritisierte er.

Gunnar Beck, Abgeordneter der AfD im Europäischen Parlament, sprach von einem „ausgewogenen Ergebnis“. Den Briten sei es gelungen, die EU zur Aufgabe ihrer „erniedrigenden Forderung“ nach einer Oberaufsicht des Europäischen Gerichtshofs über das TCA zu bewegen. Auch die deutsche Exportwirtschaft werde profitieren. Die Konsumenten würden jedoch verlieren, weil sie bei Preissteigerungen durch höhere Klimastandards nicht mehr auf britische Produkte ausweichen könnten, zeigte er sich überzeugt.

„Harter Brexit im Schafspelz“

Prof. Dr. René Repasi von der Erasmus School of Law Rotterdam nannte das Ergebnis einen „harten Brexit im Schafspelz“ und kritisierte, das Abkommen sei an entscheidenden Punkten sehr offen formuliert. Nichttarifäre Handelshemmnisse blieben bestehen, eine Unterwanderung von EU-Schutzstandards könne wegen unbestimmter Rechtsbegriffe nicht einfach unterbunden werden.

Die meisten Experten bescheinigten dem Abkommen eine hohe Fragilität, verwiesen aber auch auf zahlreiche Möglichkeiten der Fortentwicklung. Aufgrund dieser Optionen forderte nicht nur Prof. Dr. Holger Hestermeyer vom King's College London eine stärkere demokratische Anbindung an das Europaparlament und ein „angemessenes Verfahren“ sowohl bei der Festlegung gemeinsamer Standpunkte in den Gremien des Abkommens als auch bei Maßnahmen nach dem Abkommen.

„Bundestag sollte einen Fuß in der Tür behalten“

Prof. Dr. Daniel Thym von der Universität Konstanz sagte, im Zuge der Beschlussfassung sollte ein genaueres Verfahren entwickelt werden, welches bei kritischen Entscheidungen Einstimmigkeit im Rat der Europäischen Union festschreibe und die Rolle des Europäischen Parlaments weiterentwickle.

„Der Bundestag sollte auf jeden Fall versuchen, einen Fuß in der Tür zu behalten“ und überlegen, wie er das Abkommen sinnvoll begleiten könne, appellierte Prof. Dr. Franz Mayer von der Universität Bielefeld. „Zu erwarten steht, dass allfällige Konflikte mangels effektiver Gerichtsbarkeit in Endlosschleifen von Konsultationen landen, letztlich also politisch ausgetragen werden“, warnte er und sprach von einem zu erwartenden „deutlichen Rückschritt an Rechtlichkeit in Europa“.

Fragen nach hinreichender parlamentarischer Kontrolle

Dr. Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik urteilte, das wirtschaftliche und politische Verhältnis des Vereinigten Königreichs und der EU entspreche nun weitgehend einem „harten Brexit“ und sei deutlich unter dem anderer EU-Nachbarstaaten wie Norwegen oder der Schweiz angesiedelt. Weil das Abkommen zwar eine wichtige Wegmarke sei, „aber nicht das Ende der Verhandlungen zwischen EU und dem Vereinigten Königreich über ihr Verhältnis“, hält auch er eine „intensive Auseinandersetzung mit dem TCA durch das Europäische Parlament“ für vonnöten.

Universitätsprofessorin Dr. iur. Paulina Starski von der Universität Graz sagte, das TCA weise einen Komplexitätsgrad auf, der eine zuverlässige Einschätzung all seiner potenziellen Implikationen unmöglich mache. Eine umfassende Beratung des Abkommens durch das Europaparlament sei daher von zentraler Bedeutung. Der neu geschaffene Partnerschaftsrat, der über erhebliche Kompetenzen verfüge, werfe ebenfalls Fragen nach einer hinreichenden parlamentarischen Kontrolle auf.

„Einordnung als EU-only-Abkommen gerechtfertigt“

Thema der Anhörung war überdies die Frage, ob das TCA wie von der EU-Kommission propagiert, als „EU-only“-Abkommen betrachtet werden kann oder es als gemischtes Abkommen vor dem endgültigen Inkrafttreten auch von den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss. Nach Ansicht der meisten Experten ist die Einordnung als EU-only-Abkommen gerechtfertigt, da „weite Teile des Abkommens von der ausschließlichen EU-Kompetenz für die Handelspolitik umfasst“ würden, wie Daniel Thym ausführte. Franz Mayer zeigte sich davon zwar nicht restlos überzeugt, die „EU-only“-Argumentation erscheine ihm aber mit Blick auf die Singularität der Situation und des Abkommens als „letztlich hinnehmbar“.

Gunnar Beck hielt demgegenüber eine Detailprüfung für geboten – „sowohl aus Perspektive der Rechtssicherheit als auch der notwendigen indirekten demokratischen Legimitierung durch nationale Ratifizierungsprozesse im Falle ,gemischter' Abkommen“. Auch Greenpeace-Vertreter Knirsch sagte, die Frage, ob den nationalen Parlamenten eine Beteiligungsmöglichkeit zustehe oder nicht, sollte nicht allein mit der Interpretation der EU-Verträge beantwortet werden, „wenn die europäische Handelspolitik eine demokratische Legitimation und Unterstützung bekommen soll“. (joh/25.01.2021)

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