Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben sich am Donnerstag, 20. Oktober 2022, abschließend mit der Finanzreform der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) befasst. Einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zum GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (20/3448, 20/3713, 20/4001 Nr. 1.4) nahm das Parlament gegen das Votum der Oppositionsfraktionen in der vom Gesundheitsausschuss geänderten Fassung an. Zur Entscheidung lag ein Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Paragraf 96 der Geschäftsordnung vor (20/4098). Die Fraktionen der CDU/CSU (20/4092) und Die Linke (20/4093) hatten jeweils einen Entschließungsantrag zum Gesetzentwurf vorgelegt. Der CDU/CSU-Antrag wurde gegen die Stimmen von Union und AfD abgelehnt. Gegen den Antrag der Linken stimmten in namentlicher Abstimmung 534 Parlamentarier. Für die Initiative stimmten 37 Abgeordnete, 70 enthielten sich.
Keine Mehrheit fanden hingegen acht Anträge der Oppositionsfraktionen zu dem Thema. Ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion (20/2375) wurde mit den Stimmen der Koalition und der Linken abgelehnt. Fünf Anträge der AfD-Fraktion (20/2360, 20/3532, 20/3533, 20/3536, 20/3537) wies das Parlament gegen das Votum der Antragsteller zurück. Bei Enthaltung der AfD lehnte der Bundestag einen Antrag der Linken ab (20/3484), gegen einen zweiten (20/3485) votierten alle übrigen Fraktionen. Grundlage der Abstimmungen waren die vom Gesundheitsausschuss vorgelegten Beschlussempfehlungen (20/4086).
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Der Gesetzentwurf sieht neben einem höheren Bundeszuschuss auch höhere Beiträge der Versicherten sowie Einsparungen vor. Leistungskürzungen soll es nach Angaben der Regierung aber nicht geben. Der variable Zusatzbeitrag für Versicherte wird 2023 steigen. Auf Grundlage der Ergebnisse des sogenannten Schätzerkreises im Herbst wird das Bundesgesundheitsministerium den durchschnittlichen Zusatzbeitragssatz festlegen. Gerechnet wird mit einer Anhebung um 0,3 Prozentpunkte. Der Bundeszuschuss an den Gesundheitsfonds soll für 2023 um zwei auf 16,5 Milliarden Euro erhöht werden. Ferner will der Bund der GKV ein unverzinsliches Darlehen in Höhe von einer Milliarde Euro gewähren.
Die gesetzlichen Krankenkassen sollen sich in zwei Stufen anteilig mit einem Solidarausgleich an der Stabilisierung der Beitragssätze beteiligen. Dazu werden die Liquiditätsreserven weiter abgeschmolzen. Zugleich soll die Obergrenze für die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds halbiert werden. Dadurch sollen Mittel frei werden für höhere Zuweisungen an die Krankenkassen.
Extrabudgetäre Vergütung von Leistungen
Der Gesetzentwurf beinhaltet auch Sparvorgaben. So soll die extrabudgetäre Vergütung vertragsärztlicher Leistungen bei sogenannten Neupatienten abgeschafft werden. Für die extrabudgetäre Vergütung von Leistungen, die im Rahmen der offenen Sprechstunde erbracht werden, wird eine zeitlich unbefristete Bereinigung der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung vorgesehen. Die Auswirkungen dieses Vergütungsanreizes sollen evaluiert werden. Es soll analysiert werden, inwieweit durch die offenen Sprechstunden tatsächlich ein schnellerer Zugang zur fachärztlichen Versorgung erzielt wird. Geplant ist mit der Reform auch eine Begrenzung des Honorarzuwachses für Zahnärzte.
Gespart werden soll außerdem bei Arzneimitteln. Für 2023 ist ein um fünf Prozentpunkte erhöhter Herstellerabschlag insbesondere für patentgeschützte Arzneimittel eingeplant. Ferner wird das Preismoratorium für Arzneimittel bis Ende 2026 verlängert. Der Apothekenabschlag zugunsten der Krankenkassen wird von 1,77 Euro auf 2 Euro je Arzneimittelpackung erhöht, auf zwei Jahre befristet. Vorgesehen sind überdies angepasste Regelungen für die Erstattungsbeträge im Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG). Für den Krankenhausbereich ist geplant, dass ab 2024 nur noch die Pflegepersonalkosten qualifizierter Pflegekräfte, die in der unmittelbaren Patientenversorgung auf bettenführenden Stationen eingesetzt werden, im Pflegebudget berücksichtigt werden können.
Änderungen im Gesundheitsausschuss
Die Koalition brachte 17 Änderungsanträge ein, mit denen einige Regelungen teils deutlich verändert wurden. So wird das sogenannte Schonvermögen der Krankenkassen auf vier Millionen Euro erhöht. Damit soll sichergestellt werden, dass vor allem kleine Krankenkassen nach der Abschmelzung von Rücklagen noch genügend Finanzreserven behalten.
Auf die komplette Abschaffung der extrabudgetären Vergütung vertragsärztlicher Leistungen bei sogenannten Neupatienten, die als wenig erfolgreich eingeschätzt worden war, wird verzichtet. Stattdessen soll die Regelung reformiert werden mit einem zielgenaueren Anreizsystem für die Vermittlung und schnelle Behandlung von Patienten. Die Neuregelung soll zudem evaluiert werden.
Regierung lehnt höheren Bundeszuschuss ab
Die Bundesregierung lehnt den Vorschlag des Bundesrates für eine weitergehende Beteiligung des Bundes an der Finanzierung der GKV ab. Das geht aus einer Unterrichtung (20/3713) der Bundesregierung hervor. Der Bundesrat fordert in einer Stellungnahme zum GKV-Finanzstabilisierungsgesetz einen dynamisierten jährlichen Bundeszuschuss sowie für 2023 einen Zuschuss in Höhe von fünf Milliarden Euro.
In der Erwiderung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates heißt es, der Bund beteilige sich durch die Gewährung eines weiteren Bundeszuschusses in Höhe von zwei Milliarden Euro sowie eines Darlehens in Höhe von einer Milliarde Euro in erheblichem Maße an der finanziellen Stabilisierung der GKV im Jahr 2023. Das Bundesgesundheitsministerium werde bis Ende Mai 2023 Empfehlungen für eine stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung vorlegen.
Abgelehnter Antrag der Union
Die CDU/CSU-Fraktion forderte ein Soforthilfeprogramm für Krankenhäuser, um Kostensteigerungen aufzufangen. Auf die Krankenhäuser wirkten zahlreiche Preiserhöhungen parallel ein, insbesondere die Energiekosten sowie die Kosten von Waren- und Medizinprodukteherstellern, so die Fraktion in ihrem Antrag (20/2375). Die kurzfristig nur in Teilen refinanzierbaren, inflationsbedingten Kostensteigerungen brächten die Krankenhäuser in eine wirtschaftliche Schieflage, die es mit einem Soforthilfeprogramm abzuwehren gelte.
Die Abgeordneten schlugen vor, einen unterjährigen Rechnungszuschlag mit Wirkung ab dem 1. Juli 2022 in Höhe von 4,54 Prozent im Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) sowie in Höhe von 2,27 Prozent in der Bundespflegesatzverordnung (BPflV) gesetzlich zu verankern. Damit könnten die Kostensteigerungen für 2022 abgefedert werden. Für 2023 sollten die Landesbasisfallwerte beziehungsweise die Krankenhausbudgets angepasst werden, um den Krankenhäusern die Mittel dauerhaft zukommen zu lassen.
Erster abgelehnter Antrag der AfD
Die AfD-Fraktion forderte die Abschaffung der Budgetierung für Ärzte. Die niedergelassenen Ärzte hätten ein Recht, ihren Beruf uneingeschränkt auszuüben, so die Abgeordneten in ihrem Antrag (20/2360). Die Bundesregierung grenze die vertraglich zugesicherte freie Berufsausübung unzulässig und zulasten der Patienten ein. Daher müsse eine ausschließlich ökonomisch begründete Einschränkung der Therapiefreiheit des Arztes sofort außer Kraft gesetzt werden. Starre Budgetvorgaben dürften nicht über die medizinische Behandlung entscheiden.
Nach Aufhebung der Budgetierung dürften Patienten nicht finanziell belastet werden, etwa durch eine Anhebung der Krankenkassenbeiträge, heißt es in dem Antrag weiter. Mehrkosten müssten anderweitig finanziert werden, etwa durch eine vollständige Steuerfinanzierung der versicherungsfremden Leistungen.
Zweiter abgelehnter Antrag der AfD
Die AfD-Fraktion forderte eine Neuregelung für Importarzneimittel, um die Arzneimittelsicherheit zu verbessern. Preisunterschiede in europäischen Ländern auf dem Arzneimittelmarkt würden für Einsparungen bei der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) genutzt. So seien Apotheker nach bestimmten Regeln zur Abgabe preisgünstiger importierter Arzneimittel verpflichtet, so die Abgeordneten in ihrem Antrag (20/3532).
Die Abgeordneten forderten, einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch den die Verpflichtung des Apothekers zur Abgabe eines Importarzneimittels in Fällen, in denen der Arzt es nicht ausdrücklich verordnet hat, aufgehoben wird. Damit sollte auch die Importquote unwirksam werden.
Dritter abgelehnter Antrag der AfD
Nach Ansicht der AfD-Fraktion müssten Lieferengpässe bei Arzneimitteln wirksamer begrenzt werden. Deutschland sei bei der Versorgung der Patienten mit Arzneimitteln vom Nicht-EU-Ausland abhängig, so die Fraktion in ihrem Antrag (20/3533). Die Abgeordneten forderten, dass pharmazeutische Unternehmen die Nichtverfügbarkeit eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels in Deutschland unverzüglich melden müssen und die betroffenen Arzneimittel nicht exportiert werden dürfen.
Bei Rabattverträgen müssten die Zuschläge grundsätzlich auf mindestens zwei unterschiedliche Anbieter verteilt werden, von denen mindestens einer innerhalb der EU herstellt. Zudem müsste eine für zwei Monate ausreichende Arzneimittelreserve für verschreibungspflichtige Arzneimittel eingerichtet werden.
Vierter abgelehnter Antrag der AfD
Die AfD-Fraktion forderte die Abschaffung der Fallpauschalen-Abrechnung (DRG) im Krankenhaus und die Einführung eines sogenannten Prospektiv-Regionalen-Pauschalensystems. Das DRG-System setze zum Schaden der Patienten und des Personals falsche Systemanreize, so die Fraktion in ihrem Antrag (20/3536).
Das DRG-Abrechnungssystem müsse abgeschafft und die Betriebskostenfinanzierung im Krankenhaus neu geordnet werden. Mit dem Prospektiv-Regionale-Pauschalensystem würde den Leistungserbringern im Voraus eine jährliche Pro-Kopf-Pauschale bezahlt, die sie selbst verwalten müssten. Die Kalkulation der Pauschale solle auf morbiditätsorientierten Regionalbudgets basieren, mit denen die Unterschiede der Lebensbedingungen abgebildet würden.
Fünfter abgelehnter Antrag der AfD
Die AfD-Fraktion schlug vor, das Verfahren der Nutzenbewertung und Preisfindung im Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) auch auf Medizinalcannabis anzuwenden. Seit 2017, also seit der Abschaffung der früher für Patienten erforderlichen Ausnahmeerlaubnis der Bundesopiumstelle im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), seien die Ausgaben der Krankenkassen für die Behandlung mit Medizinalcannabis stark gestiegen, s o die Fraktion in ihrem Antrag (20/3537). Demnach lagen die Ausgaben im Juni 2017 für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) noch bei 2,31 Millionen Euro, im April 2018 bei 5,36 Millionen.
Aus Gründen des Patientenschutzes und des verantwortungsvollen Umgangs mit den Krankenversicherungsbeiträgen müsse Medizinalcannabis wie andere Arzneimittel auch behandelt werden. Zwar genieße Medizinalcannabis in der Bevölkerung einen guten Ruf, es sei aber kein Wundermittel. Ein AMNOG-Verfahren würde die Arzneimittel entmystifizieren, indem es Nutzen und Risiken objektiviere und damit den Erstattungspreis senke. Die Arzneimittel würden für Patienten, denen sie Nutzen bringen, auf dem Markt bleiben. Gleichzeitig würden durch Begrenzung des Einsatzes auf diese Fälle und durch die zeitgleiche Reduzierung der Erstattungspreise die Beitragszahler entlastet.
Erster abgelehnter Antrag der Linksfraktion
Die Linksfraktion forderte eine veränderte Einnahmebasis für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV), um eine langfristig solide und sozial gerechte Finanzierung zu gewährleisten und höhere Beiträge zu verhindern. Die GKV-Finanzen seien in einem desolaten Zustand, so die Fraktion in ihrem Antrag (20/3484). 2017 habe es noch Rücklagen von rund 20 Milliarden Euro bei den Krankenkassen und Überschüsse von rund 3,5 Milliarden Euro gegeben. Zum Regierungswechsel im vergangenen Jahr seien die Rücklagen bis auf die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestreserven aufgebraucht gewesen.
Die Abgeordneten forderten, die Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung (West) zu erhöhen und die Versicherungspflichtgrenze entsprechend anzupassen. Die Beitragszahlung von Arbeitslosengeld-II-Beziehern soll reformiert und auf Arzneimittel der ermäßigte Mehrwertsteuersatz erhoben werden. Die rückwirkende Geltung des Erstattungsbetrags für neue, patentgeschützte Arzneimittel sollte auf den ersten Monat, also sofort nach dem erstmaligen Inverkehrbringen, festgelegt werden. Perspektivisch sollten zudem alle Einkommen aus abhängiger und selbstständiger Arbeit sowie aus allen anderen Einkommensarten, etwa Kapitalvermögen oder Vermietung und Verpachtung, beitragspflichtig werden.
Zweiter abgelehnter Antrag der Linksfraktion
Die Fraktion Die Linke forderte, für Arzneimittel künftig nur noch den ermäßigten Mehrwertsteuersatz vorzusehen und im Gegenzug auf eine Beitragserhöhung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu verzichten. Eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf verschreibungspflichtige Arzneimittel würde die Ausgaben der Krankenkassen um rund fünf Milliarden Euro senken, so die Fraktion in ihrem Antrag (20/3485).
Das wäre der gleiche Betrag, den die geplante Erhöhung des Zusatzbeitrags um 0,3 Prozentpunkte bringen solle. Durch den abgesenkten Mehrwertsteuersatz auf Arzneimittel könnten höhere Zusatzbeiträge verhindert werden. Den gesetzlichen Krankenkassen drohe für das kommende Jahr ein Defizit in Höhe von geschätzt 17 Milliarden Euro, heißt es in dem Antrag. Diese Unterfinanzierung sei nicht zuletzt Folge einer verfehlten Gesundheitspolitik der vergangenen Bundesregierungen, deren Gesetze den Krankenkassen immer höhere Ausgaben beschert hätten, ohne dass die Einnahmebasis nachhaltig verbessert worden sei. (pk/eis/20.10.2022)