Enquete-Kommission Afghanistan

Anhörung zum Thema „Politische Verantwortungsstrukturen: Das Afghanistan-Engagement im Deutschen Bundestag - Rolle des Parlaments, Informationen und strategische Befassung“ (öffentlicher Teil)

Zeit: Montag, 12. Juni 2023, 12 Uhr bis 14 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 4.800

Es war nicht alles schlecht, aber vieles hätte besser laufen können, waren sich die zum öffentlichen Fachgespräch der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ geladenen Experten am Montag, 12. Juni 2023, einig. Bei künftigen Einsätzen müssten Bundesregierung und Bundestag, der Idee des vernetzten Ansatzes folgend, noch stärker auf eine Politik aus einem Guss setzten. Neue Gremien in beiden Verfassungsorganen, ein Sicherheitsrat beziehungsweise Sicherheitsausschuss, könnten dabei helfen, Ressortegoismen und unkoordiniertes Nebeneinander der einzelnen Politikbereiche zu überwinden, schlugen die zur Rolle des Parlaments während des zwanzigjährigen internationalen Afghanistan-Einsatzes befragten ehemaligen Abgeordneten vor.

Sachverständiger: Es hat Informationsdefizite gegeben

Das deutsche Parlament ist in die Grundsatzentscheidung über den Einsatz der nationalen Streitkräfte besser eingebunden gewesen als irgendein anderes Parlament der 50 an ISAF (International Security Assistance Force) beteiligten Nationen, sagte Tom Koenigs (Bündnis 90/Die Grünen), Bundestagsabgeordneter von 2009 bis 2017, Vorsitzender Ausschuss für Menschenrechte von 2009 bis 2013. Es gehöre zur Rolle des Parlaments, alle Fragen eines bewaffneten Einsatzes deutscher Streitkräfte offen zu diskutieren. Dennoch habe es Informationsdefizite gegeben. Während sich die Breite der Information, Beteiligung und Diskussion im entwicklungspolitischen und humanitären Bereich kaum habe übertreffen lassen, sei die Information und Diskussion im sicherheitspolitischen Bereich dünn geblieben. Weder habe es eine systematische Diskussion der sowjetischen Entwicklungserfahrungen und deren militärischem Scheitern in Afghanistan gegeben, noch seien das Wiedererstarken des politischen Islamismus, die rasante Zunahme von Selbstmordattentaten seit 2005 und die Wirkung der von ISAF verursachten zivilen Kollateralschäden genauer betrachtet worden; ebenso die ungebrochene Macht der Stämme und der War-Lords, die Rolle von Pakistan sowie die weit verbreitete Korruption. „Da haben wir nichts gewusst. Das hat man nicht gesehen. Das ist ein struktureller Mangel.“

Auch Einschätzungen des Bundesnachrichtendienstes und kooperierender ausländischer Geheimdienste hätten in die parlamentarische Diskussion zu wenig Eingang gefunden, so der ehemalige Abgeordnete. Der Bundestag müsse sich künftig noch offner zeigen für externe Beratung und etwa das Wissen von Think Tanks einbeziehen, wie es der amerikanische Kongress tue. Außerdem solle der Bundestag eines seiner wichtigsten Instrumente, nämlich Akteure in Ausschüssen zu befragen, besser nutzen. Die Ausschüsse müssten selbstbewusster werden. Und schließlich verfüge das deutsche Parlament über eine eigene forschende Einrichtung, auf deren Expertise man noch stärker bauen solle: Der Wissenschaftliche Dienst werde momentan „unter-nutzt“.

Vernetzung zwischen den Ausschüssen

Koenigs mahnte zudem, jeden, zumal einen so komplexen und gefährlichen Einsatz vom Ende her zu denken. Ebenso wie eine Einsatz-, brauche es eine Exitstrategie. Diese Frage müsse den Militärs ebenso wie den Bündnispartnern gestellt werden. Sie stelle sich erneut beim laufenden Malieinsatz. „In Afghanistan sind wir schlecht rausgekommen. 2014 hätte man gesichtswahrend rausgehen müssen.“ Eine vertiefte Diskussion über das militärisch und politisch Erreichte und vor allem über das, was offensichtlich unter den gegebenen Verhältnissen nicht erreichbar war, hätte an diesem Punkt stattfinden müssen, auch im Bundestag, so Koenigs.

Von den drei Zielen der deutschen Afghanistanpolitik - uneingeschränkte Unterstützung der angegriffenen USA, kein internationaler Terror mehr von Afghanistan, demokratische und wirtschaftliche Entwicklung für ein sehr armes Land - sei nur das erste erreicht worden: Deutschland habe sich als zuverlässiger und leistungsfähiger Bündnispartner den USA gegenüber und in der Nato erwiesen. Um Defizite in der Zusammenarbeit zwischen der Regierung und dem Bundestag zu überwinden, könne Deutschland einen nationalen Sicherheitsrat schaffen. An einer Vernetzung zwischen den verschiedenen Ausschüsse des Bundestages habe es indes nicht gefehlt. Die Instrumente des Bundestags - große und kleine Anfragen, Ausschuss- und Einzel-Reisen, Untersuchungsausschüsse, wissenschaftlicher Dienst - seien umfassend genutzt worden.

Kritik an der Debatte in Politik und Gesellschaft

Hellmut Königshaus (FDP), Bundestagsabgeordneter von 2004 bis 2010, Obmann im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von 2005 bis 2009, sowie Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages von 2010 bis 2015, kritisierte die Unehrlichkeit, mit der die öffentliche Debatte in Deutschland in Politik und Gesellschaft seit Beginn des Afghanistaneinsatzes geführt worden sei. Während die deutschen Streitkräfte, die den Schwerpunkt des deutschen Engagements ausmachten, dem Auftrag des VN-Mandats der Terrorbekämpfung sowie der Bündnissolidarität gefolgt seien, habe die Bundesregierung in der Öffentlichkeit den Eindruck vermeiden wollen, man begebe sich in einen Krieg oder sei in Kämpfe verwickelt. In der Öffentlichkeit seien die militärischen Herausforderungen im Einsatzland stets heruntergespielt worden.

Die Politik habe der damaligen pazifistischen Grundhaltung in der deutschen Gesellschaft folgend, auf eine zu starke Betonung der Entwicklungszusammenarbeit gesetzt und der Truppe nötige Ausrüstung vorenthalten, statt vor allem die Zielvorgaben für den Einsatz zu formulieren. In Afghanistan sei die deutsche Politik leider zudem nicht einem vernetzten Ansatz gefolgt, obwohl der Begriff damals in aller Munde gewesen sei. Es habe eine Verzahnung der Arbeit der Ministerien unter der Federführung des Auswärtigen Ames gefehlt. Die Ressorts hätten nebeneinander gearbeitet statt miteinander, die Entwicklungszusammenarbeit habe nach größtmöglicher Distanz zum Militärischen gesucht, statt dass man sich aufeinander abgestimmt hätte. Deutschland habe zudem Entwicklungsprojekte über ganz Afghanistan verstreut realisiert, viele auch außerhalb des deutschen militärischen Sektors, so dass auch für die Afghanen ein kohärentes Engagement aus Befreiung und Schutz, Hilfe und Aufbau nicht sichtbar war.

Um die parlamentarische Beteiligung zu verbessern und zu einem echten vernetzten Ansatz zu kommen, sollten sich vor allem die Ausschüsse für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und der Verteidigungsausschuss im Bundestag enger abstimmen, mahnte Königshaus und schlug vor, darüber hinaus ein neues permanentes Gremium, einen gemeinsamen Unterausschuss einzurichten. Dieser könne internationale Streitkräfteeinsätze kontinuierlich verfolgen, Adressat vertraulicher Inhalte sein sowie zivile und militärische Aspekte in Einklang bringen. Der ehemalige Wehrbeauftragte plädierte zudem für eine kohärente Herangehensweise schon vor der Mandatserteilung und sprach sich dafür aus, das parlamentarische Beteiligungsgesetz, das sich bislang nur auf das Militärische beziehe, entsprechend der Ambitionen eines vernetzten Ansatzes zu erweitern.

Die Rolle des Auswärtigen Ausschusses

Über die Rolle des Auswärtigen Ausschusses als federführendes Gremium für die Entsendung von Streitkräften während seiner Zeit als Ausschussvorsitzender von 2005 bis 2013 berichtete Ruprecht Polenz (CDU), Bundestagsabgeordneter von 1994 bis 2013. Polenz erinnerte noch einmal an die Gründe für den von einer breiten internationalen Koalition getragenen und durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierten Afghanistan-Einsatz: Ohne die Terroanschläge vom 11. September auf den wichtigsten Nato-Verbündeten USA und, wenn die Taliban den Al Quaida-Terroristen Osama bin Laden ausgeliefert hätten, wäre man dort nicht hineingegangen. Man habe Afghanistan - als failing State - als Rückzugsraum für Terroristen gesehen und weitere Anschläge weltweit verhindern wollen. Deswegen habe es einen umfassenden Einsatz gegeben, mit militärischen Kräften und dem Ziel, dort funktionierende staatliche Strukturen aufzubauen.

Das Positive an dem 20-jährigen internationalen Engagement sei gewesen, dass es den Afghanen während dieser Zeit weitaus besser gegangen sei als in den 20 Jahren davor und vermutlich als in den kommenden Jahren. Mit der Bundesregierung sei man über die Frage der Mandatierung des deutschen Anteils hinaus in ständigem Austausch gewesen. Dabei hätten sowohl die Regierung als auch der Bundestag keinen echten vernetzten Ansatz verfolgt, sondern die einzelnen Ressorts beziehungsweise entsprechenden Fachausschüsse hätten vielmehr ihr „versäultes“ Handeln nicht überwunden. Bestimmte politische und sicherheitsrelevante Informationen wie beispielsweise die Verbindungen der Taliban nach Pakistan habe man zudem nicht ausreißend im Fokus gehabt.

Bei künftigen und laufenden Missionen wie in Mali solle Deutschland mehr aus einem Guss handeln. Der CDU-Außenpolitiker schlug dafür neue stehende, ressort- beziehungsweise ausschussübergreifende Strukturen als übergeordnete Instanz für die beteiligten Ministerien und Ausschüsse vor: einen nationalen Sicherheitsrat bei der Bundesregierung, der die Kräfte von Auswärtigem Amt, Verteidigungsministerium und Entwicklungshilfe bündele, sowie als Pendant dazu im Bundestag einen Sicherheitsausschuss, zusammengesetzt aus Mitgliedern der entsprechend beteiligten Ausschüsse. Arbeitsgruppen beziehungsweise Unterausschüsse sollten sich vertieft mit den einzelnen Mandaten beschäftigen.

Robbe: Informationen über die Lage in Afghanistan

Dass das Parlament seiner Erinnerung nach immer zuverlässig und umfassend über die Lage in Afghanistan informiert worden sei, unterstrich Reinhold Robbe (SPD), Bundestagsabgeordneter von 1995 bis 2005, Vorsitzender Verteidigungsausschuss von 2002 bis 2005, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages von 2005 bis 2010. Umgekehrt sei der Bundestag seinerseits seiner Verantwortung gerecht geworden, den Einsatz und dessen Wirksamkeit zu kontrollieren. Bei den Kontrollpflichten habe es „keine Versäumnisse“ gegeben. „Die Informationsmöglichkeiten des Parlaments waren umfassend und ausreichend“.

So habe für die Abgeordneten die Möglichkeit bestanden, sich beispielsweise durch Besuche in Afghanistan oder das Instrument der kleinen oder großen parlamentarischen Anfrage an die Regierung sowie in den verschiedenen Gremien, vor allem den zuständigen Fachausschüssen, ein eigenes Bild zu machen. Ministerien und Parlamentsausschüsse hätten gut zusammengearbeitet. Auch durch das Amt des Wehrbeauftragten mit seinen gesetzlich verbrieften Kontrollrechten habe der Bundestag jederzeit über ein umfangreiches Lagebild verfügt. Zukünftig müsse man aber sowohl den Einsatzkräften vor Ort als auch den Bürgerinnen und Bürgern den Zweck des Einsatzes klarer kommunizieren. (ll/12.06.2023)

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