Besuch

Serpentina Hagner

Kurze Entstehungsgeschichte einer Selbstverständlichkeit – 100 Jahre Frauen-Wahlrecht in Deutschland, Graphic Novel, Offsetdruck, 2018, Autor: Albert Jörimann, Unterstützung bei Recherchen: Dr. Kerstin Wolff, Archiv der deutschen Frauenbewegung, Kassel, Dr. Isabel Rohner, Berlin

Serpentina Hagner (geboren 1956 in Zürich) hat im Auftrag des Kunstbeirates des Deutschen Bundestages eine Graphic Novel zum 100jährigen Jubiläum der Einführung des Frauenwahlrechtes in Deutschland entwickelt und gezeichnet. Die „Kurze Entstehungsgeschichte einer Selbstverständlichkeit – 100 Jahre Frauen-Wahlrecht in Deutschland“ nimmt ihren Anfangspunkt im Jahre 1849, als Louise Otto-Peters die „Frauen-Zeitung“ gründet und damit erstmals Frauen die Möglichkeit gibt, sich in der Öffentlichkeit politisch zu artikulieren. Verbote, Hausdurchsuchungen und ein eigens gegen diese Publikation gerichtetes Pressegesetz, die „Lex Otto“, waren die Folge. Serpentina Hagner lässt ihre Geschichte jedoch nicht 1849, sondern geschickt über eine Rahmenhandlung erst im Jahre 1919 einsetzen, das Jahr, auf das auch die Gedenkstunde und die Ausstellung im Deutschen Bundestag Bezug nehmen: Tochter und Enkelin der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm (1831 – 1919) besuchen ihr Grab in Berlin und erinnern rückblickend an die Frühzeit der Frauenbewegung in Deutschland und den Kampf Hedwig Dohms bis zur ersten praktischen Ausübung des neu errungenen Frauenwahlrechtes, der Wahl vom 19. Januar 1919 zur verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung in Weimar. Die Künstlerin schildert die überwiegend positive Entwicklung der Frauenrechte in der Weimarer Republik sowie den Rückschlag durch die verheerenden Folgen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft auch und gerade für die Stellung der Frau. Anschließend setzt die Erzählung im Jahr 2015 ein: Serpentina Hagner lässt eine Schülergruppe von Jungen und Mädchen im Rückblick die Entwicklung der Frauenrechte in der Bundesrepublik und in der DDR schildern bis zur Kanzlerschaft von Angela Merkel – erfrischend von den Schülern kommentiert und spannend im kontroversen Dialog zwischen den kämpferisch-selbstbewussten Schülerinnen und der selbstgefälligen Haltung eines Mitschülers, der abwehrend meint: „Aber wir haben doch längst die Gleichberechtigung. Was wollt ihr denn noch mehr, ihr Frauen?“ 

Mit dem scheinbar harmlos plaudernden Duktus ihrer Bildergeschichte gelingt Serpentina Hagner eine nuancierte Erzählung, die gleichermaßen die Stimmen der Vergangenheit wie die der politischen Gegenwart lebendig werden lässt. Deutlich wird, dass Frauenrechte und Demokratisierung eine untrennbare, sich gegenseitig bedingende Verbindung bilden. So schließt sich diese feinfühlig kolorierte Graphic Novel stimmig an Hagners bekannte Comic-Geschichte „Der Märchenerzähler von Zürich“ an, in der die Künstlerin mit der abenteuerlichen Geschichte ihres Vaters und vor allem ihrer Großmutter ein Sittenbild der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert entwirft. Die Art und Weise, in der ihre Großmutter, eine Angehörige des „fahrenden Volkes“, ihr Schicksal in die Hand nimmt und sich selbstbewusst ihren Platz in der Gesellschaft sichert, wirkt wie die individuell-biographische Einstimmung auf die folgende Graphic Novel zur Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland.

Obwohl Serpentina Hagner erst 1993 nach vorherigen Aktivitäten als freie Künstlerin sowie als Köchin und Gastronomin mit dem Zeichnen von Comics begann, erlangte sie rasch Bekanntheit und Anerkennung. Im Jahre 1994 gewann sie den ersten Preis des Comics Festivals in Lenzburg und erhielt für die Comic-Geschichten über ihren Vater, den Märchenmaler Emil Medardus Hagner, einen Finalistenpreis der Berthold Leibinger Stiftung (der erste Band erschien 2017, der zweite 2018). Mit der „Kurzen Entstehungsgeschichte einer Selbstverständlichkeit“ schließt Serpentina Hagner an die beiden viel beachteten Comic-Bände an und bewältigt eine noch größere Herausforderung: Es gelingt ihr, politische Geschichte in Bildern lebendig werden zu lassen, dabei kontroverse Themen aufzugreifen, ohne didaktisch oder dogmatisch zu werden, und fröhlich-selbstbewusst zu eigenem Denken, zu kritischer Haltung und mutigem Engagement aufzufordern. (akae)

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