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Marieluise Beck: Die Ruhe auf dem Balkan ist trügerisch

Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Günen) und Bariša Čolak (HDZ), Erster stellvertretender Vorsitzender der Völkerkammer von Bosnien-Herzogowina, stehen am 24. Oktober 2016 hinter Rednerpulten.

Marieluise Beck und Bariša Čolak, der erste stellvertretende Vorsitzender der Völkerkammer von Bosnien-Herzegowina (Presseabteilung bosnisches Parlament)

Mit Slowenien und Kroatien sind zwei Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens bereits zu EU-Mitgliedern geworden, während die anderen Länder des westlichen Balkans weiter mit den Folgen der Kriege der 1990er-Jahren zu kämpfen haben. In der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland sind die Gebiete abseits der Adriaküste vergessenes Land, aus dem sich auch die internationale Politik allmählich verabschiedet. Das will die Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages für Bosnien und Herzegowina ändern und das Bewusstsein für die Krisenregion des Westbalkans schärfen.

Zu groß sei die Gefahr, dass die dortigen Konflikte gewaltsam eskalieren, mahnt Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen), Initiatorin und Vorsitzende der Parlamentariergruppe. „Bosnien und Herzegowina findet in der öffentlichen Debatte über Außenpolitik praktisch nicht mehr statt“, beklagt die Politikerin.

Beck: Bedeutung der Region wird unterschätzt

Dabei sei die Region nach wie vor ein potenzieller Krisenherd. Die Spannungen und Konflikte seien nicht gelöst und hätten vor nicht allzu langer Zeit Kriege ausgelöst, die viele Tote forderten und zu großen Fluchtbewegungen führten. „Den Westbalkan aus den Augen zu verlieren wäre gefährlich. Die Bedeutung der Region für das friedliche Zusammenleben in Europa wird unterschätzt“, sagt Beck.

Die Bosnien-Kennerin warnt davor, dass dort politische und soziale Probleme schnell in ethnische, gewaltsame Konflikte umschlagen könnten. Das Land befinde sich in einer kritischen Phase zwischen nachlassendem internationalem Engagement und wachsenden inneren Spannungen.

Hohes Konfliktpotenzial

„Trotz aller sonstigen Krisen auf der Welt ist es unverzichtbar, dass wir uns um die Westbalkanregion bemühen. Sonst könnten wir erneut, sehr schnell und zusätzlich zur Ukraine, einen sehr schweren Konflikt in unserer direkten Nachbarschaft haben. Die Folgen wären dramatisch.“

Um der Bosnienpolitik im Bundestag und in der Bundespolitik wieder mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, wurde die Parlamentariergruppe gegründet. „Wir versuchen zumindest auf fachpolitischer Ebene Aufmerksamkeit für die weiterhin gefährlichen Entwicklungen in der Region an die Bundestagsabgeordneten und ins Auswärtige Amt und Kanzleramt zu tragen“ erklärt Beck.

Stabiles Bosnien im europäischen Interesse

Trotz der zahlreichen Krisen, die derzeit die deutsche Außenpolitik fordern, sei zusätzliches Engagement für den Balkan nötig. Bosnien und Herzegowina sei dabei wie der gesamte Westbalkan im Kleinen: „Äußerst vielfältig und eben auch voller Spannungen – eine Art Seismograf der Region. Wenn wir dieses Land voranbringen und stabilisieren könnten, hätte das enorm positive Auswirkungen auf die gesamte Region und für ganz Europa.“

Beck weist zudem darauf hin, dass Bosnien und Herzegowina das Land ist, in dem seit Jahrhunderten ein europäischer Islam gelebt wird, der absolut kompatibel mit westlichen Lebensweisen sei. „Gerade in Zeiten, in denen radikale und intolerante Haltungen an Zulauf gewinnen, brauchen wir diesen europäischen Islam als Orientierung mehr denn je“, sagt Beck. „Wir dürfen die bosnischen Muslime nicht erzkonservativen oder extremistischen Kräften überlassen, die dort um die Bevölkerung werben und den Menschen erzählen können, dass sie von der EU nicht gewollt seien. Das zu verhindern, muss unser wesentliches Interesse sein.“

Internationale Friedensbemühungen in Gefahr

Die internationalen Friedensbemühungen in Bosnien und Herzegowina seien allerdings ernsthaft in Gefahr, warnt Beck, da sich die Staatengemeinschaft in einem Moment aus Bosnien zurückziehe, in dem die Spannungen in dem Land wieder zunähmen. So wurden die militärische Präsenz reduziert, das Büro des Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und Herzogewina verkleinert, politische Initiativen zurückgefahren.

„Die internationale Gemeinschaft hat die weitgehende Ruhe im Land als Zeichen missverstanden, dass das Land stabilisiert sei. Aber diese Ruhe ist trügerisch.“ Vielmehr werde von den Eliten zum Zwecke des Machterhalts wieder ethnischer Hass geschürt. Gleichzeitig gebe es kaum Anzeichen für wirtschaftlichen und politischen Fortschritt, der das Land stabilisieren könnte. „Bosnien und Herzegowina wurde von der internationalen Politik in einem Nachkriegszustand quasi unregierbar sich selbst überlassen. Die Staatengemeinschaft hat die politische Verantwortung für das Land und seine Menschen abgeschoben“, beklagt Beck.

Gespaltenes Land

Nach wie vor sei das Land tief gespalten in drei Volksgruppen – christlich-orthodoxe Serben, christlich-katholische Kroaten und muslimische Bosniaken, erklärt Beck. Hinzu komme, dass die Nachkriegsordnung strukturell politische Kräfte fördere, die an einer Schwächung des Staates arbeiteten statt verantwortungsvolle Politik im Sinne der Bürger zu machen. „Die Eliten versuchen ihre Macht zu sichern und von Missständen abzulenken, indem sie gegeneinander hetzen und auf Eskalation setzen.“

Die Menschen in Bosnien setzten zwar alle Hoffnung auf die Europäische Union, damit diese das Land von außen zum Fortschritt zwinge. Sie wählten aber dennoch immer wieder die alten Eliten. „Ein Stück weit muss das Land sich auch aus sich selbst erneuern“, appelliert Beck daher an die Bosnier. Auch wenn die EU die Nachkriegsordnung von Dayton als damaliger Verhandlungspartner mitzuverantworten habe und deshalb Verantwortung trage, könne die EU dem Land nicht die Reformen abnehmen.

Beck: Engagierte europäische Bosnien-Politik nötig

Das Interesse an Bosnien und dem Balkan sei leider auch bei den Abgeordneten und in der Regierung gering, beklagt Beck. So habe im Auswärtigen Ausschuss und im Plenum in den letzten Jahren keine Debatte mehr zu Bosnien und Herzegowina stattgefunden. Die Bundesregierung habe zwar den sogenannten Berlin-Prozess mit jährlichen Westbalkan-Gipfeln angestoßen, um die Länder der Region zu mehr Kooperation untereinander zu bewegen. Insgesamt aber bleibe das Engagement aus Deutschland begrenzt.

„Das schmälert unsere Einflussmöglichkeiten ganz entschieden. Wenn wir unsere bosnischen Gesprächspartner dazu auffordern, Reformblockaden zu überwinden, findet dies weniger Resonanz als wünschenswert und auch möglich wäre, wenn es in eine engagierte europäische Bosnien-Politik eingebettet wäre.“

Abgeordnete für Bosnien

Die Parlamentariergruppe wurde in der 17. Wahlperiode des Bundestages (2009 bis 2013) auf Initiative von Marieluise Beck gegründet, um der Bosnien-Politik im Bundestag wieder mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Leider habe nur noch eine sehr kleine Gruppe von Abgeordneten Interesse an dem Land, beklagt Beck. „Ich finde das fatal und bedaure das sehr. Ich wünschte, es gäbe in den Fraktionen mehr Bewusstsein dafür, wie wichtig das Land auch für uns in Deutschland ist.“

Die Parlamentariergruppe, der sieben Abgeordnete angehören, die zugleich Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses sind, will die Außenpolitik der Bundesregierung zum Partnerland ergänzen und eigene Akzente setzen. Ihre wesentliche Aufgabe bestehe darin, den Kontakt mit den Parlamentsabgeordneten in Sarajevo, der dortigen „Freundschaftsgruppe EU“, zu pflegen, das gegenseitige Verständnis zu fördern und so die Beziehungen zum Partnerland auszubauen und Bosnien und Herzegowina in seiner Entwicklung zu unterstützen, erklärt Beck.

Die Mitglieder der Gruppe kommen zusammen etwa wenn eine Delegation aus Bosnien zu Besuch in Berlin ist. Außerdem treffen sie regelmäßig den Botschafter des Landes und die zuständigen Fachleute im Auswärtigen Amt, um sich über aktuelle politische Entwicklungen auszutauschen.

Delegationsreise nach Bosnien

Auf wechselseitigen Delegationsreisen vertiefen die Abgeordneten beider Länder die Beziehungen.  So besuchte vom 24. bis 26. Oktober 2016 eine Delegation der deutschen Parlamentariergruppe das Balkanland. Für das Frühjahr 2017 ist ein Gegenbesuch der Bosnier geplant.

„Auf solch einer Delegationsreise, die nur einmal in der Wahlperiode stattfinden kann, versuchen wir, alle wesentlichen Akteure zu treffen“, erläutert Beck. „Wir haben Treffen mit dem Parlament, dem Staatspräsidium, der Regierung, Wirtschaftsvertretern, Stiftungen, den internationalen Repräsentanten, Institutionen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und der Zivilgesellschaft absolviert.“ Auch ein Treffen mit den „Müttern von Srebrenica“ stand auf dem Programm.

Beck: Grundlegender Wandel des Politikverständnisses nötig

„Das wichtigste Gesprächsthema in Sarajevo war, wie das Land den lang anhaltenden Stillstand und die politische Blockade der Staatsinstitutionen überwinden kann“, berichtet Beck. „Die Lage der Menschen muss sich endlich bessern. Ohne Reformen kann es auch keinen EU-Beitritt geben. Wir haben die Frage gestellt, ob es klug ist, immer wieder diejenigen zu wählen, die nur vorgeben, den EU-Beitritt als politisches Ziel zu verfolgen, aber ein persönliches Interesse daran haben, dass alles so bleibt, wie es ist.“

Alle wüssten, dass die bosnischen Eliten durch die EU-Annäherung, die Rechtsstaatsreformen bedeute, an Einfluss und Macht einbüßen würden und deshalb ein Interesse am Status quo hätten. „Aber dennoch werden diese Eliten immer wieder gewählt, weil sie gekonnt Ängste vor den anderen ethnischen Gruppen schüren. Ohne einen grundlegenden Wandel des Politikverständnisses kann das Land nicht vorankommen.“

Deutschland genießt hohes Ansehen in Bosnien

Die Aufmerksamkeit, die der Besuch der Parlamentarier aus Deutschland in den bosnischen Medien ausgelöst habe, habe man genutzt, um zur öffentlichen Diskussion und zum politischen Bewusstsein in dem Balkanland beizutragen, berichtet Beck. Auch in den offiziellen Gesprächen rede man offen miteinander, äußere Kritik, wo es nötig ist, und versuche Gesprächspartner zu identifizieren, mit denen die Modernisierung des Landes angepackt werden könne.

„Die bosnische Politik setzt große Hoffnungen in Deutschland als Wirtschaftspartner. Die Gesprächspartner hoffen wirtschaftliche Vorteile und Investitionen, die dringend benötigt werden“, sagt Beck. Viele Investoren seien jedoch schon an den korrupten und bürokratischen Strukturen des Landes gescheitert. Der Einfluss derjenigen, die von dem bestehenden System persönlich stark profitieren und daran festhalten wollen, sei bislang ungebrochen, kritisiert die Bundestagsabgeordnete.

Dennoch verbinde Deutschland mit Bosnien und Herzegowina eine enge Partnerschaft, gerade auf menschlicher Ebene. Das habe auch mit den vielen Flüchtlingen zu tun, die in den 1990er-Jahren in Deutschland aufgenommen wurden. „Man spürt diese Verbundenheit noch heute, wenn man durch das Land reist. Viele sprechen Deutsch. Deutschland ist ein viel bewundertes Vorbild, wegen des Wohlstands, der funktionierenden Strukturen, der Kultur und so weiter. Das öffnet uns in Bosnien und Herzegowina die Türen und gibt uns zahlreiche Möglichkeiten, etwas in dem Land zu bewegen – wenn wir denn diese Chancen ergreifen.“

Persönliche Beziehungen

Das Interesse der Abgeordneten an Bosnien und Herzegowina rührt zumeist aus persönlichen Bezügen zu dem Land und der Region. So haben Mitglieder der Parlamentariergruppe etwa mit dem Technischen Hilfswerk in Bosnien Hilfe geleistet, einen Studienaufenthalt in Sarajevo absolviert oder waren als Soldat im Rahmen der internationalen Schutztruppe dort. Beck ist 1992 mit Bosnien in Kontakt gekommen, als sie eine bosnische Flüchtlingsfamilie zu Hause aufnahm, bald darauf in Bremen die Hilfsorganisation „Brücke der Hoffnung“ mit gründete, und selbst Hilfstransporte in die damals belagerten Gebiete begleitete.

Aus dieser Zeit kenne sie noch viele bosnische Politiker. Die zahlreichen Einblicke und Kontakte seien für ihre heutige Arbeit sehr wertvoll, aber auch ein persönlicher Schatz. „Bosnien und Herzegowina ist ein wunderbares Land mit tollen Menschen und einer vielfältigen Kultur. Hier treffen westeuropäische Kultur, östliche Orthodoxie und osmanisches Erbe aufeinander und vermischen sich in einer unvergleichlichen Weise.“ (ll/2.02.2017)

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