Geschichte

Vor 75 Jahren: Bonn wird Sitz des Parlamentarischen Rates

Wahl des Vizepräsidenten des Parlamentarischen Rates während der Konstituierenden Sitzung in der ehemaligen Pädagogischen Akademie.

Konstituierende Sitzung des Parlamentarischen Rates am 1. September 1948 in Bonn (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Vor 75 Jahren, am 13. August 1948, ist eine für Nachkriegsdeutschland folgenschwere Entscheidung gefallen: In einer telefonischen Abstimmung sprachen sich die Regierungschefs der damals elf Länder der drei westdeutschen Besatzungszonen mehrheitlich dafür aus, dass der Parlamentarische Rat in Bonn tagen wird. Parlamentarischer Rat nannte sich die verfassunggebende Versammlung, die vom 1. September 1948 bis 8. Mai 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ausgearbeitet hat, das am 23. Mai 1949 unterzeichnet und verkündet wurde. Die Universitätsstadt am Rhein beherbergte nicht nur die 65 stimmberechtigten Männer und Frauen des Parlamentarischen Rates („Väter und Mütter des Grundgesetzes“), sondern im Anschluss auch 50 Jahre lang Regierung und Parlament der Bundesrepublik.

Gut drei Jahre nach Kriegsende, am 1. Juli 1948, hatten die Militärgouverneure der westlichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich die neun Ministerpräsidenten und zwei Bürgermeister der Hansestädte Hamburg und Bremen nach Frankfurt am Main bestellt. Im amerikanischen Hauptquartier ging es um die staatliche Zukunft des Gebiets der drei westdeutschen Besatzungszonen. Zur amerikanischen Zone zählten die Länder Bayern, Hessen, Württemberg-Baden sowie die Hansestadt Bremen. Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen bildeten die britische Besatzungszone, Rheinland-Pfalz, Württemberg-Hohenzollern und Baden die französische Besatzungszone.

Frankfurter Dokumente, Koblenzer Beschlüsse

Die Regierungschefs erhielten von den Militärgouverneuren die sogenannten „Frankfurter Dokumente“ mit den Aufträgen, eine Verfassung auszuarbeiten, eine Länderneugliederung vorzuschlagen und ein Besatzungsstatut zu berücksichtigen, das gleichzeitig mit der künftigen Verfassung in Kraft treten sollte. Um sich zu beraten, trafen sich die Ministepräsidenten vom 8. bis 10. Juli 1948 im Berghotel „Rittersturz“ in Koblenz in der französischen Zone zur sogenannten „Rittersturzkonferenz“. Die öffentliche Aufmerksamkeit richtete sich in jenen Tagen aber nicht darauf, sondern auf die neue „Deutsche Mark“. Kurz zuvor, am 21. Juni, war sie in den drei Westzonen und am 24. Juni in den westlichen Sektoren Berlins zum einzigen gesetzlichen Zahlungsmittel geworden.

Die in Koblenz gefassten Beschlüsse stimmten zunächst nicht mit den Vorstellungen der alliierten Militärgouverneure Lucius D. Clay (USA), Sir Brian Robertson (Großbritannien) und Pierre Koenig (Frankreich) überein. Zur Einigung kam es erst am 26. Juli. Die von den Militärgouverneuren geforderte verfassunggebende Versammlung erhielt die Bezeichnung „Parlamentarischer Rat“. Bevor dieser am 1. September seine Arbeit aufnehmen konnte, tagte vom 10. bis 23. August auf der Chiemsee-Insel Herrenchiemsee in Bayern der sogenannte „Verfassungskonvent“, ein Gremium aus Rechtsgelehrten, Politikern und Verwaltungsfachleuten, das bereits Empfehlungen für ein „Grundgesetz“ vorlegte, die Grundlage für die Arbeit des Parlamentarischen Rates sein sollten.

Frankfurt, Koblenz, Karlsruhe, Bonn

Fast beiläufig kam die Frage auf, wo denn der Parlamentarische Rat tagen sollte. In Frankfurt, das in der amerikanischen Zone lag, weil die Alliierten dort die „Frankfurter Dokumente“ übergeben hatten? In Koblenz, in der französischen Zone, wo die „Rittersturzkonferenz“ stattfand? Das hatte der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Peter Altmeier (CDU) vorgeschlagen. Oder in der alten badischen Residenzstadt Karlsruhe, das der Ministerpräsident von Württemberg-Baden (die nördliche Landeshälfte des heutigen Baden-Württemberg), Dr. Reinhold Maier (FDP/DVP), ins Gespräch gebracht hatte und das wie Frankfurt in der amerikanischen Zone lag? Maier konnte sich damals nicht durchsetzen, aber immerhin kam Karlsruhe zum Zug, als es darum ging, einen Standort für das Bundesverfassungsgericht zu finden.

Die Amerikaner hätten einer Stadt im Rhein-Main-Gebiet den Vorzug gegeben, beugten sich aber schließlich dem Wunsch der Briten, auch einmal eine Stadt in ihrer Zone mit einer so wichtigen Konferenz zu betrauen. Neben dem niedersächsischen Celle, der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt Düsseldorf und Köln stand Bonn zur Auswahl. Warum gerade Bonn? Chef der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei war damals Dr. Hermann Wandersleb (1895-1977), ein gebürtiger Thüringer und späterer Ehrenbürger von Bonn.

Telefonische Abstimmung

Wandersleb hatte 1947 in Bonn eine Lehrveranstaltung für Verwaltungsbeamte abgehalten und sich erinnert, dort sehr gastfreundlich aufgenommen worden zu sein. In einer Kabinettssitzung am 5. Juli in Düsseldorf brachte er die Universitätsstadt erstmals ins Gespräch. Ministerpräsident Karl Arnold (CDU) kam es darauf an, eine vergleichsweise wenig zerstörte Stadt zu finden, die zugleich genügend Tagungs- und Übernachtungsmöglichkeiten bot. Köln war im Krieg stark zerstört worden und lehnte ab, auch Düsseldorf reagierte zögerlich auf die Anfrage. Nicht dagegen Bonn, das reges Interesse zeigte und bekundete, alles zu tun, um die Abgeordneten unterzubringen. Bonn lag im äußersten Süden der britischen Zone, unweit der Grenze zur französischen Zone.

Während der Verfassungskonvent in Herrenchiemsee über Richtlinien für ein Grundgesetz nachdachte, ließ Christian Stock (SPD), hessischer Ministerpräsident und Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz, am Freitag, 13. August, über den Tagungsort des Parlamentarischen Rates abstimmen – telefonisch. Zur Auswahl standen Frankfurt, Karlsruhe, Koblenz, Celle und Bonn. Von den elf Regierungschefs stimmten acht für Bonn, zwei für Karlsruhe und einer für Celle.

In der zweiten Augusthälfte wählten die westdeutschen Landtage ihre 65 Delegierten, 61 Männer und vier Frauen (Helene Weber, Elisabeth Selbert, Friederike Nadig und Helene Wessel), für den Parlamentarischen Rat. Hinzu kamen fünf nicht stimmberechtigte Delegierte aus West-Berlin.

Konstituierende Sitzung in der Pädagogischen Akademie

Bonn bot als Tagungsort die Pädagogische Akademie im Süden der Stadt, unweit des Rheinufers, an. Nach einer Eröffnungsfeier am Mittwoch, 1. September, im Zoologischen Museum Koenig in Bonn konstituierte sich der Parlamentarische Rat am gleichen Tag in der Aula der Pädagogischen Akademie und wählte den 72-jährigen Abgeordneten Konrad Adenauer (CDU) zu seinem Vorsitzenden. Adenauer wohnte seit 1935 in Rhöndorf in der südlichen Bonner Nachbarschaft. Im dortigen Hotel Drachenfelser Hof übernachteten auch die SPD-Abgeordneten im Parlamentarischen Rat.

Bonn schien geeignet, die endgültige Entscheidung über den künftigen Regierungssitz offenzuhalten und den provisorischen Charakter der Gründung eines „Weststaates“ zu symbolisieren. Neben der Pädagogischen Akademie als Tagungsstätte besaß Bonn zudem eine ausreichende Anzahl an Unterkünften, eine intakte Universitätsbibliothek und nahe gelegene attraktive Kurorte. Hier konnte man, wie der CSU-Parlamentarier Karl Sigmund Mayr feststellte, „in Ruhe seine Arbeit verrichten“.

Die Pädagogische Akademie, die im August 1948 in kürzester Zeit für den Parlamentarischen Rat hergerichtet wurde, war im modernen Bauhausstil vom preußischen Regierungsbaumeister Martin Witte (1896-1930) entworfen und zwischen 1930 und 1933 ganz im Süden Bonns am Rhein erbaut worden. Sie war der einzige Bau des Dessauer Bauhauses im Bonner Raum. Nach einem Beschluss des nordrhein-westfälischen Landeskabinetts wurde der Düsseldorfer Architekt Hans Schwippert (1899-1973) bereits Ende 1948 beauftragt, einen Plan für den Umbau der Akademie zu einem dauerhaften Parlamentsgebäude, dem späteren Bundeshaus, anzufertigen. Im Februar 1949 begannen die Bauarbeiten, ohne dass zu diesem Zeitpunkt sicher war, dass Bonn zukünftig Parlamentssitz sein würde. Bonn und das Land Nordrhein-Westfalen hofften auf die Macht des Faktischen. (vom/31.07.2023)

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