Kinderkommission

Defizite bei der Unter­brin­gung un­beglei­teter min­der­jähriger Flücht­linge

Isolation statt Integration, rechtliche Doppelzuständigkeiten sowie die Abwesenheit der Kinder- und Jugendhilfe und therapeutischer Versorgung: Damit sehen sich unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften allzu häufig konfrontiert. Wie sich die Situation dieser jungen Menschen verbessern lässt, dazu holten die Mitglieder der Kinderkommission des Bundestages im öffentlichen Fachgespräch am Mittwoch, 13. Januar 2021 unter Vorsitz von Norbert Müller (Die Linke) den Rat von Sachverständigen aus dem Bereich der Flüchtlingshilfe ein.

„Den Kindern fehlen Rückzugs- und Lernräume“

Nadine Kriebel vom Projekt „We talk! Gewaltschutz für Geflüchtete Kinder und Mütter“ des Bayerischen Flüchtlingsrates sagte, die meisten Kinder kämen in Deutschland bereits schwer belastet an, blickten auf Gewalterlebnisse in ihren Herkunftsländern oder während der Flucht zurück. Viel zu lange verbrächten sie hierzulande dann in Erstaufnahmeeinrichtungen. Die beengten Verhältnisse dort sowie schleppend verlaufende Asylverfahren stellten eine sehr einschränkende und belastende Situation für die jungen Menschen dar.

Dadurch, dass die Bewohner der Einrichtungen mit Sachleistungen versorgt würden, werde die Gemeinschaftsunterkunft ihr Lebensmittelpunkt. Der ohnehin mangelnde Kontakt zur Außenwelt werde durch häufige Quarantänesituationen noch geringer. Den Kindern fehlten Rückzugs- und Lernräume. Eine ausreichende Betreuung in den Einrichtungen sei vielerorts ebenso wenig gegeben wie die Anlehnung an die professionelle Kinder- und Jugendhilfe. Konflikte nähmen daher zu.

„Kinder erkranken durch diese Bedingungen“

Die Bedingungen der Unterbringung behinderten die kindliche Entwicklung und die Integration in Staat und Gesellschaft. „Kinder erkranken durch diese Bedingungen.“ Zu der bisher schon defizitären medizinischen Versorgung in den Einrichtungen komme, dass die Hygienemaßnahmen im Zusammenhang mit Corona nur schwer einzuhalten seien. Es liege eine strukturelle Gefährdung des Kindeswohls vor, die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen werde verletzt.

Kurzum, Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünfte seien „weit davon entfernt, ein sicherer Ort für Kinder zu sein“. Kriebel forderte, schnell zu niedrigeren Belegungszahlen in den Wohneinrichtungen zu kommen und eine dezentrale Unterbringung zu favorisieren. Außerdem empfahl sie eine Abkehr vom Sachleistungsprinzip und mahnte eine bessere Versorgung psychisch erkrankter Flüchtlinge an.

„Es kommen mehr Schwersttraumatisierte“

Wie stark besonders geflüchtete Kinder und Jugendliche unter psychosozialen Auswirkungen der Corona-Situation litten, darüber berichtete Janina Meyeringh, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin beim Verein Xenion Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte. Viele dieser Kinder hätten „schon vor der Pandemie mit multiplen Belastungen wie Traumafolgeschäden zu kämpfen“ gehabt. Durch die Covid-19-Pandemie beobachte man nun eine Zunahme psychischer Probleme mit „zunehmend depressiven Verläufen“ bei den jugendlichen Flüchtlingen. „Es kommen mehr Schwersttraumatisierte“, die Opfer von Folter und Menschenhandel geworden seien.

Die soziale Isolation in den Wohneinrichtungen, oft infolge von Quarantäne, aber auch ausbleibende Angebote externer Helfer, hätten die Situation drastisch verschlimmert. Die Kinder erlebten „Hilflosigkeit und Kontrollverlust“, würden von Zukunftsängsten geplagt. Den meisten schulpflichtigen Kindern in den Gemeinschaftsunterkünften fehle nach dem neuerlichen Lockdown die Möglichkeit der sozialen und Bildungsteilhabe in der Schule, nähmen sie die Schule doch als den Ort wahr, um den Konflikten in ihrem Umfeld und in ihrer Vergangenheit entkommen zu können.

Wichtige Schritte in der kindlichen Entwicklung verzögerten sich oder unterblieben durch diese Abkoppelung: „Alles stagniert.“ Unter diesen Umständen sei es wichtig, die „digitalen Möglichkeiten der Einrichtungen auszubauen.“ Es komme hinzu, dass im Zuge der Pandemie Behörden und Botschaften oft nicht mehr ansprechbar seien, Visaverfahren sich verzögerten. Mit dem Eintreten der Volljährigkeit erlösche dann etwa der Anspruch des Familiennachzugs oder Folgemaßnahmen würden nach dem Auslaufen der Jugendhilfe schlicht nicht eingeleitet.

„Psychosoziale Hilfen ausbauen“

Meyeringh rief in Erinnerung, dass es schon vor Corona „massive Lücken in der therapeutischen Versorgung“ gegeben habe. Die Kapazitäten seien einfach zu gering, und auf der anderen Seite stiegen die Anfragen immens. Therapiebedürftige warteten nun monatelang auf eine Behandlung. Man könne sich „nur noch um die extremsten Fälle“ kümmern. Viele hätten eine Langzeitbehandlung nötig, gehörten in den stationären Bereich. „Ein Ausbau der psychosozialen Hilfe für geflüchtete Kinder und Jugendliche ist notwendiger denn je“, forderte sie, und mahnte, die Finanzierungssicherheit  für die Träger zu verbessern.

Wie sehr die unbegleiteten Minderjährigen rechtlich zwischen allen Stühlen säßen und dadurch ausgegrenzt würden, darauf wies Ulrike Schwarz vom Projekt „Vom Willkommen zum Ankommen“ des Bundesfachverbandes unbegleitete minderjährige Flüchtlinge hin. Auch schon vor Corona seien minderjährige, unbegleitete Flüchtende in diesem System der Doppelzuständigkeiten zwischen Asylrecht, Jugendhilfe und Aufenthaltsgesetz aufgerieben worden.

„Keine Kontrolle seitens des Kinderschutzes“

Schwarz kritisierte vor allem den schwierigen Zugang und die fehlende Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für die Aufnahmeeinrichtungen. Diese unterlägen „keiner Kontrolle seitens des Kinderschutzes“.„Kinderschutz findet nicht statt. Die Jugendhilfe ist da nie drin.“ Hinzu komme, dass infolge der Pandemie viele Kinder und Jugendliche, die beispielsweise mit anderen Erwachsenen angekommen seien, überhaupt nicht mehr als Unbegleitete und als „vulnerable Gruppe“ identifiziert würden. Die kämen in den Einrichtungen an, „sehen teilweise anders aus als unter Zehnjährige“, und blieben dann den Trägern überlassen.

Vielfach werde bei diesen jungen Menschen ein Bedarf an Jugendhilfe nicht festgestellt. Der Blick des Kinderschutzes auf diese Menschen fehle oft. Das begünstige Ausbeutung und Gewalt. Sowohl bei der Identifizierung von Kindern und Jugendlichen als auch beim Zugang zu den Einrichtungen müssten die Fachkräfte der Jugendhilfe und Sozialarbeit Vorrang haben, forderte Schwarz. (ll/13.01.2020)

Liste der geladenen Sachverständigen

  • Nadine Kriebel, Projekt „We talk! Gewaltschutz für Geflüchtete Kinder und Mütter“, Bayerischer Flüchtlingsrat e.V.
  • Janina Meyeringh, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, XENION Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte e. V.
  • Ulrike Schwarz und Timo Schweizer, Projekt „Vom Willkommen zum Ankommen“, Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e. V.

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