09.11.2018 | Parlament

Begrüßungsansprache von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zur Gedenkveranstaltung am 9. November

Es gilt das gesprochene Wort

Der 9. November ist der deutsche Schicksalstag. 
An diesem Datum verdichtet sich unsere jüngere Geschichte in ihrer Ambivalenz, mit ihren Widersprüchen, ihren Gegensätzen. Das Tragische und das Glück, der vergebliche Versuch und das Gelingen, Freude und Schuld: All das gehört zusammen. Untrennbar. 

Die großen historischen Linien, die sich von diesem Datum aus ziehen lassen, beginnen 1848 – während der deutschen Revolution. Im Morgengrauen des 9. November 1848 wird in Wien Robert Blum standrechtlich erschossen. Unter Missachtung seiner Immunität, die ihn als Abgeordneten der Frankfurter Paulskirche schützen sollte. Die Schüsse galten nicht allein dem Hingerichteten. Sie waren gegen die Revolution gerichtet, gegen den Versuch des Volkes, Einheit und Freiheit der Nation zu erzwingen. 
Robert Blum wurde erschossen aus Angst der Obrigkeit vor der Revolution – er starb für die Freiheit. Für sie riskieren noch immer Menschen in vielen Ländern der Welt ihr Leben. Täglich. Das Schicksal Robert Blums führt uns vor Augen, dass das, was uns längst selbstverständlich scheint, auch in Deutschland erkämpft werden musste.

Seiner Frau hatte er vor der Verhaftung geschrieben, wenn die Revolution scheitere, dann sei „wenigstens für eine Zeitlang Kirchhofsruhe in Deutschland.“ Er behielt recht. 
Die Deutschen und die Revolution: Das ist lange kein inniges Verhältnis. 1848 – 1918 – 1989: Drei Anläufe gab es auf dem verschlungenen Weg zur Demokratie – mit sehr unterschiedlichem Ausgang. Aber alle drei verbindet ein Datum: Der 9. November. 

Was für ein denkwürdiges Datum!

Die Revolution 1848 zeigte bereits vieles von dem, was später das 20. Jahrhundert prägte: Aufbruchseuphorie, Freiheitsdrang und die Sehnsucht nach nationaler Einheit, aber auch Ausgrenzung im Inneren und Abgrenzung nach außen, Hass, Gewalt und staatliche Willkür. Untertanenwut und Bürgermut. Selbst der Ruf „Wir sind das Volk“ entspringt der Revolutions-Dichtung von 1848. Es wurde 1989 in Leipzig, Berlin, Dresden und zahlreichen anderen Städten der DDR die Parole der einzigen gelungenen deutschen Revolution. Friedlich, ohne dass ein Schuss fiel, ohne einen Toten. 
Der Fall der Mauer machte den 9. November 1989 zum glücklichsten Tag der Deutschen – er hat unser Land verändert und damit auch Europa.

Die Häufung historischer Schlüsselereignisse an einem Datum ist zufällig – einerseits. Weder die Revolutionäre 1918 noch die Bürgerbewegung 1989 richteten sich nach dem Kalender. 
Andererseits: 1923 – noch so ein Schlüsselereignis! – marschierten Hitler und Ludendorff nicht zufällig am 9. November auf die Münchner Feldherrnhalle. Dahinter stand Kalkül. Ihr Putschversuch gegen die junge Republik war die gewalttätige Antwort auf die ihnen verhasste Revolution von 1918. Geschichte sollte umgeschrieben werden. Man wusste um die hohe Symbolik des Datums, um die Wirkmacht der Erinnerung.
Der 9. November zeigt deutlicher als andere Daten, was Historiker betonen: Geschichte ist immer auch ein Kampf um die Deutung der Geschichte. 
Auch die Demokratie hat sich ihrer Traditionen stets neu zu vergewissern. Sie datieren in Deutschland nicht erst ins 20. Jahrhundert, sie sind sogar älter als die Revolution von 1848. Wir tun gut daran, sie zu pflegen. Denn Erinnerung gibt Orientierung, schafft Maßstäbe. Und beides brauchen wir – in dieser Zeit schneller Veränderungen mehr denn je. 

Übermorgen erinnern wir in ganz Europa an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. 
2014 hat Alfred Grosser hier im Plenum über die Folgen dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ gesprochen. Sein Vater gehörte als Stabsarzt an der Front zu den patriotischen Deutschen jüdischen Glaubens, die sich nicht hatten vorstellen können, aus der Nation, für die sie ihr Leben riskiert hatten, ausgeschlossen zu werden. Ein fataler Irrglaube, den damals viele teilten – mit furchtbaren Folgen. 
Spätestens am 9. November 1938, als Synagogen in ganz Deutschland brannten, als die Schergen der SA Geschäfte deutscher Juden plünderten und Menschen auf offener Straße angegriffen, gedemütigt, ermordet wurden, spätestens da war der Weg in den Abgrund, auf den sich unser Land begeben hatte, für alle sichtbar. Eine Zäsur. Man musste schon bewusst wegschauen, um die Ausgrenzung der Juden in Deutschland nicht zu sehen.
Auch dafür steht der 9. November: Dass der Firnis der Zivilisation dünn ist!
Dass heute wieder ein lebendiges Judentum in der Mitte unserer Gesellschaft Realität geworden ist, bedeutet deshalb ein Geschenk, das uns ganz besonders verpflichtet. Erst Recht, weil aktuelle Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen zeigen, wie nötig ihr Schutz auch im 21. Jahrhundert noch immer ist.

Meine Damen und Herren,
Albert Einstein gehörte zu den deutschen Juden, die frühzeitig die Gefahr erkannten, unmittelbar mit Scheitern der Weimarer Republik. Ihre Anfänge hatte er mit Hoffnungen begleitet. Auf Unterlagen zu seiner Vorlesung über die Relativitätstheorie notierte er zum 9. November 1918: „Fiel aus wegen Revolution.“ – Weltgeschichte kompakt.
Die Revolution nahm ihren Ausgang an der Küste, wo Matrosen dagegen meuterten, sich weiter in einem sinnlosen Krieg verheizen zu lassen. Ihnen schlossen sich an vielen Orten im Reich Arbeiter und Soldaten an – bis die Revolution am 9. November in der Hauptstadt ankam. Ein Generalstreik legte das öffentliche Leben lahm. Seit dem Morgen strömten die Menschen in die Innenstadt, auch zum Reichstag.
Hier hatten bereits kurz zuvor die Parlamentarier per Gesetz den kaiserlichen Obrigkeitsstaat zur parlamentarischen Monarchie reformiert. Doch auch Reformen dieser Tragweite konnten die Revolution nicht mehr aufhalten. Die Sehnsucht nach Frieden trieb sie an – und den gab es nur ohne den Kaiser. Gedrängt von sich überschlagenden Nachrichten trat der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann ans Fenster und verkündete der ungeduldigen Menge das Ende der Monarchie. Er schloss mit dem Ausruf: „Es lebe die deutsche Republik!“ 
Von dieser spontan gehaltenen Ansprache gibt es verschiedene Fassungen, auch eine erst Jahre später von Scheidemann selbst eingesprochene Tonaufnahme. Der Schauspieler Ulrich Matthes wird gleich den Wortlaut vortragen, der bereits 1919 im Revolutions-Almanach veröffentlicht worden war. Im Urteil der Historiker kommt er den tatsächlich gesprochenen Worten Scheidemanns am nächsten. 

Damals, als die Throne in ganz Europa stürzten, erschien kurzzeitig möglich, was Robert Blum 1848 vor der Paulskirche bereits als Ziel formuliert hatte: Die – so wörtlich – „Verbrüderung des freigewordenen oder freiwerdenden Westens“. Um die Freiheit und den Frieden in Europa zu sichern. 
Es kam anders, und es brauchte Jahrzehnte, um dieses Ziel tatsächlich zu erreichen. Erst 1989 war das nicht mehr nur Verheißung, sondern wurde zur Realität in wirklich ganz Europa. 
Gefährden wir Freiheit und Frieden nicht, niemals wieder – das ist die beständige Mahnung des 9. November, dieses Schicksalstages aller Deutschen. 

Wir hören nun die Worte von Philipp Scheidemann.

Marginalspalte