Besuch

Nikola Röthemeyer

Room No 1 (Wolf), Aus der Serie „A Room of One’s Own“ (work in progress), Graphit und Farbstift auf Papier, 2018

Nikola Röthemeyer (geb. 1972 in Braunschweig) griff auf der Suche ,,nach einem zeitlosen Träger„ für ihre Bildidee auf zwei Ikonen der Kunstgeschichte zurück: Albrechts Dürers Meisterstich ,,Melencolia I“, das als eines der Schlüsselwerke der europäischen Kunstgeschichte gilt, und Lucas Cranachs Gemälde Die Melancholie, das Dürers Bildidee in eine reale Szenerie der Renaissance versetzt. Im Mittelpunkt beider Werke steht eine Frauenfigur, deren Bedeutung seit Jahrhunderten Kunsthistoriker zu Interpretationen reizt. Röthemeyer beschreibt es so: ,,Eine Engelsfigur ist Protagonistin in Dürers rätselhafter Szene. Umgeben von Attributen aus Handwerk und Kunst, Wissenschaft und Forschung, verfügt sie über all das, was Frauen sich erst viele Jahre später erkämpft haben: Macht, Geld, Gerechtigkeit, Bildung und Zeit. Kontemplativ und nachdenklich ist sie Sinnbild des forschenden Geistes, des Denkens, des Zweifelns, der Hoffnung und der Suche. Cranachs Melencolia dagegen ist tatkräftig: Gemeinsam prophezeien sie, was die Frauen einmal bewegen wird: Wissensdurst (Denn Wissen selbst ist Macht, proklamierte 1597 der englische Philosoph Francis Bacon) und Tatendrang (Taten statt Worte war im November 1913 der Ausspruch der britischen Suffragette Emmeline Pankhurst in ihrer Freedom or Death Rede).

Nikola Röthemeyer verknüpfte ihre zeitgenössische Interpretation der Dürer-Cranachschen Frauengestalt mit einer weiteren Bedeutungsebene: ,,Und noch etwas – beide Frauen haben ein eigenes Zimmer. Ein Frauenzimmer. Undenkbar in ihrer Zeit! Und so verwandelt sich der Hund, Begleiter des Melancholikers und Gelehrten in den Bildern Dürers und Cranachs, in ,,Room No 1 (Wolf)„ in eine Wölfin. Der Beistelltisch in Cranachs ,,Die Melancholie“ wird zum Schreibtisch von Virginia Woolf an dem sie 1929 (sie ist, wie ich selbst, 46 Jahre alt) ihren Essay ,,A room of One’s Own„ verfasste, der zu einem der wichtigsten Beiträge der Frauenbewegung wurde. Zwei Bedingungen mussten für Woolf erfüllt sein, damit auch Frauen große Literatur produzieren konnten: fünfhundert Pfund im Jahr (materielle Unabhängigkeit von Ehemännern oder Almosen) und ein eigenes Zimmer (geistige
Unabhängigkeit).

Die Melencolia in ihrem eigenen Zimmer ist Zeugin sich wandelnder Zeiten. Heute verbirgt sich in ihrem Seelengefieder eine weitere, drängende Frage, nämlich die der Rückeroberung der Welt durch die Natur und deren Gleichberechtigung auf diesem Planeten.“

Nikola Röthemeyer war an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee Meisterschülerin in der Zeichenklasse von Nanne Meyer. Sie wurde für ihre Arbeiten und Projekte mehrfach ausgezeichnet und erhielt u.a. den Birkner-Preis für Zeichnung, ein Erasmus-Stipendium für Glasgow, ein DAAD-Stipendium für Buenos Aires und das Artist-in-Residence Stipendium „sommer.frische.kunst“ in Bad Gastein, Österreich. 2017 erhielt sie das Mathilde-Planck-Lehrauftragsstipendium an der Hochschule Pforzheim. Sie lebt und arbeitet in Berlin. (kvo)

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