3. Untersuchungsausschuss

Verfassungsschützer mit Gedächtnislücken

Aktenordner eines NSU-Ausschusses

Der Ausschuss setzt seine Zeugenvernehmungen fort. (© DBT/photothek)

Wie konnte die Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) über mehr als ein Jahrzehnt hinweg unentdeckt rauben und morden, ohne das die deutschen Kriminalbehörden und der Verfassungsschutz etwas davon mitbekamen? Zu den damaligen Fehlern der Behörden befragte der 3. Untersuchungsausschuss (NSU II) unter Leitung von Clemens Binninger (CDU/CSU) am Donnerstag, 19. Januar 2017, zwei ehemalige ranghohe Verfassungsschützer.

Der Zeuge Wolfgang Cremer arbeitete von 1982 bis 2007 für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und leitete dort von 1996 bis 2004 die Abteilung Rechtsextremismus, in einer Zeit also, als sich der NSU formierte und mehr als die Hälfte seiner insgesamt zehn Morde, 15 Raubüberfälle und drei Sprengstoffanschläge beging. Cremer war im Juli 2012 schon einmal vor den ersten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags geladen worden. Er hatte dort eine ausführliche Zeugenaussage gemacht und Versäumnisse seiner Behörde eingeräumt. Seinen damaligen Aussagen habe er allerdings nichts mehr hinzuzufügen, betonte er jetzt vor dem 3. Untersuchungsausschuss.

Dossiers über die Gefahren des Rechtsextremismus

Die Abgeordneten hakten trotzdem nach und fragten Cremer unter anderem nach den Hintergründen eines Dossiers über die Gefahren des Rechtsextremismus in Deutschland, das das BfV im Jahr 2004 herausgegeben hat und in dem als Fallbeispiel auch auf drei flüchtige Bombenbastler aus Jena eingegangen wird - dem heute als NSU bekannten Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. Wie Obmann Armin Schuster (CDU/CSU) ausführte, habe das BfV die Gefahr eines Rechtsterrorismus in Deutschland damals bereits präzise erkannt und beschrieben. Trotzdem sei man letztlich zu dem Fehlurteil gelangt, dass die Voraussetzungen in der rechtsextremen Szene nicht gegeben seien, um einen bewaffneten Kampf aus dem Untergrund zu führen.

Cremer bedauerte das, beteuerte aber auch, das sei der damalige Kenntnisstand gewesen. Er erklärte auch, bei dem Dossier handele es sich um einen allgemeine Bewertung der rechtsextremen Szene von den 1990ern bis 2004. In diesem Rahmen sei das Jenaer Trio nur als eine von mehreren militanten Gruppierungen benannt worden, mit der Besonderheit, dass es dem Trio als einzige bekannte Gruppe gelungen war, erfolgreich abzutauchen. Zu erneuten Bemühungen, das Trio aufzuspüren, habe das Dossier damals nicht geführt, auch weil das Trio seit seinem Untertauchen im Jahr 1998 verschwunden blieb und es Mutmaßungen gab, es habe sich nach Südafrika abgesetzt. Eine Verbindung zu den sogenannten Ceská-Morden und den zahlreichen Raubüberfällen, die heute dem NSU zugerechnet werden, ist laut Cremer damals nicht gezogen worden.

Operation „Drilling“

Unter anderem fragten die Abgeordneten Cremer auch nach der Operation „Drilling“, in deren Rahmen das Landesamt für Verfassungsschutz in Thüringen (LfV) gemeinsam mit dem BfV noch bis 2003 nach Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gesucht hat. Ebenfalls sollte Cremer beantworten, welche Erkenntnisse dem Amt damals über die Verbindungen zwischen dem Jenaer Trio und dem rechtsextremen Netzwerk „Blood & Honour“ vorlagen und ob hier nach möglichen Kontaktpersonen gesucht wurde. Offen blieb auch die Frage, ob das BfV damals versucht hat, seinen damaligen V-Mann „Corelli“ zu nutzen, um das Trio aufzuspüren. Wie man heute weiß, waren Corelli und Uwe Mundlos miteinander bekannt.

Zu all diesen Fragen konnte Cremer, wie er bereits zu Anfang angekündigt hatte, nichts Erhellendes beitragen. „Ich will erinnern, dass das 17 Jahre her ist“, betonte er und verwies ansonsten auf die dem Ausschuss vorliegenden Akten. „Die Akten sind meist präziser als mein Gedächtnis“, sagte er. 

„Piatto war eine gute Quelle“

Dass der Neonazi und einstige V-Mann Carsten Szczepanski alias „Piatto“ eine gute Quelle war, attestierte im Anschluss der ehemalige stellvertretende Leiter des Verfassungsschutzes Brandenburg, Jörg Milbradt. Milbradt, der mittlerweile Rentner ist, war von 1991 bis 2004 für den Verfassungsschutz Brandenburg tätig. Die anhaltende öffentliche Kritik an seinem einstigen Arbeitgeber im Zuge der Enthüllungen um die rechte Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ teilt Milbradt offenkundig nicht.

Den Vorwurf, die Verfassungsschutzbehörden hätten die Gefahren des Rechtsterrorismus in Deutschland verharmlost oder diesen sogar aktiv begünstigt, könne er für seine Behörde nicht gelten lassen. Im Gegenteil habe man in Brandenburg bereits früh Ansätze rechtsterroristischer Strukturen erkannt und sei dagegen vorgegangen, sagte Milbradt.

Auch den umstrittenen V-Mann Piatto alias Szczepanski nahm Milbradt in Schutz. Die Informationen, die Piatto geliefert habe, seien unter anderem Grundlage für mehrere erfolgreiche Verbotsverfahren gegen rechtsextreme Vereinigungen gewesen, so auch gegen den deutschen Ableger des internationalen Neonazi-Netzwerks „Blood & Honour“, an dessen Aufbau Szczepanski selbst beteiligt gewesen sein soll und zu dem auch mutmaßliche Unterstützer des NSU wie der sächsische Neonazi Jan Werner gehörten.

Einer der umtriebigsten Spitzel im rechtsextremen Milieu

Tatsächlich war Szczepanski bis zu seiner Enttarnung im Sommer 2000 einer der umtriebigsten Spitzel im rechtsextremen Milieu. Anfang der 1990er-Jahre war er unter anderem Rädelsführer eines deutschen Ablegers des Ku-Klux-Klans und stieg bald darauf zu einer der einflussreichsten Figuren in der militanten Neonazi-Szene auf – einschließlich bester Kontakte ins Ausland.

Im Februar 1995 wurde er wegen versuchten Mordes an einem nigerianischstämmigen Lehrer zu acht Jahren Haft verurteilt. Das hielt den brandenburgischen Verfassungsschutz jedoch nicht davon ab, Szczepanski aus der Untersuchungshaft heraus als Informanten zu werben und ihn später unter anderem als Funktionär in die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) einzuschleusen.

Binninger: Rote Linie überschritten

Ein Umstand, für den der Vorsitzende Binninger deutliche Kritik fand. Das Anwerben eines Gewalttäters wie Szczepanski überschreite eine rote Linie, sagte Binninger und verwies auf eine entsprechende Gesetzesänderung, die auf Empfehlung des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages angestoßen worden ist.

Danach ist es mittlerweile verboten, verurteilte Straftäter als Informanten zu werben. Milbradt wiederum betonte, seine Behörde sei nicht selbst auf Szczepanski zugegangen, vielmehr habe der sich aus der Haft heraus selbst als Quelle angeboten. Die Rekrutierung Szczepanskis sei zwar ein „offenkundiges moralisches Übel“ gewesen, aus damaliger Sicht jedoch ein notwendiges.

Auftrag kam direkt vom Verfassungsschutz

Wie ebenfalls durch die Untersuchungen im NSU-Komplex bekannt geworden ist, lieferte Szczepanski im Auftrag des Verfassungsschutzes zwischen August und Oktober 1998 auch Informationen über das NSU-Trio, zu einem Zeitpunkt also, als die Gruppe gerade erst untergetaucht war und lange bevor sie ihre ersten Mordanschläge an insgesamt neun türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern und einer Polizistin beging.

Szczepanski berichtete damals von drei sächsischen Skinheads, die auf der Flucht seien und sich nach Südafrika absetzen wollten. Die drei stünden in Kontakt mit Jan Werner, der ihnen Waffen für Überfälle besorgen solle. Der Auftrag für diese Informationsbeschaffung kam, wie Milbradt jetzt vor dem Ausschuss bestätigte, direkt vom Verfassungsschutz.

„Hallo, was ist mit dem Bums?“

In diesem Zusammenhang fragten die Abgeordneten auch nach einer SMS, die Jan Werner am 25. August 1998 an Szczepanskis Diensthandy geschrieben haben soll und in der Werner fragt: „Hallo, was ist mit dem Bums?“ Naheliegend sei, so befand auch Milbradt, dass es dabei um die besagte Waffenbeschaffung ging.

Weitere Hintergründe zu der SMS konnte der Zeuge allerdings nicht liefern. Er bestätigte nur, was vor ihm schon andere Verfassungsschützer ausgesagt haben: Die fragliche SMS habe Szczepanski nie erreicht. Sein Handy sei kurz zuvor abgeschaltet und ausgetauscht worden, weil es bei einer Telefonüberwachung von Werner durch das BKA aufgetaucht war und eine Enttarnung des V-Manns drohte.

„Keinen Einfluss auf die Haftbedingungen genommen“

Milbradt gab ebenfalls an, der Verfassungsschutz habe damals keinerlei Einfluss auf die Haftbedingungen seines V-Manns genommen, sondern einzig finanzielle Zuwendungen geleistet. Die Gefängnisleitung sei über Szczepanskis Tätigkeit als Spitzel informiert gewesen.

Auffällig ist, dass Szczepanski ungewöhnlich früh Freigang bekam und zudem scheinbar unbehelligt aus dem Gefängnis heraus die rechtsextreme Zeitschrift „United Skins“ vertreiben konnte. Der Ausschuss konfrontierte Milbradt außerdem mit dem nicht weiter belegten Vorwurf, Szczepanski habe bereits vor 1994 für eine andere Verfassungsschutzbehörde als Informant gearbeitet. Dafür gebe es keinerlei Indizien, entgegnete der Zeuge. (fza/20.01.2017)

Liste der geladenen Zeugen

  • Wolfgang Cremer
  • Jörg Milbradt

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