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Sarrazin sieht „sehr wichti­ge Rolle Deutschlands“ in den Brexit-Verhand­lungen

Manuel Sarrazin (Bündnis 90/ Die Grünen)

Manuel Sarrazin (Bündnis 90/ Die Grünen) (DBT/Schüring)

Deutschland sollte bei den Brexit-Verhandlungen als Anwalt gerade auch für die kleinen und mittleren Staaten Europas und die Länder im Osten der EU auftreten. Dafür plädiert Manuel Sarrazin, europapolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, in einem am Montag, 3. April 2017, erschienenen Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Er verweist beispielhaft auf die vielen polnischen Arbeitnehmer in Großbritannien, die angesichts des EU-Ausstiegs des Landes um ihre Jobs bangten, aber auch auf Irland, das mit dem Brexit seinen wichtigsten Partner in der EU verliere. „Wenn wir Deutsche mit Brüssel für deren Interessen einstehen und diesen Ländern signalisieren, dass sie nicht alleine kämpfen, kann das zu mehr politischem Vertrauen und einer Stärkung der europäischen Gemeinsamkeiten führen“, sagt Sarrazin. Das Interview im Wortlaut:


Herr Sarrazin, Europäische Union und Großbritannien verhandeln ab jetzt über den Austritt der Briten aus der Gemeinschaft. Mit welchem Ziel sollte die EU in die Gespräche gehen?

Ziel muss es sein, den Zusammenhalt der 27 verbleibenden Mitglieder zu wahren und sich nicht auseinanderdividieren zu lassen. Außerdem muss die EU die europäischen Grundfreiheiten – die Freiheit von Waren, Kapital, Personen und Dienstleistungen – verteidigen. Einen freien Zugang zum Binnenmarkt kann es nur geben, wenn auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit geachtet wird. Die Briten müssen der EU überzeugende Argumente auf den Tisch legen. Nicht die Union muss liefern, sondern das Vereinigte Königreich.

Mit welchem Ausgang rechnen Sie?

Die britische Premierministerin Theresa May betont immer wieder, dass sie keinen Deal einem schlechten Deal vorzieht. Das ist eine sehr harte Ansage. Ein „dirty Brexit“ – also ein unkontrollierter Austritt, wenn EU und Großbritannien sich nicht einigen können – liegt daher durchaus im Bereich des Möglichen.

Für den britischen Außenminister Boris Johnson wäre das „perfectly okay“.

Solche Aussagen sind der Versuch, die eigene Verhandlungsposition zu stärken, doch meiner Ansicht nach laufen sie ins Leere. Tatsache ist, dass ein Scheitern der Verhandlungen kaum im Interesse der Briten liegen kann. Das würde viele Unsicherheiten mit sich bringen und die Wirtschaft schwer beeinträchtigen – die europäische, aber vor allem auch die britische. Johnson und Co. glauben offenbar, dass sie innerhalb kürzester Zeit mit allen relevanten Weltmächten und der EU für sie vorteilhafte Deals aushandeln können. Viel Spaß beim Probieren! Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie früher oder später merken, dass das gemachte Bett der Europäischen Union doch ganz bequem war.

Und dann gibt es den Exit vom Brexit, die reumütige Rückkehr in die EU?

In dem Austrittsschreiben von Frau May steckt viel Glaube und Hoffnung. Sie wiederholt immer wieder diesen Satz: „I believe in Britain“. Die britische Regierung hat sich so sehr auf diese politische Position festgelegt, dass sie die Sinnhaftigkeit kaum noch hinterfragt und es fast unmöglich wird, sie wieder aufzugeben. Dafür müsste erst eine Stunde der Wahrheit Einzug halten in die Politik Londons. Es ist schwer abzuschätzen, wann und ob es diesen Moment je geben wird und welche Konsequenzen das hätte.

Was steht für Deutschland auf dem Spiel?

Großbritannien ist ein wichtiger Absatzmarkt für deutsche Produkte, etwa für die Automobilindustrie. Insofern haben wir natürlich ein Interesse daran, nach dem Austritt ein gutes Handelsabkommen mit den Briten abzuschließen. Aber viel wichtiger als ein deutscher Absatzmarkt ist es, unsere gemeinsamen Interessen in der EU zu verteidigen, zum Beispiel die schon erwähnte Arbeitnehmerfreizügigkeit. Hier kann und sollte Deutschland in den Verhandlungen eine sehr wichtige Rolle spielen, indem es als Anwalt für sich und alle anderen Staaten, gerade auch für die kleinen und mittleren Staaten und die Staaten im Osten der EU, auftritt.

Wie sollte das aussehen?

In Polen zum Beispiel haben viele Menschen Verwandte, die in Großbritannien arbeiten und jetzt in großer Sorge sind um ihre Jobs. Die wissen ganz genau, dass ihre Regierung in Warschau deren Rechte nicht allein verteidigen kann, sondern dass sie dafür Brüssel und auch Berlin brauchen. Hier müssen wir als Europäer zusammenstehen. Ähnliches gilt für die Zusammenarbeit mit den Franzosen und Iren – letztere verlieren mit dem Brexit ihren wichtigsten Partner in der EU. Wenn wir Deutsche mit Brüssel für deren Interessen einstehen und diesen Ländern signalisieren, dass sie nicht alleine kämpfen, kann das zu mehr politischem Vertrauen und einer Stärkung der europäischen Gemeinsamkeiten führen.

Der Brexit als Motor für mehr Integration in Europa?

Der Brexit an sich wird sicher keine Erfolgsgeschichte werden. Und auch wenn die Briten in der Vergangenheit oft ein schwieriger Partner waren und bei Fragen wie Finanzmarktregulierung, Bankenaufsicht und Verteidigung häufig den ganzen Zug aufgehalten haben, bedeutet es nicht, dass mit ihrem Ausscheiden alles einfacher wird. Schließlich haben andere Staaten sich nur allzu oft hinter der britischen Veto-Position versteckt, obwohl sie selbst große Vorbehalte bei bestimmten Themen hatten.

…die Franzosen zum Beispiel.

Ja, die Franzosen, aber auch die niederländische Regierung, die Bundesregierung und viele andere. Es war immer schon zu einfach zu sagen: Die Briten sind blöd. Wir müssen uns schon selbst an die Nase fassen. Ein Beispiel: Wir reden in der EU gerade über Schuldenerleichterungen für Griechenland. Wie schwer es Deutschland fällt, sich allein in dieser Frage mal signifikant zu bewegen! Zur Wahrheit gehört außerdem: Wenn das deutsch-französische Tandem in den vergangenen sieben Jahren funktioniert hätte, wären wir in der EU schon viel weiter – trotz der Briten. Wenn wir also etwas Gutes aus dem Brexit machen wollen, haben wir zu Hause alle noch sehr viel zu tun.

Auf ihrem Treffen in Rom anlässlich des  60. Geburtstages der Römischen Verträge haben die 27 verbleibenden Mitglieder erklärt, künftig an einem Strang ziehen zu wollen. Aber ihre Vorstellungen gehen weit auseinander, nicht mal die Kommission hat sich bisher auf einen klaren Kurs festgelegt. Wie also soll sich die EU in Zukunft organisieren?

Es ist es gut, dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mehrere Szenarien vorgeschlagen hat und die Debatte vorantreibt. Wir Grüne unterstützen Option fünf – also mehr Europa, mehr Integration. Wir brauchen gemeinsame Regeln und Institutionen für die Wirtschafts- und Währungsunion, gemeinsame Sozialstandards und eine enge Zusammenarbeit im Bereich Inneres und Sicherheit. Wir müssen die EU auch finanziell besser ausstatten, damit sie leisten kann, was wir ihr auftragen.

Das sind sehr weitreichende Vorstellungen. Halten Sie diese ihm Moment für mehrheitsfähig?

Derzeit rechne ich nicht mit konkreten, umfangreichen Integrationsschritten. Weder der Brexit, noch die Rom-Erklärung werden dafür das Momentum sein. Für viel entscheidender halte ich die französischen Präsidentschaftswahlen im April und Mai und die Bundestagswahl im September. Von deren Ausgang wird abhängen, wann und wie wir damit beginnen, ernsthaft über die Zukunft der EU zu sprechen.

Die Bundesregierung und andere Staaten bringen derzeit ein Europa der zwei Geschwindigkeiten ins Spiel. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Wir dürfen nicht nach dem Motto verfahren: Die einen ins Kröpfchen, die anderen ins Töpfchen. Die Gemeinschaftsinstitutionen müssen als solche weiter funktionieren und die Einheitlichkeit des europäischen Rechts darf nicht gefährdet werden. Unterschiedliche Geschwindigkeiten machen nur Sinn, wenn sie die Union tatsächlich voranbringen, etwa wenn einzelne Staaten sich im Kampf gegen die Steuerflucht erfolgreich zusammenschließen und andere diesem Beispiel folgen. Diese Überholspuren müssen allen immer offen stehen. Anders sieht es aus im Bereich der Zusammenarbeit von Justiz und Polizei; hier haben die Briten bekanntlich Sonderrechte ausgehandelt. Solche Ausnahmen schaden der Gemeinschaft, so etwas sollte die EU nicht mehr zulassen.

(joh/03.04.2017)

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