Medizinische Zwangsbehandlungen per Gesetz auf das unabdingbare Maß zu beschränken ist offenbar schwierig. Das ergab eine öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses am Mittwoch, 26. April 2017, zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (18/11240) „zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten“.
Obwohl die Sachverständigen diesen Gesetzentwurf im Grundsatz ganz überwiegend begrüßten, zweifelten sie doch an seiner Wirksamkeit. Die stellvertretende Vorsitzende des Betreuungsgerichtstags, Annette Loer, äußerte sogar die Sorge, er könne ungewollt „neue Türen für Zwang öffnen“.
Reaktion auf Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Das Gesetz soll eine vom Bundesverfassungsgericht im Juli 2016 festgestellte Regelungslücke schließen. Es geht dabei, wie die Bundesregierung ausführt, um betreute Personen, „die einer ärztlichen Maßnahme mit natürlichem Willen widersprechen, obgleich sie auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können“, die aber „ohne die medizinisch indizierte Behandlung einen schwerwiegenden gesundheitlichen Schaden erleiden oder sogar versterben“.
Nach geltendem Recht kann der Betreuer eine solche Zwangsbehandlung „nur im Rahmen einer freiheitsentziehenden Unterbringung“, also in einer geschlossenen Anstalt, veranlassen. In den Fällen, in denen der Betreute nicht in der Lage oder willens ist, sich durch Flucht zu entziehen, eine „freiheitsentziehende Unterbringung“ also nicht geboten ist, kann auch die notwendige Behandlung nicht erzwungen werden, führt die Regierung aus. Das Bundesverfassungsgericht habe nun entschieden, „dass diese Schutzlücke mit der grundgesetzlichen Schutzpflicht des Staates unvereinbar ist“. Daher soll nun „die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme von der freiheitsentziehenden Unterbringung entkoppelt“ werden.
Unzureichende Gutachten und zu wenig Zeit
Es gebe aber, wie verschiedene Sachverständige ausführten, viele Zwangsbehandlungen, die auch dem geltenden Recht widersprächen. Unter anderem läge das an unzureichenden Gutachten, auf die Betreuungsrichter ihre Entscheidungen gründeten. Prof. Dr. Volker Lipp von der Universität Göttingen verwies darauf, dass bei körperlichen Erkrankungen die psychiatrischen Gutachter nicht immer qualifiziert seien, die Notwendigkeit einer Zwangsbehandlung zu beurteilen. Das Gesetz müsse für solche Fälle einen zweiten, fachmedizinischen Gutachter verlangen.
Peter Fölsch vom Deutschen Richterbund führte aus, dass einem Richter 104 Minuten Bearbeitungszeit für die Entscheidung über eine Zwangsbehandlung zugestanden werde. Dies sei für eine fundierte Entscheidung viel zu wenig. „In der Praxis“, sagte Antje Welke, Justiziarin der Bundesvereinigung Lebenshilfe, „läuft vieles anders, als es im Gesetz steht“. Sie fürchte, dass das auch bei dem neuen Gesetz so bleibe.
Lob für Vorrang von Patientenverfügungen
Positiv bewertete Welke, wie auch andere Sachverständige, den im Gesetzentwurf vorgesehenen ausdrücklichen Vorrang von Patientenverfügungen, mit dem das Selbstbestimmungsrecht von Betreuten gestärkt werden soll. Der Leiter einer psychiatrischen Klinik in Berlin, Prof. Dr. Andreas Heinz, wies allerdings auf das Problem bei Menschen hin, die in ihrer Patientenverfügung eine Unterbringung in der Psychiatrie ablehnen. Hierzu fehle eine Regelung im Gesetzentwurf.
Die Betreuungsrichterin Annette Loer forderte, auch Behandlungsvereinbarungen in das Gesetz aufzunehmen, und nannte diese „ein gutes Mittel den Willen von Patienten festzustellen. Auch die Vorsitzende des Bundesverbands der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen, Gudrun Schliebener, außerte für ihren Verband diesen Wunsch. Daneben beklagte Schliebener das Fehlen belastbarer Zahlen über das Ausmaß von Zwangsbehandlungen in Deutschland. Sie forderte deshalb die Einrichtung eines bundesweiten Registers zu Zwangsmaßnahmen.
“Nerven, Zeit und Personal„
Chefarzt Dr. Martin Zinkler von der psychiatrischen Klinik in Heidenheim kritisierte als einziger Sachverständiger grundsätzlich den zentralen Inhalt des Gesetzentwurfs, nämlich die Schließung der vom Bundesverfassungsgericht festgestellten “Schutzlücke„. Menschen, die das Krankenhaus nicht verlassen könnten, seien besonders schutzbedürftig, argumentierte Zinkler. “Der Gesetzentwurf schwächt aber deren Schutz„, indem er auch bei ihnen Zwangsbehandlungen zulasse.
In seiner Klinik, berichtete Zinkler, sei seit 2011 nur eine einzige Zwangsbehandlung durchgeführt worden. In allen anderen Fällen hätten die Patienten von notwendigen Behandlungen überzeugt werden können. Um auf Zwang zu verzichten, brauche man aber “Nerven, Zeit und Personal„. Und daran fehle es in der deutschen Psychiatrie weithin.
Ausdrücklicher Vorrang von Patientenverfügungen
Mit dem vorgeschlagenen “Gesetz zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten„ soll daher “die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme von der freiheitsentziehenden Unterbringung entkoppelt„ werden.
Im Übrigen sollen die Voraussetzungen so streng bleiben wie bisher. So soll die richterliche Genehmigung an eine stationäre Unterbringung in geeigneten Einrichtungen gebunden bleiben, eine ambulante Zwangsbehandlung also weiterhin nicht erlaubt sein. Durch einen ausdrücklichen Vorrang von Patientenverfügungen soll zudem das Selbstbestimmungsrechts von Betreuten gestärkt werden. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass das Gesetz drei Jahre nach Inkrafttreten evaluiert wird, unter anderem in Hinblick auf “die Wirksamkeit der Schutzmechanismen„. Die Bundesregierung hat dem Bundestag zudem eine Unterrichtung über die Stellungnahme des Bundesrates vorgelegt. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme einige Detailänderungen an dem Entwurf vorgeschlagen, welche die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung allerdings überwiegend ablehnt. (pst/26.04.2017)
Liste der geladenen Sachverständigen
- Peter Fölsch, Deutscher Richterbund e. V., Richter am Landgericht Lübeck
- Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Heinz, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V., Berlin, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité
- Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Lipp, Ordentlicher Professor für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Medizinrecht und Rechtsvergleichung, Georg-August-Universität Göttingen
- Annette Loer, Betreuungsgerichtstag e. V., Stellvertretende Vorsitzende, Richterin am Amtsgericht Hannover
- Gudrun Schliebener, Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK) e. V., Bonn, Erste Vorsitzende
- Antje Welke, Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., Berlin, Justiziarin und Leiterin der Abteilung “Konzepte und Recht„
- Dr. med. Martin Zinkler, Kliniken Landkreis Heidenheim gGmbH, Klinik für Psychatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Heidenheim, Chefarzt