1. Untersuchungsausschuss

Zeuge Bernhard Kretsch­mer verteidigt Gut­achten zu Anis Amri

Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche steht auf dem Breitscheidplatz in Berlin

Der Untersuchungsausschuss befasst sich mit dem Terroranschlag auf den Breitscheidplatz in Berlin. (picture alliance/dpa)

Vor dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) unter Vorsitz von Armin Schuster (CDU/CSU) hat der ehemalige Sonderermittler der nordrhein-westfälischen Landesregierung Bernhard Kretschmer sein Gutachten zum Fall Anis Amri verteidigt. Trotz der politischen Brisanz des Themas mit Blick auf die bevorstehende Landtagswahl im Mai 2017 habe die damalige rot-grüne Landesspitze keinerlei Vorgaben gemacht oder Erwartungen an das Ergebnis geäußert, sagte Kretschmer in seiner Vernehmung am Donnerstag, 7. Juni 2018. Vielmehr habe die Staatskanzlei immer wieder betont, dass er seiner Tätigkeit völlig frei sei: „Wenn ich Fehler gefunden hätte, wäre das auch in das Gutachten hineingekommen.“

„Große Fehler habe ich nicht aufspüren können“

Die damalige Landesregierung hatte den in Gießen lehrenden Straf- und Europarechtler im Januar 2017 beauftragt, mögliche Behördenversäumnisse im Umgang mit dem Urheber des verheerenden Terroranschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz Anis Amri zu untersuchen. Dieser war in Nordrhein-Westfalen als Asylbewerber gemeldet. 

Ende März legte Kretschmer einen Bericht mit einem weitgehende entlastenden Befund vor: „Große Fehler habe ich in NRW nicht aufspüren können“, sagte er auch vor dem Ausschuss, wo er im Übrigen seine Einschätzung bekräftigte, die für die Sicherheit an Rhein und Ruhr Zuständigen hätten den späteren Attentäter Amri frühzeitig als gefährlich erkannt, sich aber durch Umstände, die außerhalb ihrer Verantwortung lagen, an wirksamen Maßnahme gehindert gesehen.

Informant sollte nicht in Gefahr gebracht werden

So sei bereits im Februar 2016 in der Sicherheitskonferenz in Nordrhein-Westfalen von Amri die Rede gewesen und die Möglichkeit erwogen worden, eine Abschiebungsanordnung nach Paragraf 58a des Aufenthaltsgesetzes gegen ihn zu erlassen. Dies hätte allerdings nur auf Grundlage der Erkenntnisse der „Ermittlungskommission Ventum“ (EK Ventum) des Landeskriminalamtes geschehen können, die das Umfeld des radikalislamischen Predigers Abu Walaa beobachtete. Dort hatte auch Amri Anschluss gefunden, der in der EK Ventum als „Nachrichtenmittler“ geführt wurde. Trotz wiederholter Nachfragen des LKA habe es der zuständige Generalbundesanwalt aber abgelehnt, die Ermittlungsakten freizugeben, um einen wichtigen Informanten, der unter der Chiffre „VP01“ im Kreis um Abu Walaa agierte, nicht in Gefahr zu bringen.

Um Amri loszuwerden, hätten die Zuständige daher auf ein zügiges Asylverfahren gesetzt. Allerdings erhielt Amri erst am 28. April 2016 Gelegenheit, in Dortmund seinen Asylantrag einzureichen. Diese Terminierung, betonte Kretschmer, habe wiederum nicht im Ermessen der nordrhein-westfälischen Behörden gestanden; zuständig gewesen sei das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf).  Amri hatte bei seiner Einreise aus Italien im Juli 2015 ein Asylgesuch gestellt. Dass dann bis zum offiziellen Asylantrag neun Monate verstrichen, sei mit der Überlastung des Bamf durch die damalige Flüchtlingswelle zu erklären.

„Abschiebegewahrsam war keine Option“

Seit dem 11. Juni 2016 war Amris Asylantrag rechtskräftig abgelehnt und der Mann somit ausreisepflichtig. Doch stellten sich die Behörden seines Heimatlandes Tunesien quer. Amri in Abschiebegewahrsam zu nehmen, war nach Kretschmers Worten deswegen keine Option. Eine Inhaftierung war nach damaliger Rechtslage unzulässig, wenn sich eine Abschiebung aus Gründen, die nicht der Ausländer selbst zu vertreten hatte, absehbar über einen Zeitraum von drei Monaten hinaus verzögerte. 

Hätte man Amri nachweisen können, dass er seinen Pass vernichtet hatte, wäre das ein Grund gewesen, den er selbst zu vertreten gehabt hätte. Doch wussten die Behörden nach Kretschmers Worten nicht einmal, ob er bei seiner Ausreise aus Tunesien 2011 überhaupt Ausweisdokumente besessen hatte. Dass die Berliner Polizei im April 2016 ein Telefonat Amris abgehört hatte, aus dem hervorging, dass er bis kurz zuvor noch über einen tunesischen Pass verfügte, war in Nordrhein-Westfalen unbekannt.

Keine reibungslose EU-Kooperation in der Asylpolitik

Eine weitere Zeugin, die Referatsleiterin im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Birgit Gößmann, zeichnete in ihrer Vernehmung ein düsteres Bild der europäischen Kooperation in der Asylpolitik: „Es gibt nirgends eine wirklich reibungslose Zusammenarbeit.“ Die 57-jährige Verwaltungsjuristin koordiniert die Auslandskontakte ihrer Behörde. Mit Anis Amri habe sie ihrer Erinnerung zufolge erstmals unmittelbar nach dem Attentat im Dezember 2016 zu tun gehabt. Damals habe das Bundesinnenministerium sie angewiesen, in Italien nochmals nachzufragen, was dort möglicherweise über Amri bekannt war. Der Tunesier war aus Italien kommend nach Deutschland eingereist.

Ein erstes Auskunftsersuchen der deutschen Seite in Italien war bereits Anfang 2016 im Sande verlaufen. Amri, der unter verschiedenen Alias-Namen unterwegs war, war in den Dateien der italienischen Behörden nicht eindeutig zu identifizieren. Auch die zweite Anfrage Ende 2016 sei erst nach längerer Zeit beantwortet worden, berichtete Gößmann. Die Auskunft habe gelautet, dass Amri in Italien kein Asylverfahren durchlaufen habe. (wid/08.06.2018)

Liste der geladenen Zeugen

  • Prof. Dr. Bernhard Kretschmer
  • Birgit Gößmann, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
  • Sabine Wenningmann, Bundeskriminalamt (BKA)


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