„Ein ganzes Stück weiter“ – Obleute der Fraktionen ziehen Zwischenbilanz
Sie haben nach der konstituierenden Sitzung im März bisher zehnmal nichtöffentlich und sechsmal öffentlich getagt, dabei 24 Sachverständige und sieben Zeugen gehört und gelegentlich auch skurrile Dialoge erlebt. Mit Mohammed Ali D. etwa, einem Kumpel und Geschäftspartner in der Rauschgiftbranche des Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri, der unter anderem die Frage beantworten sollte, worüber er mit Amri so geredet habe. Über Religion? Nein. Über Fußball? Nein. Über Frauen? Nein. Worüber dann? Über alles andere.
Mögliche Fehlleistungen von Bundesbehörden im Blick
Bis zur Sommerpause waren es vier Monate, in denen der 1. Untersuchungsausschuss unter Vorsitz von Armin Schuster (CDU/CSU) seinem Auftrag nachging, zu klären, warum sich der von Amri verübte bislang schwerste radikalislamische Terroranschlag in Deutschland am 19. Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz nicht hat verhindern lassen, und dabei vor allem mögliche Fehlleistungen von Bundesbehörden in den Blick zu nehmen. Hat sich der Aufwand schon gelohnt?
Für den liberalen Obmann Benjamin Strasser ist das spätestens seit der letzten öffentlichen Sitzung vor der Sommerpause keine Frage mehr, als zu vorgerückter Stunde eine Beamtin des Bundeskriminalamts (BKA) berichtete, dass ihre Behörde den späteren Attentäter Amri bereits Ende 2015 auf dem Radar hatte: „Wir wissen jetzt, dass die Netzwerke, in denen Amri sich bewegte, deutlich größer waren, als es uns bisher erschien.“
„Da liegt noch einiges im Dunkeln“
Die Zeugin hatte von einem „Gefahrenabwehr-Vorgang“ namens „Lacrima“ gesprochen, gefolgt von einem Ermittlungsverfahren mit der Tarnbezeichnung „Eisbär“. Es richtete sich gegen sieben Tunesier, die im Oktober 2014 nach Deutschland eingereist waren, um hier einen Anschlag vorzubereiten. Seit Februar 2015 hatte das BKA sie im Blick, im Spätherbst tauchte Amri im Umfeld der Terrorzelle auf, die ihrerseits aus Syrien von dem berüchtigten deutschen IS-Terroristen Denis Cuspert angeleitet wurde: „Bisher wurde ,Lacrima' nicht mit Amri in Verbindung gebracht“, sagt Strasser.
Für bereits jetzt widerlegt hält der FDP-Obmann auch die Behauptung, Amri sei ein „reiner Polizeifall“ gewesen, der keinen Nachrichtendienst interessiert habe. Es gebe Hinweise, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im Umfeld der Moabiter Fussilet-Moschee, wo Amri gelegentlich als Vorbeter auftrat, eine Quelle führte. Die Bundesregierung habe auf entsprechende Anfragen hin zunächst dementiert und später eine Stellungnahme verweigert, was für Strasser einer Bestätigung gleichkommt: „Da liegt noch einiges im Dunkeln.“
„Noch viele lose Enden liegen auf dem Tisch“
Die Enthüllungen über „Lacrima“ und „Eisbär“ hat auch die Obfrau der Grünen Dr. Irene Mihalic als Einschnitt erlebt: „Das war etwas, was ich bisher in der Form noch nicht wusste.“ Es stehe jetzt fest, dass die Identität Amris, der in Deutschland unter etlichen Pseudonymen unterwegs war, bereits „im Dezember 2015 vollständig geklärt“ gewesen sei. Die Italiener hatten ihn im Schengen-Informations-System (SIS) als unerwünschten Ausländer markiert, „auch die tunesischen Sicherheitsbehörden wollten ihn haben“.
Auch die „These der Bundesregierung“, Amri sei ein lediglich polizeibekannter Gefährder gewesen, mit dem sich Landeskriminalämter in Nordrhein-Westfalen und Berlin beschäftigt hätten, aber keine Bundesbehörde, „lässt sich nicht mehr halten“, meint Mihalic. Statt dessen stehe jetzt fest, dass sich das BKA und wohl auch das BfV frühzeitig für den Mann interessiert hätten: „Natürlich liegen da noch ganz viele lose Enden auf dem Tisch“, indes: „Wir sind heute schon ein ganzes Stück weiter.“
Wie war es nur möglich?
Wie war es nur möglich, dass die Behörden diesen Amri zuletzt für nicht unmittelbar gefährlich hielten, obwohl sie doch wissen mussten, was mittlerweile auch dem Ausschuss bekannt ist, dass der Mann damals in gleich zwei parallel laufenden Ermittlungsverfahren wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat eine Rolle spielte, fragt sich Martina Renner, die Obfrau der Linken.
In einer Operation unter dem Decknamen „Ventum“ des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes, die sich gegen den Hildesheimer Terrorprediger Abu Walaa und seinen Kreis richtete, wurde Amri als „Nachrichtenmittler“ geführt; das wusste man bereits. Jetzt liegt die Information auf dem Tisch, dass unabhängig davon zur gleichen Zeit auch das BKA den Mann im Visier hatte.
Verdruss über die Kooperation mit der Bundesregierung
Was Renner in diesem Zusammenhang brennend interessiert, ist die Frage, welcher Beamte im Berliner LKA veranlasst hat, dass Amri seit dem 15. Juni 2016 nicht mehr observiert wurde, obwohl die Maßnahme bis zum Herbst befristet war. Schon der Berliner Sonderbeauftragte Bruno Jost habe den Verantwortlichen vergebens namhaft machen wollen. Renner weist darauf hin, dass die Berliner Polizei im Sommer 2016 alle Kräfte auf die Beobachtung der linken Szene konzentriert habe. Am 22. Juni, genau eine Woche nach Ende der Observierung Amris, kam es zu einem Polizeieinsatz in einem jahrelang umkämpften Haus in der Rigaer Straße. Renner glaubt nicht an Zufall.
Was die Obleute der Opposition eint, ist ein gewisser Verdruss über die Kooperation mit der Bundesregierung, über verspätet oder unvollständig gelieferte oder teilweise geschwärzte Akten. Ebenso ein Dissens mit der Ausschussmehrheit über die Reihenfolge der weiteren Ermittlungen. Die Gegenseite möchte vom Tag der Einreise Amris an strikt chronologisch vorgehen, was Mihalic für einen Versuch hält, den Ausschuss „einzuschläfern“, und Renner mit dem Hinweis kommentiert, es gehe wohl darum, maßgeblichen Verantwortungsträgern den Auftritt vor dem Gremium so lange wie möglich zu ersparen.
„An welchen Schnittstellen wurde falsch abgebogen?“
Von der Sinnhaftigkeit einer chronologischen Vorgehensweise überzeugt gibt sich dagegen Dr. Volker Ullrich, CSU-Abgeordneter und Obmann der Unionsfraktion: „Entscheidend ist, dass wir alles zur Gänze abarbeiten.“ Dabei müsse sich ja nicht jede Zeugenvernehmung Stunden um Stunden in die Länge ziehen. „An welchen Schnittstellen wurde falsch abgebogen?“, diese Frage sei bei chronologischer Betrachtung leichter zu beantworten. Zu überlegen sei etwa, ob es nicht ratsam gewesen wäre, für den offenkundig chancenlosen Asylbewerber Amri schon bei der Einreise tunesische Passersatzpapiere zu beantragen, um die Ausreise zu beschleunigen.
Aus den bisherigen Anhörungen ergeben sich für Ullrich weitere Fragen. Wäre es nicht sinnvoll, die Kompetenzen kleiner lokaler Ausländerbehörden auf einer höheren Ebene zu bündeln, da sich gezeigt habe, dass das zuständige Amt in Kleve mit dem Fall Amri offenkundig überfordert war? Sollte es im Gemeinsamen Terrorabwehr-Zentrum (GTAZ), der „Informationsbörse“ aller Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern, nicht einen Verantwortlichen geben, der dafür sorgt, dass der Informationsfluss nicht im Dienststellengeflecht versickert? Dringend verbesserungsbedürftig sei auch die europäische Kooperation in der Asylpolitik; es bedürfe „zeitnahen und effektiven“ Datenaustauschs und einer „verzahnten Abstimmung“. Die Ausführungen einer Zeugin aus dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) über die defizitäre Zusammenarbeit mit Italien haben Ullrich beeindruckt.
„Der große Aufriss war noch nicht zu erwarten“
Von „kleinen Fortschritten“ spricht SPD-Obmann Dr. Fritz Felgentreu: „Der große Aufriss, der uns neue Schneisen in den Sachverhalt pflügt, war ja auch noch nicht zu erwarten.“ Das wichtigste Anliegen des Ausschusses aus seiner Sicht ist, die Lücken im Behördengeflecht aufzuspüren, durch die Amri schlüpfen konnte.
Gewiss sei die „zum Teil besondere Situation“ des Jahres 2015 in Rechnung zu stellen. Abgesehen davon sei aber bereits deutlich geworden, „dass wir eine Vielzahl von potenziell zuständigen Behörden haben, die aber nicht konkret zuständig“ gewesen seien. „Wenn wir den Horizont der Erkenntnis etwas weiter hinausschieben“ und „zu einer Verbesserung der Sicherheitsarchitektur“ beitragen, werde der Ausschuss seiner Aufgabe gerecht.
„Wir sind kein Strafgericht“
„Wir sind sehr am Anfang“, sagt AfD-Obfrau Beatrix von Storch, die nach eigenen Worten bisher zu viele fruchtlose Endlos-Vernehmungen erlebt hat: „Stundenlange Anhörungsrunden mit dreimal, viermal den gleichen Fragen – effektiv ist das Ganze nicht.“ Dabei sei doch schon klar, dass etwa das Ausländerrecht, wie einer Sachverständigen-Anhörung zu entnehmen war, mittlerweile dermaßen komplex sei, „dass kaum einer mehr richtig durchblickt“, und dass 2015 und 2016 die Behörden so überlastet gewesen seien, dass sie dem späteren Attentäter Amri nicht die gebührende Aufmerksamkeit widmen konnten.
Und Amri, auf den sich jetzt das volle Rampenlicht richte, sei nur ein Fall von viel zu vielen gewesen: „Was wir klären müssen, ist doch, warum die Behörden so überlastet waren.“ Allzu sehr sollte sich der Ausschuss freilich nicht an Details aus der Vergangenheit abarbeiten, meint von Storch : „Wie sind kein Strafgericht. Wir wollen Erkenntnisse, die uns helfen, solche Dinge in Zukunft zu vermeiden.“ (wid/23.07.2018)