1. Untersuchungsausschuss

Zeuge berichtet über Amris Ver­halten in der Flücht­lings­unter­kunft

Breitscheidplatz in Berlin mit Weihnachtsmarkt

Anis Amri verübte das Attentat auf den Weihnachtsmarkt des Breitscheidplatzes in Berlin. (picture-alliance/Christoph Soeder/dpa)

Vor dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) hat ein Asylberechtigter aus Syrien über seine Begegnung mit dem späteren Attentäter Anis Amri in einer Flüchtlingsunterkunft in Emmerich (Niederrhein) berichtet. Sie beide seien am 18. August 2015 gleichzeitig dorthin verlegt worden und hätten etwa einen Monat lang in einem Vierbettzimmer zusammengewohnt, sagte Mohamed J. in seiner Vernehmung unter Vorsitz von Armin Schuster (CDU/CSU) am Donnerstag, 17. Januar 2019. Seinen Zimmergenossen sei Amri bald als radikaler Islamist aufgefallen, dessen Verhalten ihnen dermaßen auf die Nerven ging, dass sie sich beim Heimleiter über ihn beschwerten.

Das Leben eines Einzelgängers geführt

Der heute 26-jährige Zeuge lebt nach wie vor in Emmerich und ist dort nach eigenen Worten bei einem Bauunternehmen beschäftigt. Amri habe er am ersten Tag seines Aufenthalts kennengelernt. Der Tunesier, der in Deutschland unter mehreren Alias-Identitäten unterwegs war und sich in Nordrhein-Westfalen als „Mohammed Hassa“ hatte registrieren lassen, habe sich ihm mit seinem richtigen Namen vorgestellt.

Er sei auch in einer Liste der Heimleitung als „Anis Amri“ geführt worden. In Emmerich habe der spätere Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz das Leben eines Einzelgängers geführt, berichtete der Zeuge. Er habe Stunden in der Moschee beim Gebet verbracht und oftmals allein am Rhein gesessen.

Den Islam nach eigenem Gutdünken interpretiert

Dass mit Amri etwas nicht stimmte, sei schon nach wenigen Tagen aufgefallen. Er habe den religiösen Lebenswandel seiner Mitbewohner zu zensieren versucht, ihnen etwa erklärt, dass es den Geboten des Islams widerspreche, Musik zu hören. Am Jüngsten Tag würden sie dafür von Gott zur Rechenschaft gezogen. 

Er habe sie auch ermahnt, sich von den Deutschen fernzuhalten und behauptet, einem frommen Muslim sei es gestattet, Ungläubige zu bestehlen. Amri habe den Islam nach eigenem Gutdünken interpretiert, sagte der Zeuge und fügte hinzu, er habe solche Leute, die offenbar einer Gehirnwäsche ausgesetzt gewesen sein, schon in Syrien gekannt.

Aufkleber mit IS-Emblem auf der Tasche

Der Zeuge konnte auch feststellen, dass sich auf einer Tasche Amris ein Aufkleber mit dem Emblem des sogenannten Islamischen Staates (IS) befand. Mehrfach habe er ihn beim Videochat auf seinem Mobiltelefon mit IS-Kämpfern ins Syrien beobachtet. 

Es habe sich immer um dieselben vier bis fünf Personen gehandelt. Sie hätten Kalaschnikows bei sich gehabt, langes, verwildertes Haar getragen und einen Dialekt aus dem nordafrikanischen Maghreb gesprochen. Syrer seien sie jedenfalls nicht gewesen.

Mitbewohnern mangelnden Kampfgeist vorgeworfen

Seinen Mitbewohnern warf Amri immer wieder mangelnden Kampfgeist für den Islam vor und fragte sie, was sie als Syrer im Land der Ungläubigen zu suchen hätten. Sie hätten lieber zu Hause in den Dschihad ziehen und ihren „Brüdern zum Sieg verhelfen“ sollen. 

Auf die Gegenfrage, warum er denn selber in Deutschland sei, habe Amri geantwortet, er wolle hier so viel Geld wie möglich an sich bringen, um die Reise zum IS nach Syrien zu finanzieren. Er sei zuvor in Italien gewesen, wo er drei Jahre im Gefängnis gesessen habe. In Italien gebe es auch weniger finanzielle Leistungen für Asylbewerber. Deswegen sei er nach Deutschland gekommen.

Religiöse Erweckung im Gefängnis

In der italienischen Haftanstalt wirkte Amri an einer Gefängnistheatertruppe mit. Seinen Mitbewohnern zeigte er ein Video einer Aufführung. Er habe im Gefängnis in der Begegnung mit strengen Salafisten auch sein religiöses Erweckungserlebnis gehabt, habe Amri berichtet. 

Er habe das „sein Glück im Unglück“ genannt. Er habe hinter Gittern „gute Leute“ kennengelernt, die ihm „den wahren Weg gezeigt“ hätten. 

Ex-Mitarbeiter der Ausländerbehörde im Zeugenstand

Im Anschluss vernahm der Ausschuss einen weiteren ehemaligen Mitarbeiter einer Ausländerbehörde, der eine flüchtige Begegnung mit dem späteren Attentäter Anis Amri hatte. „Soweit ich weiß, habe ich den Anis Amri in der Zentralen Ausländerbehörde in Dortmund registriert nach seiner Selbstauskunft“, sagte der Zeuge Mark Schimanski. Er könne sich an den Mann aber persönlich nicht erinnern. Der heute 46-jährige Verwaltungsangestellte war bis 2016 in der Ausländerbehörde tätig und arbeitet heute im Dortmunder Jugendamt.

Bescheinigung auf den Falschnamen „Mohammed Hassa“

Amri saß am 30. Juli 2015 vor Schimanskis Schreibtisch und erhielt vier Tage später von ihm eine auf den Falschnamen „Mohammed Hassa“ ausgestellte nagelneue „Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender“ (BüMA), obwohl er sich schon mehrfach anderswo in Deutschland, zuletzt im Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso), hatte registrieren lassen. 

In Berlin war er durch das automatische Verteilsystem „Easy“ nach Nordrhein-Westfalen weiterverwiesen worden. Dies alles war dem Verwaltungsangestellten Schimanski aber unbekannt, weil Amri darüber keine Bescheinigungen vorlegte. „Wir sind angewiesen auf die Mitarbeit der Menschen, die zu uns kommen“, sagte der Zeuge.

Keine Fingerabdrücke abgenommen

Fingerabdrücke habe er Amri nicht abgenommen. Eine erkennungsdienstliche Behandlung sei bei der Erstregistrierung von Flüchtlingen damals unüblich gewesen. Es habe in seiner Behörde dafür  auch gar keine Ausrüstung gegeben. 

Er habe standardmäßig lediglich das Ausländerzentralregister (AZR) konsultiert, dort allerdings keinen Treffer erzielt, sowie eine entsprechende eigene Datenbank der Stadt Dortmund, und schließlich mit einer Webcam auf seinem Schreibtisch ein Foto des Asylbewerbers für die Akten angefertigt. Das sei damals die „Standardprozedur“ gewesen.

„Identitätstäuschungen waren schwer festzustellen“

Der Zeuge räumte ein, dass es unter diesen Bedingungen „sehr, sehr schwer“ gewesen sei, Identitätstäuschungen festzustellen. Die Mitarbeiter der Ausländerbehörden hätten sich auf die „Selbstauskunft“ der Asylbewerber verlassen müssen und deren Angaben ungeprüft aus den entsprechenden Fragebögen in den Computer eingegeben. Selbst wenn im einen oder anderen Fall das Ausländerzentralregister ein altes Foto ausgeworfen hätte, wäre es doch nicht einfach gewesen, „das Bild auf dem Rechner mit dem Menschen, der vor einem sitzt, zu vergleichen“.

„System der Erstregistrierung hat sich bewährt“

Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Tuns seien ihm dennoch nie gekommen, betonte der Zeuge. Die allermeisten Asylbewerber hätten nach seinem Eindruck ohne Täuschungsabsicht vor seinem Schreibtisch gesessen. Das System der Erstregistrierung, nach dem er vorging, sei seit jeher nicht anders gehandhabt worden und habe sich bis dahin bewährt. 

Es seien damals nur größere Zahlen zu bewältigen gewesen. Die für 300 Besucher ausgelegte Zentrale Ausländerbehörde der Stadt Dortmund sei „teilweise sehr, sehr voll“ gewesen: „Es konnte passieren, dass über Nacht 1.000 gekommen sind.“

Kein Kontakt zu Sicherheitsbehörden

Als Amri in Dortmund auftauchte, habe der Andrang aber, soweit er sich erinnere, gerade vorübergehend nachgelassen, sagte der Zeuge. Mit Vertretern von Sicherheitsbehörden, die sich für seine Begegnung mit dem späteren Attentäter hätten interessieren können, habe er auch nach dem von Amri verübten Berliner Anschlag keinen Kontakt gehabt. 

Erst die Vorladung als Zeuge durch den Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtages habe ihm bewusst gemacht,  dass er mit dem Mann zu tun hatte. (wid/17.01.2019)


Liste der geladenen Zeugen

  • Mohamed J.
  • Lokman D.
  • Mark Schimanski

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