Saul Friedländer: Ich bin ein Jude, der die Schoah überlebt hat
Viele Identitäten hatte Prof. Dr. Saul Friedländer, Gastredner bei der diesjährigen Gedenkstunde des Bundestages an die Opfer des Nationalsozialismus, im Laufe seines Lebens angenommen, oder vielmehr annehmen müssen – „aber eine blieb durch die Zeit: die eines Juden, der verfolgt war“.
Mit diesen Worten sprach Friedländer am Donnerstag, 31. Januar 2019, zu 78 Jugendlichen bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages, die seit 1997 anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar jährlich stattfindet.
Versteckte Kinder in der NS-Zeit
Gemeinsam mit Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble diskutierte der Historiker und Holocaust-Überlebende mit den jungen Teilnehmern über die in diesem Jahr im Fokus stehenden Schicksale von versteckten Kindern während der NS-Zeit.
Friedländer wurde selbst als Kind in einem katholischen Knabenseminar versteckt und konnte so der Deportation und der Massenvernichtung durch die Nazis entgehen. Seine Eltern wurden beide in Auschwitz ermordet. Friedländers Biografie sei auch der Anstoß für das diesjährige Thema der Jugendbegegnung gewesen, betonte Schäuble zu Beginn der Gesprächsrunde im Paul-Löbe-Haus in Berlin.
Sprechen über den Zivilisationsbruch
Wichtig war es den Jugendlichen im Alter zwischen 17 und 26 Jahren vor allem, Fragen zur individuellen und nationalen Identität, zur Last der Erinnerung, zum kollektiven Schweigen im Deutschland der 1950er- und 1960er-Jahre über den Zivilisationsbruch des Massenmordes sowie zum Verhältnis von persönlicher Erfahrung und Geschichtsschreibung zu diskutieren.
Ganz besonders letzterer Themenschwerpunkt nahm eine zentrale Stellung ein. „Diese Frage beschäftigt mich schon mein ganzes Leben“, betonte Friedländer mit Blick auf seine Doppelrolle als zugleich mit professionellem Abstand forschender Holocaust-Historiker und persönlich Betroffener.
Die Stimmen der Opfer
Der Massenmord an den europäischen Juden sei historisch nicht einfach so zu verarbeiten und aufzuarbeiten. Es sei daher schwierig und wichtig zugleich, „das Los der Opfer und ihre Stimmen“ in die Geschichtsschreibung einzuspeisen, argumentierte er.
Die Analyse der Maschinerie des Tötens sei nur ein Aspekt der historischen Aufarbeitung, die Gefühle der Opfer aber seien ein anderer und gleichermaßen gewichtiger.
Darüber hinaus berichtete Friedländer, wie wichtig es für ihn gewesen war, jemanden zu finden, mit dem er über seine Erfahrungen sprechen konnte. Lange habe er sich dem Thema der Massenvernichtung nicht widmen können, auch habe er den Ort, an dem seine Eltern verhaftet wurden, nicht besucht, obwohl er über eine längere Zeit in der Nähe gelebt hatte. Man könne daran sehen, wie blockiert der Zugang zur eigenen Biografie für ihn gewesen war.
Die Verantwortung des Einzelnen
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mahnte abschließend zu der Verantwortung, die jeder in der Gesellschaft trage. Antisemitismus und anderen Ausformungen von Diskriminierung müsse man mit Zivilcourage entgegentreten – im Einzelfall einzuschreiten, etwa bei Anfeindungen in der S-Bahn, und die Stimme zu erheben, „kann schon ziemlich viel helfen“. (ste/31.01.2019)