Zeuge schildert im Untersuchungsausschuss Amris Extremismus
Ein weiterer Asylberechtigter aus Syrien hat vor dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) über seine Begegnung mit dem späteren Attentäter Anis Amri berichtet. Er habe den Mann auf Anhieb „gar nicht gemocht“, sagte der Zeuge Lokman D. am Donnerstag, 21. Februar 2019, in der Vernehmung unter Vorsitz des Abgeordneten Armin Schuster (CDU/CSU). Der heute 48-jährige ausgebildete Apotheker lebt seit Oktober 2014 in Deutschland, wo er im Januar 2015 aus Bitburg in das Asylbewerberheim an der Tackenweide im nordrhein-westfälischen Emmerich verlegt wurde. Dort traf im August desselben Jahres auch Amri ein. Einen anderen damaligen Mitbewohner des späteren Attentäters hatte der Ausschuss bereits in einer vorherigen Sitzung gehört.
Amri gab sich als Ägypter namens Mohammed aus
Der gebürtige Tunesier Amri habe sich als Ägypter unter den Namen Mohammed vorgestellt, berichtete der Zeuge. Es sei ihm aber anzuhören gewesen, dass er nicht aus Ägypten stammen konnte: „Die Tunesier sagen, dass sie Arabisch reden, aber das ist ein gebrochenes Arabisch.“ Mit seinen syrischen Mitbewohnern habe sich Amri in klassischem Arabisch zu verständigen versucht, „aber das ist nicht gut gelungen“.
Er, der Zeuge, verstehe ohne weiteres ägyptisches Arabisch, aber von 20 tunesischen Wörtern höchstens eines. Ihm sei damals auch aufgefallen, dass viele Flüchtlinge nach Deutschland gekommen seien, die sich zu Unrecht als Syrer ausgegeben hätten.
Videos auf dem Mobiltelefon zeigen Männer mit Waffen
In der Unterkunft habe Amri von vornherein mit seinem autoritärten Auftreten Anstoß erregt, indem er die Bewohner mit religiösen Anweisungen zu maßregeln versucht habe. Drei oder vier Tage nach ihrer ersten Begegnung habe er dem Zeugen auf seinem Mobiltelefon Videos gezeigt, auf denen bärtige und langhaarige Männer mit Waffen zu sehen gewesen seien. Das seien Verwandte und Freunde, die in Syrien für den sogenannten Islamischen Staat (IS) kämpften, habe er dazu erklärt.
Als syrischer Kurde sei er dadurch aufs höchste alarmiert gewesen, sagte der Zeuge: „Ich hasse den extremistischen Islam“, sagte der Zeuge. Er habe auch das Gefühl gehabt, die Behörden warnen zu müssen, denn dieser Amri „war eine extremistische Person und nicht gekommen, um Blumen an die Deutschen zu verteilen“. In Syrien betrachte der IS die Kurden nicht anders als alle Europäer als „Ungläubige“ und „Schweine“, die getötet werden müssten: „Es ist meine Pflicht, diese extremistische Gruppe zu bekämpfen, egal, wo ich bin. Deutschland ist mein Land, und ich muss dieses Land verteidigen.“
Zeuge suchte Ämter und Polizei auf
Zusammen mit drei Mitbewohnern habe er das Sozialamt in Emmerich aufgesucht, um über Amri Meldung zu machen. Drei Tage später seien ihm dort Fotos vorgelegt worden, unter denen er ein Porträt des angeblichen „Mohammed“ identifiziert habe. Weil er den Eindruck hatte, dass das Sozialamt der Sache nicht mit der gebotenen Energie nachging, habe er beschlossen, sich auch an die Ausländerbehörde und die Polizei in Kleve zu wenden. Die Mitbewohner, die ihn noch zum Sozialamt begleitet hatten, hätten diesmal nicht mitkommen wollen, weil sie sich gefürchtet hätten. Die Polizei habe seine Anzeige aufgenommen und sich bedankt, doch habe bis zu dem von Amri verübten Attentat in Berlin im Dezember 2016 keine deutsche Behörde den Kontakt zu ihm gesucht, sagte der Zeuge.
Amri habe höchstens drei Wochen ständig in der Unterkunft gelebt und sei dann verschwunden. Er sei in Emmerich nur noch aufgetaucht, um einmal im Monat beim Sozialamt sein Geld abzuholen. Er, der Zeuge, habe sich nach der ersten Woche mit Amri indes persönlich von dem Mann ferngehalten, weil ihm klar gewesen sei, dass dieser „nichts Gutes im Sinn hatte“.
Berlins LKA-Chef übt Selbstkritik
Der Präsident des Berliner Landeskriminalsamts (LKA) Christian Steiof hat in seiner Vernehmung durch den 1. Untersuchungsausschuss bei den Angehörigen der Opfer des Terroranschlags an der Gedächtniskirche erneut um Verständnis geworben und zugleich scharfe Selbstkritik geübt. Steiof sprach von „fatalen handwerklichen Fehlern“ und „organisierter Verantwortungslosigkeit“. Im Fall des Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri sei „alles schiefgegangen, was schiefgehen kann an Kooperation“. Der heute 53-jährige Kriminalist leitet die Behörde seit Mai 2011.
Der Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 sei die „einschneidendste“ Erfahrung in 35 Jahren seiner Berufslaufbahn gewesen, sagte Steiof. Er trage daran zwar keine Schuld in strafrechtlichem Sinne, jedoch eine „hohe persönliche moralische Mitverantwortung“. Es mache ihn „auch wütend“, in diesem Fall dem „Anspruch, den ich an mich selbst als Kriminalbeamter habe“ ebenso wie seiner Vorstellung, „wie das LKA arbeiten sollte“, nicht gerecht geworden zu sein. Den Angehörigen der Opfer sprach Steiof sein „ehrliches Mitgefühl“ aus sowie „Respekt“ für jene unter ihnen, die bis heute die „Stärke“ aufbrächten, den Anhörungen der einschlägigen Untersuchungsausschüsse beizuwohnen und „es zu ertragen, was gesagt wird“.
Hinweis auf einen angeblichen Attentatsplan
Steiof bestätigte, dass das Berliner LKA erstmals um den 20. November 2015 herum mit Amri indirekt in Berührung kam, als ein Hinweis auf einen angeblichen Attentatsplan einging, in den Bilal ben Ammar, ein enger Freund Amris, verwickelt gewesen sein sollte. Amri selbst sei dem Berliner LKA zu jenem Zeitpunkt noch kein Begriff gewesen. Erst Ende Dezember 2015 und in den Anfangstagen des Folgejahres habe „Anis aus Dortmund“ in der Wahrnehmug schärfere Konturen gewonnen.
Am 12. Januar 2016, berichtete Steiof weiter, sei auf seinem Scheibtisch eine „Führungsinformation“ gelandet, in der von Ben Ammar die Rede gewesen sei, aber auch von Amri. Über diesen habe es unter Berufung auf eine Quelle des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts geheißen, er plane offenbar im Raum Berlin einen gemeinschaftlichen Raub, um Geld zu beschaffen für die Finanzierung eines Terroranschlags oder der Reisekosten von Islamisten, die als Kämpfer nach Syrien ziehen wollten. Am 24. Februar habe er diesen Sachverhalt in der wöchentlichen „Sicherheitslage“ beim Innensenator vorgetragen und am 29. Februar eine weitere Führungsinformation erhalten, „wo Amri eine Rolle spielte“. Danach habe er bis zum Attentat auf dem Breitscheidplatz von dem Mann nie wieder etwas gehört.
Präsident beklagt mangelnde personelle Ausstattung
Üblich sei, die Behördenspitze zu unterrichten, wenn ein wichtiger neuer Fall oder in einem laufenden Vorgang eine neue Entwicklung zu melden sei. Mit Blick auf Amri sei offenbar während des ganzen Jahres 2016 diese Notwendigkeit im Berliner LKA nicht gesehen worden. Dabei hätte es rückblickend betrachtet durchaus Anlass gegeben, ihn zu informieren, als sich im Sommer 2016 Amris zunehmendes Engagement im Drogenhandel abzeichnete, meinte Steiof. Dass dies unterblieben sei, sei einer seiner „Kernkritikpunkte“.
Steiof beklagte die mangelnde personelle Ausstattung seiner Behörde. Seit Jahren stehe die Arbeit im LKA im Zeichen der „Mangelverwaltung“ mit der Folge, „dass man sehr häufig Prioritäten setzt“. Es sei ein „fataler Fehler“ gewesen, dass in den „Zeiten des absoluten Sparens“ in Berlin in den Jahren nach 2000 die Polizei „extrem stark zusammengestrichen“ worden sei. (wid/21.02.2019)
Liste der geladenen Zeugen
- Lokman D.
- Dieter Hackfurth, Oberstaatsanwalt, Staatsanwaltschaft Kleve
- Christian Steiof, Leiter des Landeskriminalamtes Berlin