1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: Marokkaner wiesen auf ver­däch­tige Aktivi­täten Amris hin

Zeugen warten auf den Beginn der öffentlichen Sitzung des Amri-Untersuchungsausschusses des Bundestags im Paul-Löbe-Haus.

Der marokkanische Inlandsgeheimdienst DGST hat im Herbst 2016 in einem Zeitraum von vier Wochen viermal auf verdächtige Aktivitäten des späteren Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri hingewiesen. Dies berichtete der zuständige Verbindungsbeamte des Bundeskriminalamtes (BKA) in Rabat am Donnerstag, 21. März 2019, dem 1. Untersuchungsausschuss  („Breitscheidplatz“) unter Vorsitz von Armin Schuster (CDU/CSU). Der heute 47-jährige Robin O'Debie vertritt seine Behörde seit Anfang 2015 in Marokko und Mauretanien. Zuvor war er kurzzeitig im Libanon, in Tunesien und Algerien tätig gewesen. Die Mitteilungen über Amri seien zeitgleich auch dem Residenten des Bundesnachrichtendienstes (BND) in Rabat zugeleitet worden, sagte der Zeuge.

„Islamonaut“ Amri

Der erste Hinweis sei am 20. September, der letzte am 17. Oktober 2016 eingegangen. Die Marokkaner hätten von Amri als von einem „Islamonauten“ gesprochen, was in ihrer Terminologie die Bezeichnung für einen Islamfanatiker sei, der durch Aktivitäten im Internet auffällig werde.

Die mitgelieferten Bilder Amris seien erkennbar dessen Facebook-Profil entnommen worden. Ihrerseits habe die marokkanische Seite sich nach Telefonnummern und Kontaktpersonen Amris in Deutschland erkundigt. Die Abteilung Staatsschutz beim BKA habe auf diese Fragen hin allerdings nur bestätigen können, dass ihr die Person Amri bekannt sei.

Lob für marokkanische Sicherheitsbehörden

O'Debie rühmte die Zusammenarbeit mit den marokkanischen Sicherheitsbehörden als „sehr gut“, sogar „herausragend“ und vertrauensvoll. Fragen würden in kürzestmöglicher Frist beantwortet, wobei die Marokkaner „immer sehr werthaltige Informationen“ lieferten. Auch über Amri seien sie zum Teil recht genau unterrichtet gewesen. So hätten sie gewusst, dass der gebürtige Tunesier vor seiner Einreise nach Deutschland vier Jahre lang in Italien im Gefängnis gesessen hatte.

Die Mitteilung, dass Amri in nächster Zeit in Deutschland möglicherweise irgendetwas im Schilde führe, sei allerdings wohl nicht konkret genug gewesen, um im BKA gleich alle Alarmglocken schrillen zu lassen. Im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) der deutschen Sicherheitsbehörden kamen die Warnungen aus Marokko am 2. November 2016 zur Sprache. Verabredet wurde, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die Plausibilität der Hinweise überprüfen sollte. Dies geschah zunächst durch eine Anfrage bei einem US-Nachrichtendienst, die freilich unbeantwortet blieb.

110 „operative Vorgänge“ auf dem Schreibtisch

Auf seinem Schreibtisch seien im Laufe des Jahres 2016 rund 110 „operative Vorgänge“ gelandet, von denen etwa 30 im Zusammenhang mit Hinweisen auf radikalislamische Aktivitäten gestanden hätten, berichtete der Zeuge. Unter diesen seien die vier Mitteilungen der DGST zum Fall Amri in keiner Weise „außergewöhnlich“ gewesen. Etwa zwei bis drei Tage nach Eingang der letzten beiden Hinweise am 17. Oktober habe er seine marokkanischen Ansprechpartner zu einer Unterredung aufgesucht, in der es unter anderem um die Frage gegangen sei, woher sie ihre Informationen über Amri hatten. In der Regel sei es so gewesen, dass die marokkanischen Dienste auf der Suche nach Islamisten das Internet, insbesondere Facebook, „detailliert“ ausgewertet hätten.

Seine eigene Rolle in Rabat beschrieb O'Debie als die eines „Briefboten“ beim Informationsaustausch deutscher und marokkanischer Sicherheitsbehörden. Er habe in gut vier Jahren rund 500 „operative“ und 250 „Grundsatzvorgänge“ bearbeitet. Diese beträfen die deutsche Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe für die marokkanische Polizei, mit der er ebenfalls befasst sei.

Zeuge berichtet über Bewertung Amris durch BKA

Das Bundeskriminalamt (BKA) hat im Februar 2016 drei „explizite Gefährdungsbewertungen“ zur Person des späteren Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri abgegeben und dabei die Bedrohungsprognose geringfügig nach oben korrigiert. Dies berichtete der damals zuständige Kriminaldirektor Martin Kurzhals im weiteren Verlauf der Vernehmung im Untersuchungsausschuss. Der heute 47-jährige Referatsleiter im BKA vertrat von 2014 bis Mitte 2018 seine Behörde im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) der deutschen Polizeien und Nachrichtendienste. Er moderierte in dieser Funktion zwischen Anfang Februar und Juni 2016 sechs Besprechungen, in denen der Fall Amris erörtert wurde.

Der gebürtige Tunesier kam erstmals am 4. Februar 2016 im GTAZ zur Sprache. Damals war die Rede von Anschlägen mit Schnellfeuerwaffen, die Amri angeblich plante. Entsprechende Erkenntnisse, die das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt (LKA) durch einen Informanten gewonnen hatte, hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz am 26. Januar ohne Nennung der Quelle in einem „Behördenzeugnis“ für die Berliner Polizei verarbeitet. Der Februar 2016 sei in seiner Erinnerung ein Wendemoment in der Bewertung Amris durch deutsche Sicherheitsbehörden gewesen, sagte Kurzhals: „Im Februar 2016 war Amri am nächsten an einer Anschlagsvorbereitung. Nach Februar war die Brisanz der Lage ein Stück weit abgeebbt.“ So sei es zumindest erschienen.

Anis Amri im polizeilichen Prognosemodell

In der ersten seiner drei Gefährdungsbewertungen setzte das BKA Amri damals auf Rang sieben in einem achtstufigen polizeilichen Prognosemodell. Das bedeutete, dass ein unmittelbar bevorstehender, durch ihn verursachter Schadensfall „eher auszuschließen“ war. In der zweiten Bewertung stieg Amri in die Stufe fünf auf, womit ein von ihm ausgehender Schaden als „eher unwahrscheinlich“ galt. Bei dieser Beurteilung blieb das BKA auch in seinem dritten Amri-Gutachten.

Auf Stufe eins der Skala ist mit dem Eintritt eines Schadensereignisses „zu rechnen“, auf Stufe zwei „mit hoher Wahrscheinlichkeit zu rechnen“, auf Stufe acht ist er „auszuschließen“. Als Beispiel für einen Gefährder der Stufe zwei nannte Kurzhals den syrischen Flüchtling Dschaber al-Bakr, der unmittelbar vor der Ausführung seines geplanten Sprengstoffanschlags auf den Berliner Flughafen stand, als er im Oktober 2016 in Chemnitz festgenommen wurde. Amris Höherstufung auf Rang fünf habe durchaus bedeutet, dass er als Gefährder „ernstzunehmen“ gewesen sei, betonte der Zeuge.

Welle des radikalislamischen Terrorismus

Das Behördenzeugnis über Amri habe der Verfassungsschutz auf Bitten des nordrhein-westfälische LKA gefertigt, um dessen V-Mann in der Islamistenszene vor den Kollegen des Berliner LKA zu verschleiern, sagte Kurzhals. Dieser Sachverhalt sei aber damals schon kein Geheimnis gewesen. Er selbst habe bei der Vorbereitung der GTAZ-Besprechung am 4. Februar im Vertrauen davon erfahren.

Kurzhals erinnerte an die Zeitumstände des Jahres 2016, das von einer verschiedene Länder erfassenden Welle des radikalislamischen Terrorismus geprägt gewesen sei. Im Januar ereignete sich der Anschlag auf Touristen in Istanbul, in März fanden die Attentate in Brüssel statt, im Juli kam es zum ersten Massenmord mit einem Schwerlaster in Nizza. Deutschland erlebte im Januar eine Messerattacke auf dem Hannoveraner Bahnhof, im April den Anschlag auf einen Sikh-Tempel, im Juli einen Axtüberfall in einem Nahverkehrszug und einen Sprengstoffanschlag in Ansbach, schließlich im Dezember das Attentat Amris in Berlin. (wid/21.03.2019)

Liste der geladenen Zeugen

  • Z., Kriminalhauptkommissar, nordrhein-westfälisches Landeskriminalamt
  • Martin Kurzhals, Kriminaldirektor, Bundeskriminalamt
  • Robin O. Debie, Bundeskriminalamt

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