Parlament

Schäuble zur Wahl­rechts­re­form: Müs­sen es in die­ser Wahl­pe­rio­de schaf­fen

Zwei Männer und eine jüngere Frau sitzen am Tisch und blicken seitlich in die Kamera.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Bundesverfassungsrichter Professor Andreas Paulus, Professorin Sophie Schönberger zum Auftakt der Kurztagung (DBT/Melde)

Mit dem derzeitigen Bundeswahlrecht kann es so nicht weitergehen. Darin waren sich sämtliche Redner des Eröffnungspanels einer Kurztagung der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission am Freitag, 17. Mai 2019, im Deutschen Bundestag einig, die Prof. Dr. Andreas Paulus, Richter des Bundesverfassungsgerichts, moderierte. Das Optimum wäre, zur nächsten Bundestagswahl mit einem runderneuerten Bundeswahlgesetz anzutreten, so der Tenor in den Beiträgen. Nötig wären aber mindestens Schritte, die die wesentlichen Schwachstellen des bestehenden Wahlrechts beseitigen.

Mitglieder der Juristenkommission, Richter, Wissenschaftler, Politiker aus Bund und Land, aus Parlament und Regierung, Angehörige der Verwaltung, aus dem In- und Ausland präsentierten und diskutierten dazu einen Tag lang alternative Entwürfe zum geltenden Recht, ihre Vor- und Nachteile – und vor allem: die politische Umsetzbarkeit der Neuerungen.

„Irgendwann wird es unübersichtlich“

Bereits seit mehreren Jahren wird um eine Novellierung des Wahlrechts gestritten, das Bundesverfassungsgericht fordert Änderungen, die Wahlrechtsreform ist nicht nur Gegenstand juristischer Diskussion, sondern auch Schauplatz politischer Auseinandersetzungen. Zahlreiche Vorschläge liegen auf dem Tisch. Eine fraktionsübergreifende Arbeitsgruppe des Bundestages hatte ihre Beratungen im April ergebnislos dieses Jahres abgebrochen. Die Größe des aktuellen Bundestages, der in der aktuellen Wahlperiode 709 Abgeordnete umfasst, droht bereits die Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu beeinträchtigen, so die herrschende Meinung der Experten.

Der Bundestag sei das im Verhältnis zur Bevölkerungszahl größte demokratische Parlament der Welt, sagte Andreas Paulus. Regulär sollen dem Bundestag lediglich 598 Abgeordnete angehören. Eine Reform und Verkleinerung sei nicht allein aus rechtlichen Gründen nötig, und nicht nur, weil es sich beim Bundestag um ein Arbeitsparlament handele. Die Bürger müssten sich auch in dem Verfassungsorgan wiederfinden, das sie repräsentieren solle. „Aber irgendwann wird es unübersichtlich“, so Paulus.

Szenarien eines aufgeblähten Parlaments

„Wie man aus der Situation herauskommt“, das wollten Verfassungsrichter Paulus und seine Kolleginnen und Kollegen zunächst von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble wissen, der die Eingangsdebatte um Einblicke in die seit einem Jahr tagende Arbeitsgruppe des Bundestages zur Wahlrechtsreform und in die politische Praxis in der Verfassungswirklichkeit bereicherte.

Die unter seiner Leitung tagende Arbeitsgruppe habe den Auftrag gehabt, innerhalb des geltenden Systems nach Lösungen zu suchen, erklärte Schäuble und wies auf die Komplexität des deutschen Wahlrechts und die daraus resultierende Aufblähung des Parlaments hin. Je nach Szenario könne der Bundestag noch weitaus mehr, möglicherweise an die eintausend, ja theoretisch Tausende an Mitgliedern umfassen. Die Arbeitsfähigkeit des Hauses wäre komplett dahin.

Schäubles Kompromissvorschlag

Schäuble plädierte in einem Kompromissvorschlag dafür, die Zahl der Wahlkreise von derzeit 299 auf 270 zu reduzieren und die ersten 15 sogenannten Überhangmandate nicht mehr auszugleichen. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreise direkt gewinnt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis an Sitzen zusteht. Der Bundestag sei aber nicht nur unter Handlungsdruck, weil seine Arbeitsfähigkeit mit zunehmender Größe nachlasse oder das Verfassungsgericht Änderungen anmahne. Parlamentarismus und Demokratie insgesamt seien unter Druck und unter Zugzwang gegenüber einer sehr kritischen Öffentlichkeit, verbreitetem Populismus und autoritären Gegenmodellen.

Leider stecke man in der Komplexität des Wahlrechts, in eingefahrenen Gewohnheiten und in parteipolitischen Problemen fest. Falls nichts geschehe oder es zu Fehlentscheidungen komme, „kann es uns passieren, dass wir der Demokratie einen weiteren Sargnagel schlagen.“ Für das Parlament sei es „unerträglich, dass wir das Problem nicht lösen können“, sagte Schäuble. „Wir müssen es in dieser Wahlperiode schaffen.“

„Das Wahlrecht ist in der Krise“

„Das Wahlrecht ist in der Krise und bedarf der Reform“, mahnte auch Prof. Dr. Sophie Schönberger von der Universität Düsseldorf, in ihrem Vortrag. Das geltende Wahlsystem könne nicht verhindern, dass die Arbeitsfähigkeit des Parlaments durch eine zu hohe Zahl von Mitgliedern beeinträchtigt werde, so die Wissenschaftlerin. In einem von ihr berechneten extrem hypothetischen Szenario hätte der Bundestag 5.980 Mitglieder. In einer wahrscheinlicheren Variante komme man immerhin auf knapp tausend Mandate.

Schönberger skizzierte einen Reformvorschlag, mit dem der Bundestag tatsächlich immer eine feste Größe von 598 Abgeordneten hätte. „Die offensichtliche Dysfunktionalität des bestehenden Wahlrechts zwingt nun zum Handeln“, sagte die Wissenschaftlerin und forderte ein „Ende des Herumbastelns“ und mehr Beständigkeit. Sämtliche  Stellschrauben des deutschen Wahlrechts kamen bei der Expertentagung auf den Prüfstand: von dem System aus Erst- und Zweitstimme, über Zahl und Zuschnitt der Wahlkreise, bis hin zum Stellenwert des Föderalismus und der Landeslisten bei Bundestagswahlen. Zudem warfen die Teilnehmer noch einen Blick ins benachbarte Ausland, nach Österreich und Frankreich. Weitere Themen der Tagung waren das aktuelle Europawahlrecht und das neue Brandenburger Paritätsgesetz. (ll/17.05.2019)

Marginalspalte