Kinderkommission

Experten: Mehr struk­turelle Ver­netz­ung für die Kinder

Eine Babyhand greift nach den Fingern seiner Mutter

Die Kinderkommission befasste sich mit dem Thema „Ein guter Start ins Leben“. (picture alliance / empics)

Eine stärkere Vernetzung zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Kindermedizin wünschten sich drei Sachverständige in einem öffentlichen Expertengespräch der Kinderkommission des Bundestages (Kiko). Mit Blick auf den Titel des Gesprächs „Postnatales Kindeswohl III: Soziale und medizinische Versorgung in ,schwierigen Fällen'“ sei es dringend erforderlich den gesundheitlichen mit dem sozialen Sektor stärker kurzzuschließen – darin waren sich die geladenen Spezialisten einig.

Die Sitzung, die am Mittwoch, 5. Juni 2019, unter dem Vorsitz von Susann Rüthrich (SPD) stattfand, war zugleich die letzte rund um den Themenkomplex „Ein guter Start ins Leben“, der das sechsköpfige Gremium seit Beginn des Jahres beschäftigt hatte.

20 Prozent Schrei-Babys

Mit dem Hinweis darauf, dass Schwangerschaft und Geburt bereits große Auswirkungen auf das spätere Leben haben könnten, nannte Paula Diederichs von der SchreiBabyAmbulanz Berlin Zahlen zu postnatalen Störungs- und Krankheitsbildern bei Eltern und Kindern. So seien laut Deutscher Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie 20 Prozent der Neugeborenen sogenannte Schrei-Babys, also solche, die überdurchschnittlich viel und oft schreien. 45 Prozent der betroffenen Eltern wünschten sich laut einer Umfrage eine bessere Unterstützung seitens des Staates. Und bei 30 Prozent aller Mütter könne man einen deutlichen Abfall des eigenen Wohlbefindens feststellen.

Es gebe einen „eklatanten Versorgungsrückstand“ im Hinblick auf die Schrei-Babys, mahnte Diedrichs an. Und das wiederum berge Risiken, sowohl gesundheitlicher als auch gesellschaftlicher Natur. Übermäßiges Schreien könne bei manchen Eltern zu Aggressionen und Bindungsängsten führen. Bei Kindern ließen sich im Extremfall spätere Stressregulationsstörungen und ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) feststellen. Zugleich sinke bei Eltern häufig die Lust auf ein zweites Kind. Wünschenswert wäre deshalb eine „gute psychosoziale Versorgung ab der Schwangerschaft“ und ein verstärkter interdisziplinärer Austausch von Kinderärzten und Sozialarbeitern in der Frühen Hilfe.

„Schütteln ist lebensgefährlich“

Dem stimmte Oliver Berthold, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Kinderschutzmediziner, zu und verwies auf das Projekt der medizinischen Kinderschutzhotline. Bei dieser Beratungsstelle würde gewissermaßen eine „Übersetzungsleistung zwischen Medizin und Jugenhilfe“ angeboten werden. In Fällen, in denen gebotene Hilfe für Kinder ausblieb, lag es immer an der fehlenden Schnittstelle zwischen der sozialen und der medizinischen Versorgung, so der Kindermediziner.

Ein virulentes Thema sei in diesem Zusammenhang das misshandlungsbedingte Kopftrauma oder auch Schütteltrauma, das Schäden am Hirngewebe hinterlassen kann. Dass Eltern ihre Kinder zu heftig schütteln, liegt nach Ansicht des Mediziners auch daran, dass zu wenig Aufklärung geschehe. Auffällig sei auch, dass Aufklärungsangebote nur elf Prozent der Männer erreichen, diese aber wiederum jene Gruppe bilden, die die Kinder zu 58 Prozent potenziell zu stark schütteln. Insgesamt belaufe sich die Zahl der Kinder mit Schütteltrauma im Jahr auf 110. Es sei aber davon auszugehen, dass 23.200 Kinder potenziell gefährdet sind. Wichtig sei es deshalb, flächendeckende Aufklärungskampagnen zu starten und Jugendliche bereits im Schulalter zu sensibilisieren. Denn: „Schütteln ist lebensgefährlich.“ 

„Es ist immer die Familie, die krank ist“

Die Jugendhilfe sei ein „wichtiger Part, um schwierige Fälle zu managen“, sagte Dr. med. Bernhard Hoch, Experte für Kinder- und Jugendreha. Kinderärzte hätten oft kaum Zeit, betroffene Eltern durch die Angebote auf dem Gebiet der Frühen Hilfe und dem sozialen Sektor zu führen. Obgleich Angebote der Frühen Hilfe bestünden, sei das System für viele zu komplex. Oft wüssten Eltern nicht, welche Anlaufstelle für welches Problem die richtige ist. Darüber hinaus fehle es an Angeboten, bei denen Kinder und Eltern gemeinsam behandelt würden. Das sei ein Problem, denn „es ist immer die Familie, die krank ist. Psychisch kranke Kinder führen zu psychisch kranken Eltern und umgekehrt“, sagte Hoch.

Seit 2017 sei es zwar möglich, dass alle Kinder mit chronischen Erkrankungen einen Anspruch auf Reha hätten, in Kinder- und Jugendpsychiatrien sei die Lage allerdings teilweise noch sehr dramatisch. Oft müssten Eltern mehrere Monate auf die Behandlung ihrer Kinder warten, was in diesem Alter eine lange Zeit sei. Entscheidend sei deshalb die Frage, wer Eltern durch das Dickicht des sozial-gesundheitlichen Systems führt. Eine Möglichkeit könnten nach Ansicht Hochs sogenannte Fallklärer sein, die auf diese Aufgabe spezialisiert sind und flächendeckend in das System integriert werden. Wichtig sei es aber auch, bereits im Studium – sei es in sozialen oder medizinischen Studiengängen – die strukturellen Gegebenheiten in Bezug auf Frühe Hilfe zu vermitteln. (ste/05.06.2019)   

Liste der geladenen Sachverständigen

  • Oliver Berthold, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderschutzmediziner (DGKiM)
  • Paula Diederichs, SchreiBabyAmbulanz Berlin, Krisenintervention und Frühe Hilfen, Präsidentin International Society for Pre- und Perinatal Psychology and Medicine (isppm e. V.), Sozialpädagogin und Lehrtätigkeit für Hebammenwissenschaft an der Charité)
  • Dr. med. Bernhard Hoch, Medizinischer Direktor der Katholischen Jugendfürsorge der Diözese Augsburg e. V., Experte für Kinder- und Jugendreha

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