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Bericht von Zbigniew Anthony Kruszewski am 1. September 2019 auf dem Askanischen Platz in Berlin

Sehr geehrte Frau Sejmmarschallin,

sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,

sehr geehrte Gäste,

liebe Freunde!

Zunächst möchte ich den Veranstaltern dafür danken, dass sie eine Gedenkzeremonie zu Ehren der Opfer des deutschen Überfalls und der Opfer des Zweiten Weltkriegs in Polen –  hier in der Hauptstadt Deutschlands – organisiert haben.

Gleichzeitig möchte ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie mich, einen Teilnehmer dieses Krieges und des Warschauer Aufstands 1944, und ein Opfer durch  Verlust meiner Heimat, meiner Familie und meiner Nächsten, eingeladen haben. Meine Erklärung wird daher persönlich sein – aus der Sicht des Opfers und Zeugen der größten Tragödie in der Geschichte Polens, das Millionen seiner Bürger, darunter die Mehrheit der jüdischen Bürger, verloren hat. Jeder fünfte polnische Bürger wurde in der Tragödie getötet oder ermordet. Er starb oder wurde durch die Hände der Deutschen und der Sowjets ermordet.

Ich selbst wurde auf wundersame Weise gerettet. Als 16-jähriger Soldat kämpfte ich 1944 nach fünf Jahren deutscher Besatzung – bereits mit einer Waffe in der Hand – zwei Monate lang im Warschauer Aufstand bis zur Kapitulation. Ich erlebte den diesjährigen 75. Jahrestag des Aufstands, ich überlebte, aber zu welchem Preis?! In Ravensbrück verlor ich meine Mutter – sie wurde ermordet, weil sie gegen die deutschen Entscheidungen zur Trennung von Familien nach dem Aufstand protestierte. Ich verlor meine Großmutter – Zofia Dudzińska Kruszewska – lebendig verbrannt im Bezirk Wola, wo die Einheiten von Heinz Reinefarth in der ersten Woche nach Ausbruch des Aufstands etwa 50.000 Einwohner, hauptsächlich Frauen und Kinder, ermordeten. Er, der für dieses Verbrechen verantwortlich war, wurde nach dem Krieg zum Mitglied des Schleswig-Holsteinischen Landtages und war viele Jahre lang Bürgermeister auf Sylt und starb in Ehren im hohen Lebensalter.

Die Liste der Kriegsverluste meiner Familie beginnt symbolisch am ersten Tag des Krieges, in Wieluń, einer kleinen Stadt ohne militärische Bedeutung, die am 1. September von der Luftwaffe zerstört wurde. Mein Onkel Zygmunt Grabowski kam am 31. August auf dem Weg von Gdynia nach Kattowitz in Wieluń an, wo er eine Stelle in einer Bank antreten sollte. Der Luftangriff zerstörte sein ganzes Eigentum in einem Möbelwagen. Die um ihr Leben fliehende Familie wurde von einem Luftwaffen-Flieger mit einem Maschinengewehr beschossen, ein Schuss zertrümmerte den Ellbogen meiner Tante. Dies ist mein persönlicher, familiärer Beginn des großen Terrors, den die Deutschen gegen polnische und jüdische Zivilisten entfesselt haben.

Für mich persönlich begann dieser Schrecken vor 80 Jahren, am 1. September 1939 in Warschau, als meine Mutter, Lehrerin und Witwe, mich am Morgen in einen nahegelegenen Laden schickte, Brot und Milch zu kaufen. Ich kam aufgeregt zurück und schrie am Eingang: „Mama, Mama!!! Unsere Luftwaffe übt wieder über Warschau!“ Aber das waren „Stuka“-Flugzeuge, die meine Heimatstadt bombardierten... Mit meiner Mutter und meinem Bruder hörte ich die Rede des Präsidenten der Republik Polen, Ignacy Mościcki, über den Angriff des „ewigen deutschen Feindes“ und die Notwendigkeit, sich bis zum Sieg zu verteidigen. So begann für mich der Zweite Weltkrieg... Die ganze Zeit der Belagerung Warschaus, bis zum 27. September 1939, diente ich in Warschau als Feuermelder...

Fast sofort am Tag der Kapitulation Warschaus begann der Widerstand – die ersten Untergrundstrukturen der Armee wurden geschaffen – der spätere „Verband des Bewaffneten Kampfes – die Heimatarmee“, kurz darauf die zivilen Strukturen des polnischen Untergrundstaates. Und die Massenmorde an Zivilisten, die von der Wehrmacht und den Einsatzgruppen in den ersten Kriegstagen verübt wurden, führten zu einer reflexartigen Reaktion nach Widerstand und Vergeltung der Polen. Für den Tod eines Deutschen oder eines polnischen Verräters wurden 100 zufällig ausgewählte Polen, darunter Frauen und Kinder, hingerichtet. Zum Beispiel – Passagiere der Straßenbahn, die angehalten wurde. Sie wurden methodisch gezählt: ...97, ...98, ...99, ...100. Einmal war ich in einer Gruppe solcher Geiseln und überlebte nur, weil ich der Einhundertvierte war... Meine zukünftige Frau, damals ein Mädchen, sprach mal zu ihrer Mutter: „Schau, Mama! Hier ist so viel rote Farbe vergossen worden!“, aber das war das Blut der Opfer einer kurz zuvor an der Straßenbahnhaltestelle durchgeführten Hinrichtung.

Der Hass und der Wunsch nach Vergeltung wuchsen. Die Heimatarmee hatte im Jahr 1943 über 300.000 Soldaten in ihren Reihen. Wir waren die größte Untergrundarmee Europas. Ich sage „wir“, weil ich dann, ab April bereits Soldat dieser Armee war, als Mitglied der Untergrund-Pfadfinder. Als 15-jähriger Kommandant habe ich zwei Eide geschworen – einen Pfadfindereid und einen Militäreid. Und ich habe eine militärische Ausbildung absolviert.

Im selben Monat brach der Aufstand im Warschauer Ghetto aus – das letzte Kapitel der tragischen Geschichte der Juden in Warschau – wichtig für unsere Familie, denn das Haus, in dem wir wohnten, stand ein paar hundert Meter von der Mauer des Ghettos und der Großen Synagoge in der Tłomackie-Straße entfernt. Ich war Zeuge ihrer Zerstörung, während der Explosion Trümmer auf mich fielen.

Dieses tragische Kapitel war auch deshalb wichtig, weil mit Zustimmung meiner Mutter Irena Kruszewska mein älterer Freund Adam Tepper, ein Jude aus Gdynia, an der Universität Warschau aufgenommen wurde und im Oktober 1939 sein Studium an der Juristischen Fakultät beginnen sollte. Er ließ sich nicht im Ghetto einsperren und absolvierte die Unteroffiziersschule der Heimatarmee, wovon wir nichts wussten, als er bei uns lebte. Ich traf ihn zufällig während des Aufstands 1944, als ich als Kurier die verschlüsselten Befehle von General Bór-Komorowski, dem Kommandanten des Aufstands, mit mir trug und er war Offizier der Heimatarmee und Kommandant einer Barrikade. Er starb bei diesem Aufstand.

In die Konspiration kam ich als Schüler eines geheimen Gymnasiums. Pfadfinder-Soldaten wie ich arbeiteten hauptsächlich in den Bereichen Nachrichtendienst und Kommunikation. Und diese Aufgabe hatte ich auch beim Ausbruch des Aufstands am 1. August 1944 inne: Ich war Beobachter auf einer Brücke im Zentrum von Warschau, also hatte ich die Wahl – ich konnte in den rechten Teil der Stadt gehen, wo es keine Kämpfe gab. Aber ich kehrte ins Zentrum zurück. Es gab nur sehr wenige Waffen – ich hatte nur Flaschen mit Benzin, so genannte Molotow-Cocktails, aber wir konnten damit zwei Panzer zerstören. Als Kurier überquerte ich zweimal die Frontlinie – durch die Kanalisation, unter den Straßen der kämpfenden Stadt, und zu den Waldeinheiten bei Warschau und zurück.

Als ich mich durch die Front schlich, wurde ich gefangen genommen. Meine Wache war ein älterer Mann, ein Österreicher, bewaffnet mit einem Gewehr aus dem Ersten Weltkrieg. Damals sprach ich Deutsch, weil ich diese Sprache in meinem geheimen Gymnasium gelernt habe. Er sagte mir, dass er mir nicht helfen könne, aber er sei kein Nazi und warnte mich, dass ich innerhalb von höchstens drei Tagen erschossen würde, sodass ich nicht viel Zeit zur Flucht habe. Wie viele andere war ich gezwungen, Gräben zu graben, aber während eines Konvois gab es eine Gelegenheit – ich entkam und sprang in den Keller des Hauses, an dem ich gerade vorbeikam. Ich kehrte zu den kämpfenden Einheiten in der Nähe des Sejms zurück. Ich weiß nicht, was diesen älteren deutschen Soldaten bewegt hatte, aber Tatsache ist, dass ich das Gesicht und das Verhalten eines „anständigen Deutschen“ gesehen habe, das ich in den letzten fünf Jahren der Besetzung nicht erlebt hatte.

Ich wurde gefangen genommen, als der Aufstand kapitulierte. Kanadische Soldaten befreiten mich aus dem Stalag Sandbostel bei Bremen. Damals zog ich zum ersten Mal meine polnische Uniform an – als Soldat der polnischen Streitkräfte im Westen nahm ich an der Besatzung Italiens teil. Ich wollte nicht in ein Polen unter sowjetischer Kontrolle zurückkehren, also fand ich mich 1952 nach der Demobilisierung erst in England, dann an der Universität in Chicago wieder. Als Doktor der Politikwissenschaft und amerikanischer Sowjetologe ließ ich mich in El Paso an der dortigen Universität nieder. Ich habe die polnische Opposition und das wieder unabhängige Polen als Aktivist des Polnisch-Amerikanischen Kongresses und als sein Vizepräsident unterstützt. In dieser Funktion habe ich mich bereits in den 1960er-Jahren um die internationale Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und später um den Beitritt Polens zur NATO bemüht.

Viele Jahre lang war ich gegen den Klang der deutschen Sprache allergisch. Heute freue ich mich über diese Einladung nach Berlin und die Tatsache, dass mein deutscher Freund Dieter Bingen neben mir ist.

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