Ein Gesetzentwurf, der die Funktionsfähigkeit des Bundesgerichtshofs (BGH) gewährleisten soll, und damit verbundene Anträge der Fraktionen von FDP und Grünen haben am Montag, 4. November 2019, im Fokus einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz unter Vorsitz von Stephan Brandner (AfD) gestanden. Acht Sachverständige aus Praxis und Wissenschaft nahmen Stellung zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (19/13828), mit dem unter anderem die bislang in einer befristeten Übergangsvorschrift festgelegte Wertgrenze für Nichtzulassungsbeschwerden in Zivilsachen in Höhe von 20.000 Euro dauerhaft in der Zivilprozessordnung (ZPO) festgeschrieben werden soll.
Rechtswissenschaftler sprechen von Systembruch
Während die Praktiker die vorgesehene Entfristung überwiegend begrüßten, sahen die Rechtswissenschaftler das Vorhaben kritisch und sprachen von einem Systembruch. Fragen der Abgeordneten betrafen vor die Argumente für und wider eine Wertgrenze, die Möglichkeiten, Berufungsverfahren zu verbessern und die Notwendigkeit einer ZPO-Reform. Der Entwurf sieht außerdem eine weitere Spezialisierung der Gerichte in Zivilsachen, Maßnahmen zur Verfahrensstrukturierung sowie Änderungen zur Steigerung der Effizienz im Zivilprozess vor.
Die BGH-Präsidentin Bettina Limperg erklärte, die Vorlage setze im Grundsatz das um, was der BGH seit Jahren nachdrücklich befürworte. Würde die Wertgrenze nicht festgeschrieben und liefe wie geplant Ende dieses Jahres aus, hätte der dann eintretende Arbeitsmehranfall unvermeidlich den Kollaps des BGH zur Folge. Dies ließe sich weder durch eine Aufstockung der Senate noch durch andere Maßnahmen wie die Einrichtung eines weiteren Zivilsenats auffangen.
Das bereits bestehende Fallaufkommen würde sich bei Auslaufen der Wertgrenze mehr als verdreifachen, legte Limperg anhand von Fallzahlen der vergangenen Jahre dar. Sie fügte hinzu, aus den für die Festschreibung der Wertgrenze sprechenden Gründen lehne sie zugleich die Einführung einer Nichtzulassungsbeschwerde in Familiensachen ab, wie sie im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens gefordert werde.
Nichtzulassungsbeschwerde in Familiensachen abgelehnt
Christian Tombrink, Richter am Bundesgerichtshof und Vorsitzender des Vereins der Bundesrichter und Bundesanwälte beim Bundesgerichtshof, verwies darauf, dass sich die mit der wiederholten Befristung verknüpfte Erwartung sinkender Eingänge beim BGH in Zivilsachen nicht bestätigt habe. Hieraus folge, dass nicht nur die Entfristung der Wertgrenze und ihre Übernahme in die ZPO, sondern auch ihre Anhebung auf zumindest 30.000 Euro geboten sei, um die anhaltend hohen Eingangszahlen für Nichtzulassungsbeschwerden wieder in Richtung auf das frühere Maß zurückzuführen. Auch Tombrink sprach sich gegen die Eröffnung der Nichtzulassungsbeschwerde in Familiensachen aus.
Der Deutsche Richterbund befürwortet nach den Worten seines Vertreters Peter Fölsch, Vorsitzender Richter am Landgericht Lübeck, die unbefristete Beibehaltung der streitwertmäßigen Beschränkung der Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH. Damit könne eine effiziente Erfüllung der Aufgaben des Gerichts als Revisionsinstanz und den Erhalt der Arbeitsfähigkeit des Gerichts dauerhaft sichergestellt werden.
Ja zur Entfristung
Auch Dr. Hendrik Schultzky, Richter am Oberlandesgericht Nürnberg, stimmte einer Entfristung zu. Im derzeitigen Rechtsmittelsystem seien gleichwertige alternative Regelungen, die eine Überlastung des Bundesgerichtshofs verhindern, nicht ersichtlich. Eine bessere Lösung sei erst bei einer grundlegenden Überarbeitung des Rechtsmittelsystems im Rahmen einer umfassenden ZPO-Reform zu erwarten. Die Schaffung weiterer Spezialkammern und -senate und die vorgesehenen Länderöffnungsklauseln begrüßten sowohl Schultzky als auch Fölsch.
Lothar Schmude von der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) plädierte ebenfalls für eine dauerhafte Festschreibung der Wertgrenze für Nichtzulassungsbeschwerden und den Ausbau der Spezialisierung der Landes- und Oberlandesgerichte. Weitere Vorhaben des Entwurfs wie die unverzügliche Anbringung des Ablehnungsgesuchs sehe die BRAK jedoch kritisch. Er bedauerte, dass deren Bedenken und Anregungen nicht im Regierungsentwurf berücksichtigt worden seien.
Plädoyer für eine endgültige Lösung
Wolfgang Schwackenberg als Vertreter des Deutschen Anwaltvereins betonte die Notwendigkeit einer endgültigen Lösung für die Nichtzulassungsbeschwerde. Die dauerhafte Einführung einer Streitwertgrenze von 20.000 Euro stelle jedoch eine dramatische Rechtsmittelverkürzung dar und sei untauglich, erklärte er. Sollte sich die Belastung des BGH als tatsächlich zu groß erweisen, könne die adäquate Antwort hierauf nur sein, strukturelle Änderungen des Verfahrens beim BGH und eine Kapazitätserweiterung zu schaffen. Zudem sei es unverständlich warum das Gebiet des Familienrechts und das der Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit insgesamt einer Nichtzulassungsbeschwerde nicht zugänglich gemacht wird.
Argumente gegen eine Verstetigung der Wertgrenze kamen auch von den beiden eingeladenen Rechtswissenschaftlern. Prof. Dr. Reinhard Greger von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg erklärte, mit der ZPO-Reform von 2001 habe der Gesetzgeber ein schlüssiges, auf die zügige Herstellung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zugeschnittenes Rechtsmittelsystem geschaffen. Die Nichtzulassungsbeschwerde von einer Beschwerdesumme abhängig zu machen, sei ein gravierender Bruch dieses Systems gewesen. Nicht zu verstehen sei, dass der damals als Interimslösung hingenommene Systembruch jetzt durch Übernahme in die ZPO verewigt werden solle. Vertretbar erscheine allenfalls eine Herabsetzung auf 5.000 Euro.
Wertgrenze für ungeeignet erachtet
Prof. Dr. Beate Gsell, Lehrstuhl-Inhaberin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hält die Wertgrenze für ungeeignet, eine Überlastung des Bundesgerichtshofes dauerhaft zu verhindern. Sie sollte deshalb nicht perpetuiert werden, erklärte sie. Bereits vielfach sei zurecht darauf hingewiesen worden, dass die aktuelle Ausgestaltung des Zugangs zur Revision in Zivilsachen strukturell problematisch sei. Die Nichtzulassungsbeschwerde werde von den Parteien eingelegt, um die Korrektur einer als unrichtig empfundenen Entscheidung zu erreichen, die an öffentliche Revisionszwecke gebundene Revision stehe dafür aber in der Regel nicht zur Verfügung.
Gsell und Limperg nahmen auch Stellung zu dem Antrag der Grünen für ein Gesetz, mit dem der strategischen Verhinderung der Revision entgegengewirkt werden soll (19/14027). Mit Verweis auf eine fehlende höchstrichterliche Endentscheidung des BGH im „Diesel-Skandal“ heißt es in dem Antrag, es scheine einer gezielten Prozessstrategie der Volkswagen AG zu entsprechen, Berufungsurteile und erst recht eine ungünstige Grundsatzentscheidung des BGH durch ein für den jeweiligen Prozessgegner günstiges außergerichtliches Vergleichsangebot zu verhindern.
Gsell erklärte, angesichts des Missstandes prozesstaktischen Abwendens höchstrichterlicher Grundsatzurteile sollte der BGH zur Verwirklichung der öffentlichen Revisionszwecke ermächtigt werden, über Grundsatzfragen auch dann zu entscheiden, wenn es infolge Zurücknahme des Rechtsmittels nicht mehr zu einer Entscheidung über den Rechtsstreit kommt. Sie empfahl die Einführung eines effektiven auf Leistung gerichteten kollektiven Gruppenklageverfahrens.
Limperg erklärte, sie teile die Wahrnehmung dass ein Revisionsverhinderungsverhalten dazu geeignet ist, insbesondere in Verbraucherrechtsstreitigkeiten Grundsatzentscheidungen gezielt hinauszuzögern. Dies sorge nicht nur für eine unnötige Rechtsunsicherheit in Sachverhalten mit Breitenwirkung, sondern auch für Frustration bei den Senaten des BGH, die ihrer Kernaufgabe nicht nachkommen könnten. Es sei deshalb zu erwägen, einen Musterfeststellungsantrag zumindest im Revisionsverfahren zu schaffen.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung (19/13828) sieht vor, die bislang in einer befristeten Übergangsvorschrift festgelegte Wertgrenze für Nichtzulassungsbeschwerden in Zivilsachen in Höhe von 20.000 Euro dauerhaft in der Zivilprozessordnung festzuschreiben, um die Funktionstüchtigkeit der Zivilsenate des Bundesgerichtshofs dauerhaft zu gewährleisten. Die gesetzliche Regelung, wonach die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zum Bundesgerichtshof in Zivilsachen einen Beschwerdewert von mehr als 20.000 Euro erfordert, sei seit 2002 fortlaufend befristet, zuletzt bis zum 31. Dezember 2019. Das Fehlen einer verlässlichen Regelung sei auf Dauer unbefriedigend.
Darüber hinaus machten der Wandel der Lebensverhältnisse, die wachsende Komplexität der Rechtsbeziehungen sowie die veränderten Erwartungen an die Justiz gesetzliche Anpassungen des Zivilprozessrechts erforderlich, um auch künftig die hohe Qualität der Ziviljustiz zu sichern. Gleichzeitig solle durch eine Änderung zivilprozessualer Vorschriften eine effiziente Verfahrensführung ohne Einbußen des Rechtsschutzes gefördert werden. So soll unter anderem die Spezialisierung der Gerichte in Zivilsachen ausgebaut und die Möglichkeiten zum Abschluss eines wirksamen gerichtlichen Vergleichs vereinfacht werden.
Erster Antrag der FDP
Um die Abschaffung der Wertgrenze bei der Nichtzulassungsbeschwerde in Zivilsachen geht es in einem Antrag der FDP-Fraktion. Die Nichtzulassungsbeschwerde müsse auch bei kleinen Streitwerten zugelassen werden, heißt es darin. Hintergrund ist ein Gesetzentwurf der Bundesregierung, mit dem die bislang zeitlich befristete Regelung einer Streitwertgrenze in Höhe von 20.000 Euro, die zur Entlastung des Bundesgerichtshofs eingeführt wurde, dauerhaft in der Zivilprozessordnung verankert werden soll.
Der Bundestag solle daher die Bundesregierung auffordern, so die Antragsteller, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine fortlaufende Evaluierung der Arbeitsbelastung des Bundesgerichtshofs vornimmt. Zudem soll der Entwurf vorsehen, dass die Wertgrenze bei der Nichtzulassungsbeschwerde schrittweise zurückgeführt, die Nichtzulassungsbeschwerde in Familiensachen zugelassen und die Möglichkeit eines Zurückweisungsbeschlusses durch das Gericht aufgehoben wird.
Zweiter Antrag der FDP
Der Bundestag soll nach dem Willen der FDP-Fraktion die Bundesregierung auffordern, einen Gesetzentwurf zur Reform des Zivilprozessrechts vorzulegen, der die Verfahrensabläufe optimiert, einen vereinfachten Zugang zum Recht schafft, eine zunehmende Spezialisierung der Richterschaft sowie einen flexibleren Personaleinsatz ermöglicht.
Wie die Abgeordneten in ihrem Antrag schreiben, wird das geltende Zivilprozessrecht den neuen Anforderungen an den Rechtsschutz nicht mehr gerecht. Es müsse modernisiert werden, um Bürgerinnen und Bürgern effektiven Rechtsschutz zu gewähren und im Hinblick auf die wirtschaftsrechtliche Bedeutung die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Zivilgerichtsbarkeit zu erhalten. Hierzu müsse es leistungs- und wettbewerbsfähiger gestaltet werden, ohne dabei den Kerngehalt der verfassungsrechtlich festgeschriebenen Justizgrundrechte anzutasten.
Erster Antrag der Grünen
Eine umfassende Reform des Zivilprozessrechts fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Durch die effektive Gestaltung von Verfahren und Abläufen müsse der Zivilprozess den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sein, heißt es in einem Antrag der Fraktion. Der Regierungsentwurf eines „Gesetzes zur Regelung der Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde in Zivilsachen, zum Ausbau der Spezialisierung bei den Gerichten sowie zur Änderung weiterer zivilprozessrechtlicher Vorschriften“ (Bundesrats-Drucksache 366/19) werde diesen Anforderungen nur begrenzt gerecht.
Der Bundestag solle die Bundesregierung daher auffordern, den Gesetzentwurf in mehreren Punkten nachzubessern. So sollten statt der Verstetigung des bislang befristeten Beschwerdewerts bei einer Revision zum Bundesgerichtshof in Zivilsachen funktionale Äquivalente zur Verhinderung einer etwaigen Überlastung des Bundesgerichtshofs (BGH) aufgenommen werden, und die derzeitige Möglichkeit, Berufungen ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen, sollte aufgehoben werden.
Zweiter Antrag der Grünen
Der Bundestag soll die Bundesregierung nach dem Willen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auffordern, per Gesetz der strategischen Verhinderung der Revision entgegenzuwirken. Wie es in einem Antrag der Fraktion heißt, fehlt es im vierten Jahr nach Offenbarwerden des „Diesel-Skandals“ noch immer an einer höchstrichterlichen Endentscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) zur zivilrechtlichen Haftung insbesondere des Herstellers gegenüber den Käufern von Diesel-Fahrzeugen, während bereits eine Fülle instanzengerichtlicher Entscheidungen existiere. Zu Berufungsurteilen komme es oft nicht, weil es einer gezielten Prozessstrategie der Volkswagen AG zu entsprechen scheine, Berufungsurteile und erst recht eine ungünstige Grundsatzentscheidung des BGH durch ein für den jeweiligen Prozessgegner günstiges außergerichtliches Vergleichsangebot zu verhindern.
Zudem verweisen die Antragsteller auf ein bislang fehlendes auf Leistung gehendes Kollektivklageverfahren. Die Rechtslage sei daher insgesamt unbefriedigend und reformbedürftig. Die Bundesregierung solle dies in ihrem Gesetzentwurf auf Bundesratsdrucksache 366/19 zur Änderung zivilprozessualer Vorschriften berücksichtigen und einen Gesetzentwurf vorlegen, der ein effektives Kollektivklageverfahren einführt. (mwo/04.11.2019)
Liste der geladenen Sachverständigen
- Peter Fölsch, Deutscher Richterbund, Bund der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte e.V. (DRB), Berlin. Mitglied des Präsidiums und Vorsitzender Richter am Landgericht Lübeck
- Prof. Dr. Reinhard Greger, Universitätsprofessor i.R., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Fachbereich Rechtswissenschaft und Richter am Bundesgerichtshof a.D.
- Prof. Dr. Beate Gsell, Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht, Europäisches Privat- und Verfahrensrecht
- Bettina Limperg, Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Karlsruhe
- Lothar Schmude, Bundesrechtsanwaltskammer und Rechtsanwalt, Köln
- Dr. Hendrik Schultzky, Richter am Oberlandesgericht, Nürnberg
- Wolfgang Schwackenberg, Deutscher Anwaltverein e. V., Berlin und Rechtsanwalt und Notar a. D.
- Christian Tombrink, Verein der Bundesrichter und Bundesanwälte beim Bundesgerichtshof e. V. und Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Karlsruhe
- N. N.