Parlament

Schäuble warnt vor zer­stö­re­ri­schen Folgen von Hass in sozialen Netzwerken

Mit einer eindringlichen Warnung vor zerstörerischen Folgen von Hass in sozialen Netzwerken und mit einem Plädoyer für politischen „Streit nach Regeln“ hat Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble am Montag, 14. Oktober 2019, die parlamentarische Konferenz „Strategien gegen Hatespeech in Berlin eröffnet. Veranstalter ist die „No Hate Parliamentary Alliance“ (Parlamentarische „No Hate“-Allianz) des Ausschusses für die Gleichstellung und Nichtdiskriminierung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates – ein Zusammenschluss von Abgeordneten, die aktiv gegen Rassismus, Hass und Intoleranz eintreten.

Der erste Teil der Konferenz („Politisches Framing“) wird am Dienstag, 15. Oktober, ab 16 Uhr zeitversetzt mit deutschem Dolmetscherton im Parlamentsfernsehen, im Internet auf www.bundestag.de und auf mobilen Endgeräten übertragen. Er wird zeitgleich mit englischem Dolmetscherton auf www.bundestag.de/en übertragen.

„Fatale Folgen für politische Streitkultur und gesellschaftliches Klima“

„Die Folgen für die politische Streitkultur und das gesellschaftliche Klima sind fatal“, sagte Schäuble mit Blick auf den Hass im Netz und in der realen Welt. Er beklagte, dass ehrenamtliche Politikerinnen und Politiker auf kommunaler Ebene und auch viele Abgeordnete in den Parlamenten Zielscheibe von Beleidigungen, Diffamierungen, Anfeindungen und Drohungen geworden sind, denen kaum noch Grenzen gesetzt seien. Er bedauerte, dass die gegenseitige Achtung voreinander sinke; vielen gehe es nur noch darum, das eigene Recht durchzusetzen. Dahinter träten das Verantwortungsgefühl gegenüber der Gesellschaft und die Empathie für andere Menschen immer mehr zurück.

„Zu den beklemmenden Erfahrungen in Deutschland gehören die Abgründe an Häme und Hass, die sich im Netz auftaten, nachdem der Regierungspräsident von Kassel vor seinem Haus kaltblütig getötet worden war“, erinnerte der Bundestagspräsident. Schlimmer noch sei, dass Mörder wie der Norweger Breivik oder der Extremist in Halle ihre Verbrechen im Livestream gezeigt hätten.

„Der politische Wettstreit muss vor Gewalt geschützt werden“

Es reiche nicht mehr, an den gesunden Menschenverstand zu appellieren: „Wenn uns an der Demokratie gelegen ist, muss der politische Wettstreit vor Gewalt geschützt werden.“ Es brauche zudem das Vertrauen in den Rechtsstaat, der gegen menschenfeindlichen Hass und Hetze als Nährboden von Gewalt konsequent vorgehe, sagte Schäuble. Mit dem Internet und den sozialen Medien und deren potenziell unbegrenzter Zahl an Zuschauern und Zuhörern hätten Verunglimpfung, Lüge und Denunziation einen neuen, entgrenzten Resonanzraum erhalten.

„In der Anonymität der Onlinekommunikation erlauben sich viele manches, was sie sich im realen Leben kaum trauen würden. Der Hass im Netz verändert wiederum die reale Welt“, sagte der Bundestagspräsident. Eine Steigerung habe die Verbreitung von Hass und die Verrohung der Umgangsformen durch das Internet auch dadurch erfahren, dass es dort nicht nur zu verbalen Entgleisungen oder Beleidigungen komme und nicht allein zu Gewalt- und Straftaten aufgerufen werde, sondern immer wieder auch deren Umsetzung etwa als Video präsentiert werde. Eine Entgrenzung sei auch bei der Möglichkeit, Opfer zu werden, feststellbar. Zur Zielscheibe könne jeder werden.

Eine Logik des „Wir gegen die“

Als Ursache für diesen Hass, der überhaupt keinen Respekt mehr vor dem anderen kenne, machte Schäuble die atemberaubenden Veränderungen in der heutigen Welt aus: die Auflösung des Bekannten und Vertrauten, eine immer komplexere Wirklichkeit, mit der sich der Einzelne konfrontiert sehe. Zu den weitreichenden Folgen dieser Entwicklung gehöre, dass Verantwortungsgefühl und Gemeinsinn schwinden. Jeder denke nur noch an sich, habe sein eigenes Schema davon, wie die Welt funktioniere. Es gehe insgesamt konfrontativer zu, eine Logik des „Wir gegen die“ sei entstanden – und dazwischen: scheinbar unüberwindbare Gräben, analysierte Schäuble.

„Vielleicht haben wir es in der in Vergangenheit versäumt, Debatten offener zu führen“, fragte Schäuble selbstkritisch auch in Richtung Politik. Es gebe im Land ein verbreitetes Gefühl, bestimmte Dinge aus Gründen der politischen Korrektheit nicht sagen zu dürfen. Aus dieser kommunikativen Sackgasse müsse man herausfinden. „Wir müssen raus aus den selbstreferenziellen Blasen, raus aus den Gräben.“

„Wir brauchen eine neue Streitkultur“

Statt sich unvereinbare Positionen „an den Kopf zu werfen“, müsse man sich wieder mehr zuhören und, wenn auch nicht verstehen, so doch akzeptieren, dass man unterschiedlicher Meinung sein kann. „Wir brauchen eine neue Streitkultur“, sagte der Bundestagspräsident. Aus der Nähe betrachtet, schwänden Gegensätze und Feindschaften. Dadurch lasse sich der gesellschaftliche Zusammenhalt wieder stärken.

Es gehe nicht darum, die Auseinandersetzung abzuschaffen. „Als Parlamentarier haben wir den politischen Streit zu führen. Streit gehört zur parlamentarischen Demokratie. Streit müssen wir aushalten. Aber es ist ein Streit mit Regeln“, so Schäuble. Aus der parlamentarischen Streitkultur erwachse eine besondere Verantwortung. Sprache sei auch eine Waffe, mit der man nicht leichtfertig umgehen dürfe. „Wenn uns an der Demokratie gelegen ist, muss der politische Streit vor Gewalt geschützt werden.“

„Digitale Kommunikation bietet Chance für Transparenz“

„Die digitale Kommunikation bietet eigentlich eine Chance, Transparenz zu schaffen, Gräben zu überwinden“, sagte Schäuble. Der Zugang zum Netz sei zwar niedrigschwellig, aber daher auch sehr offen für Missbrauch. Bei der Regelung des Miteinanders im Internet sei der Gesetzgeber genauso wie die Rechtsprechung und die Gesellschaft insgesamt gefordert.

Dabei sei die schwierige Gratwanderung zu gehen zwischen dem hohen Gut der freien Meinungsäußerung einerseits und unerlaubten, strafbaren Äußerungen. Diese Grenzziehung sei schwierig, aber nötig, um die Friedlichkeit der Streitkultur zu gewährleisten, egal in welchem Medium, unterstrich der Bundestagspräsident.

Hasskommentare im Internet beschäftigen den Europarat

Hasskommentare im Internet beschäftigten auch den Europarat in zunehmendem Maß, sagte Dr. Andreas Nick (CDU/CSU), Leiter der deutschen Delegation der Bundestagsabgeordneten bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, in seinem Eingangsstatement. Die Parlamentarische Versammlung habe dazu bereits eine Reihe von Berichten verabschiedet. Die Sorge um die Wirkung des Wortes, über die diskursive Ebene hinaus, etwa als gewollte oder ungewollte Aufforderung, Straftaten zu begehen, sei an sich nichts Neues. Alle seien dabei gefordert, verantwortungsvoll mit der Sprache umzugehen: diejenigen, die als Profis mit dem Wort arbeiten, aber auch alle anderen, die Beiträge, in welcher Form auch immer, verfassen. Über das Internet könne jeder eine große Wirkung erzielen.

Die Reichweite und die Schnelligkeit des Internets zählten dabei zu den größten Herausforderungen bei der Aufgabe, dem neuen Ort der Kommunikation Regeln zu geben. Damit müsse der Gesetzgeber nun angemessen umgehen und die Dinge, wo nötig, regeln, ohne die Freiheitsrechte des Einzelnen zu stark zu begrenzen.

Gabriela Heinrich zieht als Generalberichterstatterin Bilanz

Zu der Konferenz hatte die SPD-Bundestagsabgeordnete Gabriela Heinrich eingeladen. Sie war von 2017 bis 2019 Generalberichterstatterin für die Bekämpfung von Rassismus und Intoleranz bei der Parlamentarischen Konferenz des Europarates. Die zunehmenden Fälle von Hasskommentaren, ja Hasskampagnen, aber auch der vielfach praktizierte unachtsame Sprachgebrauch im Netz seien Schwerpunkt ihrer Arbeit gewesen. Turnusmäßig hatte Heinrich in der letzten Sitzungswoche des Europarates Anfang Oktober 2019 ihr Amt an ihren schwedischen Kollegen Momodou Malcolm Jallow übergeben.

Gabriela Heinrich wies darauf hin, dass die im akademischen Bereich so präzise analysierten und geordneten Sachverhalte in der Praxis nicht so leicht voneinander getrennt werden könnten, sondern eng zusammenhingen, und dass diejenigen, die Hassparolen im Netz verbreiten, sich ebenfalls dieser Konzepte und Strategien bedienten. Für ein respektvolles Miteinander im Internet könne aber jeder einzelne, egal ob Profi oder privater User, der Beiträge poste, etwas tun, indem er selbst verantwortungsvoll mit Sprache umgeht und in konkreten Fällen Alternativen zu einer Hass-Story zur Verfügung stellt.

„Politisches Framing

Drei Themen hatten sich die Veranstalter vorgenommen, die gleichzeitig die Grundlage für die Tagesordnung aus drei Sitzungen mit Vorträgen und Diskussion, bildeten, um das Phänomen des Hasses im Internet fassbar zu machen, zu bewerten, und um aktuelle, wissenschaftlich fundierte Strategien gegen Hatespeech zu diskutieren. Um die Macht, die jedes gesagte oder geschriebene Wort im Kopf des Einzelnen entfaltet, indem es gelernte Kontexte oder Interpretationsrahmen, sogenannte „frames“, mobilisiert, die es dem Adressaten überhaupt erst erlauben, das Gesagte zu verstehen, ging es im ersten Teil der Tagung.

Die Sprachwissenschaftlerin Elizabeth Wehling von der University of California in Berkeley (USA) erläuterte das Konzept des „politischen Framing“, das sich damit beschäftigt, wie Inhalte in der politischen Kommunikation präsentiert und von der Öffentlichkeit verstanden werden. Neben Wehling sprachen Violeta Violeta Tomić aus Slowenien, Mitglied der No Hate Parliamentary Alliance  und Generalberichterstatterin zu den Rechten von lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen und intersexuellen Menschen (LGBTI), und Maria Marouda, Vize-Vorsitzende der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, zum Thema.

„Konstruktiver Journalismus“ und „Counterspeech

„Konstruktiver Journalismus“, bei dem Journalisten entsprechend dem Konzept der konstruktiven Kritik nicht nur über Probleme berichten, sondern auch Lösungswege beschreiben und damit auch versuchen, dem Hass und einem den Hass begünstigenden Sprachgebrauch zu begegnen, stand im Mittelpunkt des zweiten Teils der Tagung. Nach einem Grußwort von Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey (SPD) sprachen die niederländische Journalistin Danielle Batist, Mitbegründerin des Constructive Journalism Project, und Momodou Malcolm Jallow, der neue Generalberichterstatter zur Bekämpfung von Rassismus und Intoleranz. 

Mit der Technik der „Counterspeech“, mit der Hatespeech durch Sprache und Narrative bekämpft wird, beschäftigten sich die Teilnehmer, Wissenschaftler und Politiker aus dem In- und Ausland, aus Europa und Amerika, im dritten Teil. Zum Thema trugen Thomas Laschyk, Mitgründer von „Volksverpetzer“, Mina Dennert, Gründerin von #jagärhär, und Maryvonne Blondin aus Frankreich, Mitglied der No Hate Parliamentary Alliance, bei. Moderiert wurde die Tagung von der Geschäftsführerin der Neuen Deutschen Medienmacher, Konstantina Vassiliou-Enz. (ll/15.10.2019)

Marginalspalte