1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: Amris Festnahme nicht von einer Berliner Behörde veranlasst

Übersicht über den Sitzungssaal, während der konstituierenden Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses der 19. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages zum Thema Anschlag auf dem Breitscheidplatz.

Der Ausschuss befragte Beamte aus zwei Landeskriminalämtern. (© DBT / Thomas Imo/ photothek)

Ein Beamter des Berliner Landeskriminalamts hat dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) unter Leitung von Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU) über die Umstände der verhinderten Ausreise des späteren Attentäters Anis Amri Ende Juli 2016 berichtet. Er habe sich, wie die Polizei damals angenommen habe, vermutlich zu seiner Familie nach Tunesien oder noch wahrscheinlicher nach Italien absetzen wollen, sagte Kriminaloberkommissar G. K. in seiner Vernehmung am Donnerstag, 24. Oktober 2019. Zugleich bestritt er, dass eine Berliner Behörde die Festnahme Amris unweit der Schweizer Grenze veranlasst habe. Der heute 29-jährige Zeuge ist seit 2014 im Polizeilichen Staatsschutz (Abteilung 5 im Landeskriminalamt Berlin, LKA5) und dort seit November 2015 im Fachbereich Islamismus tätig.

„Keine lebenswerten Länder“

Auf die Ausreiseabsicht Amris sei er damals durch den Hinweis einer Dolmetscherin aufmerksam geworden, die beim Übersetzen abgehörter Telefonate festgestellt hatte, dass Amri sich von seinen Berliner Freunden und Bekannten verabschiedete, berichtete der Zeuge. Er sei damals in depressiver Stimmung gewesen und habe geklagt, Deutschland wie auch die Schweiz seien keine „lebenswerten“ Länder.

Eine Ortung seines Mobiltelefons habe ergeben, dass sich Amri zunächst auf der Berliner Avus und anschließend auf der Autobahn A9 zügig in Richtung Süden bewegte. Es sei dann spontan entschieden worden, Amris Telefon mit Hilfe der anwesenden Dolmetscherin in Echtzeit zu überwachen und seinen Weg weiter zu verfolgen.

„Am Bodensee von der Bundespolizei festgenommen“

Er habe, berichtete der Zeuge weiter, umgehend den mit Amris Fall befassten Berliner Staatsanwalt verständigt. Dieser habe entschieden, Amri an der Ausreise in ein europäisches Land nicht zu hindern. Nur wenn erkennbar sei, dass er über die Türkei oder auf direktem Wege nach Syrien reisen wolle, sei ein Zugriff angebracht. Er habe, so der Zeuge, auch das Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen über Amris Reise auf dem Laufenden gehalten, weil dieser dort ebenfalls als islamistischer Gefährder registriert gewesen sei.

Auf dem Busbahnhof von Friedrichshafen am Bodensee wurde Amri schließlich von der Bundespolizei festgenommen und an der Ausreise gehindert. Der Zeuge betonte, dass das Berliner LKA damit nichts zu tun gehabt habe. Jedenfalls sei ihm davon nichts bekannt. Er vermute, dass es die Bundespolizei war, die entschieden habe, Amri die Ausreise zu versagen, weil sich in seinem Besitz neben Drogen zwei gefälschte italienische Personalausweise fanden.

„Amris Kommunikation auf Telegram überwacht“

Amri habe von März bis September 2016 einen Großteil seiner Arbeitskraft absorbiert, sagte der Zeuge, der damals mit der Auswertung der abgehörten Telefonate des Tunesiers betraut war. Jeden Morgen habe er zunächst die über Nacht aufgelaufenen Gespräche gesichtet und, soweit sie in arabischer Sprache geführt worden waren, zur Übersetzung weitergeleitet. Die Inhalte habe er in Berichten zusammengefasst. Seit Mai 2016 habe er auch Amris Kommunikation auf dem Messengerdienst Telegram überwacht.

Der Zeuge betonte, dass die Abhörmaßnahmen auch dann noch mit unverminderter Intensität fortgeführt worden seien, nachdem sich Mitte 2016 in der Berliner Polizei die Ansicht durchgesetzt hatte, dass von Amri ein Anschlag unmittelbar nicht mehr zu befürchten sei. Wie der Zeuge weiter berichtete, haben Beamte des Berliner LKA Amri um den 6. Mai 2016 herum auch persönlich angesprochen, um ihn darauf hinzuweisen, dass er sich illegal in Berlin aufhalte, und ihn zur Rückkehr nach Nordrhein-Westfalen aufzufordern, wo ihm als Asylbewerber der Hauptwohnsitz zugewiesen war.

„Mit Islamismus nie etwas zu tun gehabt“

Im weiteren Verlauf der Sitzung sagte Kriminalhauptskommisar K. als Zeuge, das LKA in Nordrhein-Westfalen habe nicht darauf gedrungen, den Ausreiseversuch des späteren Attentäters Anis Amri im Sommer 2016 an der Grenze zu stoppen. Es wäre nach internationalem Recht allerdings gar nicht statthaft gewesen, einen erkannten islamistischen Gefährder außer Landes zu lassen, sagte K. vor dem Ausschuss. 

Der heute 52-jährige Zeuge war zwischen 2011 und 2018 im Düssseldorfer LKA im Bereich Staatsschutz tätig, in den ersten fünf Jahren zuständig für Linksextremismus und politisch motivierte Ausländerkriminalität, später für rechtsradikale Bestrebungen. Mit dem „Phänomenbereich“ Islamismus habe er nie etwas zu tun gehabt, betonte der Zeuge.

Amri sollte „ausgestuft“ werden

So wäre er mit Anis Amri, dem späteren Attentäter von Berliner Breitscheidplatz, nie in Berührung gekommen, hätte er nicht am letzten Juliwochenende 2016 im Landeskriminalamt den Bereitschaftsdienst versehen. Am Freitag, dem 29. Juli, erreichte ihn um 16.40 Uhr eine Mitteilung aus dem LKA in Berlin, dass Amri in einem Bus in Richtung Süden sitze, vermutlich in der Absicht, Deutschland zu verlassen.

Der Name Amri sei ihm völlig unbekannt gewesen, sagte der Zeuge. Durch einen glücklichen Zufall sei der Leiter des für Islamismus zuständigen Dezernats 21 mit ihm im Raum gewesen, der ihn aufgeklärt habe, dass Amri in Nordrhein-Westfalen als islamistischer Gefährder registriert sei, aber demnächst aus der entsprechenden Datei „ausgestuft“ werden solle, weil er seinen Wohnsitz nach Berlin verlegt habe. Dies sei mit dem Berliner LKA so vereinbart.

„Rückmeldungen weder erbeten noch erhalten“

Der Zeuge berichtete weiter, er habe das Bundespolizeipräsidium in Potsdam, das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz von der Reise Amris verständigt. Rückmeldungen habe er weder erbeten noch erhalten. Er habe noch mit dem Kollegen in Berlin telefoniert und ersucht, über Amris Reiseroute weiter auf dem Laufenden gehalten zu werden. Er habe, betonte der Zeuge, der Bundespolizei keinerlei Vorgaben gemacht, wie mit Amri zu verfahren sei, sollte er an der Grenze aufgegriffen werden. Auch der anwesende Dezernatsleiter habe nicht zu entscheiden gehabt, ob Amri die Ausreise zu gestatten oder zu verweigern war. Dies sei allein Sache der Bundespolizei gewesen. Es sei zwischen eigenständigen Polizeibehörden auch unüblich,  „Handlungsempfehlungen“ zu erteilen.

Am 30. Juli kurz nach Mitternacht holten Bundespolizisten Amri in Friedrichshafen aus dem Bus und beendeten damit seine Reise. Er selber, sagte der Zeuge, sei darüber nicht „explizit“ in Kenntnis gesetzt worden. Dass Amri festgenommen worden war, habe er aus dem Schriftverkehr zwischen Bundespolizei  und Bundeskriminalamt, der ihm im Laufe des 30. Juli zuging, erschlossen.

„Ein unsteter Gast“

Am späteren Abend hörte der Ausschuss einen weiteren Kriminalhauptkommissar aus Nordrhein-Westfalen, der sich als „VPF-2“ vorstellte. Der heute 53-jährige Zeuge hatte einen Informanten des LKA in der Gruppe um den radikalen Islam-Prediger Abu Walaa betreut, der dort auch Amri kennenlernte und im November 2015 berichtete, dass dieser sich mit Anschlagsplänen trage.

Der V-Mann habe sich mit Amri allerdings nur schwer verständigen können, da dieser Hocharabisch gesprochen habe, das der Informant kaum beherrschte. Amri sei in der Gruppe ein unsteter Gast gewesen, durch seine rigorosen religiösen Ansichten aufgefallen und habe engen Kontakt zum Führungszirkel gesucht. (wid/24.10.2019)

Liste der geladenen Zeugen

  • Kriminaloberkommissar G. K., Landeskriminalamt Berlin
  • Kriminalhauptkommisar K., Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen
  • VPF-2, Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen

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