Familie

Experten: Ehren­amt­liche mit Behinde­rung konkret unterstützen

Eine Rollstuhlfahrerin diskutiert mit drei Leuten an einem kleinen Tisch.

Der Unterausschuss befasste sich mit dem bürgerschaftlichen Engagement von Menschen mit Handicap. (GettyImages/Morsa Images)

Wenn die Arbeitsstelle oder das Versammlungslokal nicht barrierefrei sind, der Rollstuhlfahrer bereits am Eingang scheitert, wenn Assistenzdienstleistungen nach dem Bundesteilhabegesetz nicht bewilligt werden, dann bleiben Menschen mit Behinderung außen vor - und sind sind vor allem deswegen in viel geringerem Umfang ehrenamtlich engagiert als Menschen ohne Behinderung. Wie sich Menschen mit Behinderung besser in den Bereich des ehrenamtlichen Engagements integrieren lassen, darüber hat der Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagementam Mittwoch, 11. Dezember 2019, in öffentlicher Sitzung debattiert.

Für Behinderte brauche es daher mehr Aufmerksamkeit und Offenheit – angefangen in den Köpfen, über ganz konkrete Maßnahmen der Unterstützung, auf baulicher Seite bis hin zu einer besseren Koordinierung von Angeboten, und auch auf gesetzgeberischer Seite –  damit diese wie andere auch Zugang bekommen zu Aufgaben im Engagement-Bereich und sich dort als Ehrenamtliche entsprechend ihrer Stärken und Interessen einbringen können, so der Tenor der Diskussion unter der Leitung des Vorsitzenden des Gremiums, Alexander Hoffmann (CDU/CSU).

Wendel: Behinderte wollen in der Gesellschaft mitmachen

Aufgrund einer Muskelerkrankung ist Julian Wendel aus Würzburg, der als Einzelsachverständiger zu der Sitzung eingeladen wurde, auf einen elektrischen Rollstuhl angewiesen. Sein Körper werde zunehmend schwäche, er könne mit seiner Hand bereits nicht mehr ein Glas Wasser heben und den Alltag nicht ohne persönlichen Assistenten bewältigen, erzählte er. Dennoch ist Wendel seit seinem Studium ehrenamtlich aktiv: in einer Organisation für Muskelkranke, im Rollstuhlsport, wo er Wettbewerbe mit organisiert, in einem kommunalen Arbeitskreis für barrierefreies Bauen, als Schöffe bei Gericht. Damit ist er eher eine Ausnahmeerscheinung, für die er zudem ausgezeichnet wurde.

„Mir ist es wichtig, dass Behinderte nicht nur im Bereich der Selbsthilfe für Menschen mit Behinderung tätig sind, sondern überall, auch für Menschen ohne Behinderung arbeiten“, unterstrich Wendel den Wunsch vieler Behinderter, wie andere auch in der Gesellschaft mitzumachen und als Ansprechpartner aufzutreten und akzeptiert zu werden, statt lediglich als Empfänger von Hilfeleistungen wahrgenommen zu werden.

Hürden sind für Menschen mit Behinderung hoch

„Ich möchte helfen – wie viele andere auch, wenn sie denn könnten“, sagte er und warb für die Win-win-Situation, die so für die Gesellschaft und den Einzelnen entstehe: Die Gesellschaft erhalte zusätzliche Macher, die sich genauso engagiert einbringen wie Menschen ohne Behinderung. Menschen mit Behinderung im Ehrenamt erhielten dadurch Zugang zu sinnvollen Tätigkeiten sowie das Gefühl, gebraucht zu werden.

Die Hürden sind jedoch für Menschen mit Behinderung sind jedoch sehr hoch, wie alle Diskussionsteilnehmer feststellten. Komme doch zur eigentlichen Behinderung hinzu, dass man sich seine Hilfen in einem oft frustrierenden, kräftezehrenden Kampf erst mühsam erstreiten müsse, in Kampf mit der Bürokratie, um knappe finanzielle Ressourcen, in dem man sich ständig rechtfertigen müsse und bei dem man oft leer ausgehe. Viele könnten diese Schwelle, die ihnen überhaupt erst Zugang und Teilhabe ermögliche, gar nicht nehmen.

Nicksch: Vorurteile und Berührungsängste abbauen

Uwe Nicksch, Mitglied im Verein Sozialhelden e.V., den vor 20 Jahren ein Unfall in den Rollstuhl zwang, führte durch die Erwähnung seiner persönlichen Geschichte vor Augen, dass jedem jederzeit das Schicksal einer Behinderung widerfahren kann und warb dafür, Vorurteile und Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderung abzubauen, indem Arbeitsstellen sich für Behinderte öffnen.

Durch die Praxis der Zusammenarbeit, durch gemischte, inklusive Teams wie in seinem Verein, lasse sich das Wissen um den Umgang mit Behinderungen verbreitern. Genauso wichtig sei der konsequente Ausbau der Barrierefreiheit in allen Bereichen, physisch, beim Bauen, sprachlich und im digitalen Bereich.

Schenck kritisiert fehlende Barrierefreiheit vieler Sportstätten

Für den Bereich des Sports sprach Stefan Schenck, Vizepräsident des Behinderten- und Rehabilitations-Sportverbands Berlin, Teilhabe am Sport sei nicht alles, sondern es gehe explizit darum, dass Behinderte als Ehrenamtliche diese Aktivitäten, Wettkämpfe und andere Sportereignisse auch mit organisieren können müssen. So sei es im Übrigen auch in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen niedergelegt. Möglichkeiten, Menschen mit Behinderung im Rahmen freiwilliger Mitarbeit einzusetzen, gebe es auf allen Ebenen. Auch Menschen mit körperlicher Behinderung könnten Übungsleiter sein, geistig Behinderte oder Menschen mit Lernschwierigkeiten könnten Medaillen vergeben. Schenck zeigte Beispiele aus der Praxis seines Vereins.

Allerdings mache die immer noch fehlende Barrierefreiheit vieler Sportstätten Behinderten weiterhin ungleich schwerer als Menschen ohne Behinderung. „Wenn ich mit dem Rollstuhl nicht reinkomme, kann ich mich nicht engagieren.“ Hinzu kämen die Barrieren im Kopf bei Nichtbehinderten, die einem Engagement entgegen wirkten, sowie die vielfach fehlende Finanzierung von Assistenzleistungen, die von körperlicher Unterstützung bis hin zu Dolmetschertätigkeiten im Bereich der Gebärdensprache reichen und sehr personalintensiv sind.

Debatte über Regelung von Assistenzleistungen im BTHG

Wie die anderen Diskussionsteilnehmer kritisierte auch Schenck den dritten Satz des Paragrafen 78 des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Nicht nur sei es aufgrund der restriktiven Einstufung des Grades der Behinderung und wegen der gedeckelten finanziellen Ressourcen für Betroffene äußerst schwierig, Assistenz zu bekommen, sie würden auch durch die Formulierung, vorrangig den Kreis der Familie, Freunde und Nachbarschaft auszuschöpfen, davon abgeschreckt, professionelle Hilfe zu beantragen.

Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass der dritte Satz aus dem Gesetzestext gestrichen werden könne, da er eine Selbstverständlichkeit ausdrücke und darüber hinaus die Betroffenen vor den Kopf stoße. „Muss ich erst mal den gesamten Freundeskreis durchtelefonieren, bevor ich zur Veranstaltung um die Ecke kommen kann?“, illustrierte Schenk die Situation, vor die die Regelung die Betroffenen stelle. Ob bei der Formulierung von Gesetzestexten oder Einladungen, beim Städtebau oder der Errichtung neuer Institutionen wie der Engagement-Stiftung: „Nehmen Sie Menschen mit Behinderung von vornherein mit“, warb Schenck, „entscheiden Sie nichts ohne uns über uns.“

Kemnitzer: Am Anfang bei Einbindung von Behinderten

Tobias Kemnitzer, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen, berichtete von einem Modellprojekt, an dem die Bundesarbeitsgemeinschaft beteiligt ist, das systematisch versucht und untersucht hat, wie sich vor Ort, auf lokaler Ebene, die Inklusion von Menschen mit Behinderung vorantreiben lässt und sich Behinderte stärker zu freiwilligem Engagement einladen lassen, statt diese mit ihren Problemen allein zu lassen und auf deren Bewerbung zu warten. Zehn Jahre nach Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention stehe man leider immer noch sehr am Anfang, was die Einbindung von Behinderten angehe. Daher seien weitere Anstrengungen dringend nötig.

Es sei schade, dass Unternehmen immer noch ausgezeichnet würden, wenn sie Behinderte beschäftigen. Es gebe zu wenige Modellprojekte, das allgemeine Bewusstsein, dass Behinderte dazu gehörten, sei noch viel zu schwach ausgebildet, stellte Kemnitzer, fest. Er legte Wert darauf, bei der Ansprache von Behinderten von deren individuellen Fähigkeiten auszugehen und sich nicht auf deren Behinderung zu fokussieren. „Behinderte bringen die gleichen Fähigkeiten mit wie alle anderen auch.“

Zu den guten Nachricht gehöre, dass „Inklusion von Menschen mit Behinderung in kleinen Schritten gestaltet werden kann.“ Inklusion müsse nun zunehmend als Strategie, ja als Querschnittsthema, gedacht werden, die „zu einem großen inklusiven Fußabdruck“ werde. Dazu gehöre, das gesamte Thema der Beteiligung von Menschen mit Behinderung breiter zu denken, den Behinderten neue Themenfelder der Beschäftigung zu öffnen und wegzukommen von der Förderung einzelner Projekte und wechselnden Themenkonjunkturen.

Bessenich empfiehlt Koordinierungsstrukturen

Leider seien auch in ihrem Verein noch viel zu wenige Menschen mit Behinderung im freiwilligen Bereich beschäftigt, bedauerte Janina Bessenich, Geschäftsführerin des Caritas Fachverbands Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V., und identifizierte ebenfalls als die zwei wichtigsten Punkte hin zu mehr Durchlässigkeit die Barrierefreiheit und den Zugang zu Assistenzhilfen, die es Menschen mit Behinderung überhaupt erst ermöglichten, ihre Kompetenzen wie andere einzusetzen und die Leistung zu erbringen, die sie möchten.

In der Praxis funktioniere leider vieles noch nicht so, wie das bereits in der Wissenschaft erkannt und vom Gesetzgeber richtigerweise formuliert wurde. Menschen mit Behinderung seien gezwungen, viel zu viel Energie aufwenden, um sich die für sie nötige Unterstützung zu holen, es werde erwartet, dass sie zunächst ihr privates Umfeld ausschöpfen, bevor sie die rare professionelle Unterstützung beantragen. Zum Vereinswesen hätten Behinderte real oft keinen Zugang, weil gerade dort Mittel fehlen, um entsprechende Technik oder Dolmetscher zu bezahlen.

Bessenich plädierte dafür, flächendeckend vor Ort Koordinierungsstrukturen einzurichten, um Menschen mit Behinderung professionell aus einer Hand zu informieren und individuell zu beraten, um für eine größere Zahl von ihnen geeignete Stellen im ehrenamtlichen Bereich zu finden und jeden seinen Kompetenzen entsprechend einsetzen zu können. (ll/12.12.2019)

Liste der geladenen Sachverständigen

  • Janina Bessenich, Caritas Fachverband Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V. 
  • Tobias Kemnitzer, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen e. V.
  • Uwe Nicksch, Sozialhelden e. V.
  • Stefan Schenck, Vizepräsident des Behinderten- und Rehabilitations-Sportverbandes Berlin e. V.
  • Julian Wendel, Würzburg

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