Parlament

Parlamentariergruppe für bal­dige Beitritts­ge­spräche mit West­balkan­staaten

Drei Männer und zwei Frauen stehen nebeneinander in einem Gebäude.

Hansjörg Müller (AfD), deutsche Botschafterin Susanne Schütz, Albaniens Ministerpräsident Edi Rama, Renata Alt (FDP) und Delegationsleiter Josip Juratovic (SPD) in der albanischen Hauptstadt Tirana (Büro Josip Juratovic)

2020 verfügen die Länder des westlichen Balkans in Brüssel mit den EU-Mitgliedern Kroatien und Deutschland, die dann die EU-Ratspräsidentschaft innehaben, über zwei sehr gute Anwälte, um die ins Stocken geratene EU-Integration des Westbalkans voranzutreiben. „Nach der unvermittelten Bremsung durch Frankreich muss der Erweiterungszug wieder in Fahrt kommen“, fordert Josip Juratovic (SPD), Vorsitzender der Deutsch-Südosteuropäischen Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag. Die Europäische Union müsse ihr jahrelanges, durchaus ernst gemeintes Beitrittsversprechen gegenüber dem Westbalkan halten. Wenn die Perspektive der Mitgliedschaft schwinde, dann überlasse man Populisten und Nationalisten das Feld – mit den schlimmsten Folgen für diesen Teil des Kontinents unmittelbar vor den Toren der EU.

„Menschen auf dem Balkan setzen auf die EU“

So unterschiedlich sich die einzelnen Länder des Balkan auch entwickeln, gemeinsam sei den meisten Menschen dort die Hoffnung auf eine bessere und friedliche Zukunft innerhalb der Europäischen Union. „Die Staaten setzen auf die EU-Perspektive und unternehmen erhebliche administrative Anstrengungen, um eines Tages Mitglied zu werden“, so der Außenpolitiker und Balkan-Kenner.

Die EU hat den Ländern des westlichen Balkans bereits vor über zwei Jahrzehnten eine Beitrittsperspektive zugesichert und diese wiederholt bekräftigt. Wie die EU gewähren viele weitere internationale Organisationen den dortigen Ländern Unterstützung, um mit den Herausforderungen nach dem Zerfall Jugoslawiens, vom Konfliktmanagement bis zum wirtschaftlichen Aufbau, fertig zu werden.

Um den Ländern des westlichen Balkans zu signalisieren, dass ihnen der Weg in die EU weiterhin offen steht und sie dabei mit der Unterstützung Deutschlands rechnen können, haben Mitglieder der Deutsch-Südosteuropäischen Parlamentariergruppe eine erste von zwei Delegationsreisen in drei der sechs Staaten des westlichen Balkans unternommen. Damit wollten sie auch den noch jungen Parlamenten in der Region den Rücken stärken. Neben Juratovic gehörten der Delegation Renata Alt (FDP) und Hansjörg Müller (AfD) an.

„EU muss dem Balkan jetzt Beitrittsgespräche anbieten“

„Deutschland tritt klar dafür ein, dass die EU ihr Versprechen einer Beitrittsperspektive für die Westbalkan-Staaten hält“, betont der Vorsitzende der Parlamentariergruppe. Das Ziel einer künftigen Mitgliedschaft müsse jetzt seitens der EU noch einmal klar und deutlich unterstrichen werden. Es sei an der Zeit, mit allen Staaten des Westbalkans formale Beitrittsgespräche zu beginnen, sagt Josip Juratovic. Damit sende man auch eine Botschaft an die Zweifler.

An die Verantwortlichen und die Menschen in der Region sei dies ein wichtiges Signal, dass sie weiterhin willkommen sind und man ihre bereits erbrachten Fortschritte würdigt. Die Skeptiker innerhalb der EU wiederum ließen sich damit besänftigen, dass die Aufnahme von Beitrittsgesprächen ja kein konkretes Datum enthalte, mithin keine „Freifahrkarte“ in die EU sei, sondern jedes Land für sich nach einem einheitlichen Katalog von Kriterien beurteilt wird.

„Nicht den Populisten das Feld überlassen“

Die Menschen im westlichen Balkan würden zu Recht ungeduldig. Sollte die EU den Anschein erwecken, der Region die Tür auf absehbare Zeit zu verschließen, setze sie drei Jahrzehnte erfolgreicher Stabilisierungsbemühungen leichtfertig aufs Spiel, betont der SPD-Abgeordnete. Wenn die Balkanländer wie Albanien und Nordmazedonien jetzt nicht eines nach dem anderen die nächste Stufe Richtung EU in Form von Beitrittsgesprächen nähmen, würden erneut Populisten und Nationalisten die Region aufmischen, ist sich Juratovic sicher.

Unter den Verantwortlichen vor Ort greife die Sorge um sich, dass die EU über die getroffenen Verabredungen hinaus neue politisch motivierte Kriterien und Hürden aufstellen werde. Das sei den Menschen nicht mehr zu vermitteln, die Zustimmung zur EU drohe zu schwinden. Um den „Berliner Prozess“ der wirtschaftlichen Entwicklung des westlichen Balkans (seit der Konferenz der Westbalkanländer mit der EU im Jahr 2013) fortzusetzen, brauche es jetzt als neuen Impuls die EU-Beitrittsgespräche. Beides, Beitrittsperspektive und Entwicklung, seien Voraussetzung für politische Stabilität und Sicherheit auf dem Balkan.

„Demokratie und Parlamenten den Rücken gestärkt“

Hauptgesprächspartner der Abgeordnetendelegation seien – entsprechend dem Selbstverständnis der Parlamentariergruppen – in allen drei besuchten Ländern die dortigen Parlamentarier gewesen. Die Deutschen trafen in den Parlamenten in Albanien, Nordmazedonien und Kosovo Mitglieder der dortigen Freundschaftsgruppen und ausgewählter Fachausschüsse und wurden von den Parlamentspräsidenten empfangen. Indem man den Schwerpunkt auf Gespräche mit den Abgeordneten lege, wolle man den Parlamentarismus in den sich neu formierenden Staaten stärken und den Wert der Demokratie unterstreichen, so Juratovic.

Überall in der Region sei der Demokratisierungsprozess noch ein zartes Pflänzchen. Rückschritte seien stets möglich. Vor allem die innerparteiliche Demokratie gelte es zu stärken, das Parteiwesen habe sich als Organisationsform des politischen Willens noch nicht durchsetzen können. Ein politischer Wettbewerb der Ideen, das Ringen um den besten Weg, Kompromissfindung – all das müsse auf dem Balkan noch eingeübt werden. „Noch herrscht in den Balkanländern, übrigens durch und durch politisierten Gesellschaften, ein sehr autoritärer Politikstil. Man schenkt sich nichts“, erklärt Juratovic. So sei Albanien politisch in zwei Lager aufgespalten, und das bedeute in diesem Land: Die Gewinner lassen die Verlierer ihren Sieg spüren.

„Delegationsbesuch trägt zur Entspannung der Lage bei“

Bei einem politischen Machtwechsel würden stets alle Verantwortlichen und Mitarbeiter ausgetauscht. Eine institutionelle Kontinuität über die Beschäftigten gebe es nicht. Und Ministerpräsident Edi Rama von der Sozialistischen Partei regiere derzeit ohne parlamentarische Opposition, weil die rechtsgerichtete Demokratische Partei das Parlament boykottiere. Derart unvollständig könne das Parlament nicht mehr mit voller Legitimität als Repräsentant des Volkes gelten.

Bei jeder Gelegenheit habe die Bundestagsdelegation in Albanien daher versucht, mäßigend auf die beiden ineinander verhakten politischen Lager einzuwirken. Letztlich trage ein solcher Delegationsbesuch zu einer Entspannung der Lage bei, indem man als Bundestag gute Werbung für den Parlamentarismus und die politische Kultur mache, zeigt sich Juratovic überzeugt. Neben den Parlamentariern haben die deutschen Abgeordneten in allen drei Ländern Regierungsmitglieder sowie Vertreter der Wirtschaft und Zivilgesellschaft getroffen.

„Absage an Albanien fördert Nationalismus“

Hochrangigster Gesprächspartner der Delegation war der albanische Ministerpräsident Edi Rama, der seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck gebracht habe, dass die EU noch keine Beitrittsgespräche mit seinem Land aufnehmen wolle. „Wir waren uns mit dem albanischen Premier einig, dass wir die EU-Mitglieder, die sich nun ins Bremserhäuschen gesetzt haben, Frankreich vorneweg, davon überzeugen müssen, an der Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit den Balkanländern festzuhalten“, sagt Juratovic.

„Wir dürfen mit Albanien nicht das machen, was wir mit der Türkei gemacht haben“, mahnt Juratovic und meint damit, dass man das Land nicht jahrelang mit immer neuen politisch motivierten Ausreden und Hürden hinhalten dürfe. Die Türkei ist seit über 20 Jahren offizieller Beitrittskandidat für die EU und befindet sich seit 2005 in Beitrittsgesprächen mit Brüssel. Entweder bekämen Albanien und Nordmazedonien und später auch Kosovo ihre Chance im Rahmen förmlicher Beitrittsgespräche, oder der ganzen Region drohe sicherheitspolitisch der Absturz.

„Albanien ist ein Schlüsselstaat“

„Albanien ist für die Entwicklung des westlichen Balkans ein Schlüsselstaat. Wenn die EU Tirana nicht die Hand reicht, kann dies zu einer neuen Welle des Nationalismus führen und die gesamte Region in eine schwere Krise stürzen“, unterstreicht Juratovic.

Die Zeit laufe gegen die gemäßigten Kräfte, Demokraten und EU-Befürworter. Eine Zeit lang, und bei einem einigermaßen klaren Fahrplan in die EU, könne Rama einen aufkommenden großalbanischen Nationalismus noch in Schach halten, auch in den teils von Albanern bewohnten Nachbarländern Kosovo und Nordmazedonien, schätzt Juratovic. Je mehr Zeit allerdings verstreiche, desto schwerer werde das durchzuhalten sein. Außerdem werde der Premier irgendwann an sein eigenes politisches Überleben denken und den Nationalismus für sich selbst instrumentalisieren - mit allen Konsequenzen, die Nationalismus und neue Grenzfragen - statt europäischer Integration - dann für die Region mit sich brächten.

„Albanien hat viele Vorleistungen erbracht“

Momentan laufe auf albanischer Seite noch alles verabredungsgemäß. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus habe das Land einen schwierigen Transformationsprozess durchgemacht. Korruption und organisierte Kriminalität seien weiter ein Riesenproblem. Aber Albanien sei reformbemüht und habe bereits viele Vorleistungen für den EU-Beitritt, wie sie in den Kapiteln der Beitrittsagenda gefordert werden, erbracht. Die Regierung habe auch bei politisch schwierigen Themen guten Willen gezeigt und beispielsweise zweifelhafte Richter getauscht sowie das Wahlrecht reformiert. Das Land stehe zudem 2020 im internationalen Rampenlicht, da es in diesem Jahr den Vorsitz in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) innehabe.

Albaniens Beitritt zur EU wäre, obwohl das Land noch große Probleme habe, nicht „problematischer“ als der anderer Länder, die sich schon weiter vorne in der Beitrittsregatta befinden, sagt Juratovic. Aber die EU müsse zu ihrer Zusage stehen. „Frankreich sollte seine Blockade aufgeben und Albanien und auch Nordmazedonien mit dem Beitrittsprozess beginnen lassen.“ Alle Hoffnungen ruhten nun auf der kroatischen und der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in diesem Jahr, die das Thema zu einer Priorität machen müssten.

„Drei Jahrzehnte Stabilisierung nicht aufs Spiel setzen“

Das sei nicht nur eine Frage der Glaubwürdigkeit für Brüssel. Die EU würde außerdem ihre außenpolitischen Erfolge auf dem Balkan leichtfertig aufs Spiel setzen und ihren Handlungsspielraum in der Region ohne Not einschränken. Nur indem Brüssel den Dialog mit dem Balkan in Beitrittsgespräche überführe, ließen sich die politischen und gesellschaftlichen Prozesse innerhalb der Region weiter zum Positiven hin und im EU-Sinne beeinflussen, so der Außenpolitiker. Lasse man dagegen den Westbalkan außen vor und stoße die Menschen dort derart vor den Kopf, drohe aus dem Westbalkan erneut ein unregierbarer Raum vor den Toren der EU zu werden, mit allen sicherheitspolitischen Risiken.

Die Aufnahme von Beitrittsgesprächen bedeutet nach Ansicht Juratovics nicht, dass die betroffenen Länder schon reif für die Mitgliedschaft sind. Aber die formalen Gespräche würden bereits dahingehend wirken, dass die Balkanländer, jedes nach seinen Möglichkeiten, die Beitrittskriterien schneller erfüllten. Dies sei ein direkter Beitrag zu mehr Sicherheit in Südosteuropa. Der formale Beitrittsprozess werde zudem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Region stärken. Mehr noch: „Ohne EU-Beitrittsprozess haben die Demokraten vor Ort keine Chance“, warnt Juratovic. Und das gehöre doch zu den Grundwerten, die die EU mit der Beitrittsoption vermitteln wolle: die Demokratie zu stärken.

„Auf die Jugend kommt es an“

Höchste Priorität messe die Parlamentariergruppe der Jugendpolitik bei, betont der Vorsitzende der Paralmentariergruppe. In allen drei besuchten Ländern habe die Delegation Vertreter des internationalen Jugendnetzwerkes auf dem Balkan „Regional Youth Cooperation Office“ (RYCO) getroffen. Die von den sechs Ländern des Westbalkans getragene Einrichtung, die auch aus Deutschland Unterstützung erhält, fördere Versöhnung und Zusammenarbeit in der Region durch Austauschprogramme unter jungen Leuten.

Den regionalen Jugendaustausch zu organisieren sei die eine Herausforderung. Schwerer wiege drüber hinaus, dass ein Großteil der Jugendlichen gar nicht mehr da sei. Es rühre an die Existenz dieser Länder, dass zahlreiche junge Leute, vor allem die Gebildeten, ihrer Heimat den Rücken kehren und auswandern. Die Dagebliebenen aber seien völlig dem gesellschaftlichen System und den von Feindbildern ausgefüllten Argumentationsmustern ausgeliefert. „Jugendliche auf dem Balkan sind heute nationalistischer als ihre Eltern“, weiß Juratovic. Diesen engen nationalen Resonanzrahmen zu durchbrechen, sei die Aufgabe des Jugendnetzwerkes RYCO.

Darüber diene ein gemeinsames, von Sachverständigen aller Balkanländer verfasstes Geschichtsbuch, das sich speziell an Jugendliche richtet, der Verständigung. Es könnte die nötige, von allen akzeptierte Faktengrundlage schaffen, auf der man zusammenarbeiten und sich dem weiteren staatlichen und wirtschaftlichen Aufbau zuwenden könne, ohne über die Vergangenheit in Streit zu geraten.

Wirtschaftlich unbedeutend

Wirtschaftlich weitgehend unbedeutend, bräuchten die Westbalkanländer die Perspektive der EU-Integration und den Zugang zum Binnenmarkt auch, um sich wirtschaftlich zu entwickeln. Das würde dringend benötigte ausländische Investitionen nach sich ziehen, Arbeitsplätze schaffen und so vielleicht auch irgendwann eine Trendumkehr bei der Abwanderung der Jugend und der Fachkräfte bewirken.

Die Handelsbeziehungen mit der EU und auch die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland bewegten sich bislang auf sehr niedrigem Niveau. Der fachliche Austausch mit Deutschland, beispielsweise die Unterstützung beim Aufbau von Institutionen im Vorfeld der EU-Integration, erfahre allerdings sehr viel Lob. Auf allen Ebenen engagiere sich die Bundesrepublik überdurchschnittlich, das wüssten die Verantwortlichen in allen Ländern der Region zu schätzen. Bei den Menschen in Albanien, im Kosovo und in Nordmazedonien habe Deutschland einen exzellenten Ruf, so Balkan-Kenner Juratovic.

Die EU und ihre Mitgliedsländer seien allerdings nicht die einzigen Akteure in der Region. Seit einigen Jahren verfolgten dort verstärkt China und die Türkei mit teils umfangreichen Investitionen eigene politische, zumeist der EU diametral entgegengesetzte Interessen.

Nordmazedonien: Absage an den Musterschüler

Bei den Planungen der Delegationsreise sei man noch davon ausgegangen, dass Nordmazedonien zum Selbstläufer in die EU wird, erzählt Juratovic, vor allem, nachdem die Nordmazedonier einen sehr großen Schritt gemacht und im Namensstreit mit Griechenland eingelenkt hatten. „Skopje hat alle Hausaufgaben erledigt, die Brüssel für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen verlangt“, so der Außenpolitiker. Das Land sei sogar so etwas wie der demokratische Musterschüler der Region geworden.

Umso enttäuschender sei dann das „Nein“ aus Paris gewesen. „Wir müssen das jetzt schnell ausbügeln und Nordmazedonien ein positives Signal aus der EU senden. Jedes der Balkan-Länder muss in formalen Beitrittsgesprächen seine faire, individuelle Chance entsprechend seiner Fortschritte bekommen“, betont Juratovic. In der Hauptstadt Skopje sprach die Delegation mit den dortigen Parlamentariern, dem Präsidenten des Parlaments, Mitgliedern der Nordmazedonisch-Deutschen Freundschaftsgruppe, des Europaausschusses und des Auswärtigen Ausschusses und traf Vertreter der Außenhandelskammer und der deutschen Wirtschaft.

Kosovo: jüngster Staat in Europa

Gespräche mit Parlamentsangehörigen standen auch im Zentrum des Besuchs im Kosovo, wo sich die Delegation in der Hauptstadt Pristina unter anderem mit dem Parlamentspräsidenten, mit Mitgliedern der Kosovarisch-Deutschen Freundschaftsgruppe, des EU-Ausschusses und des Auswärtigen Ausschusses traf, aber auch mit Vertretern der Zivilgesellschaft und der dort tätigen internationalen Organisationen.

Juratovic erinnert daran, dass das Who’s who der internationalen Organisationen weiterhin im Kosovo präsent sei, von der EU über die OSZE und Nato bis zu den Vereinten Nationen – allesamt mit langjährigen Hilfsmissionen wie der Rechtsstaatsmission Eulex oder der Friedenstruppe Unmik. Nur die andauernde Präsenz der internationalen Gemeinschaft garantiere überhaupt die Existenz dieses jüngsten staatlichen Gebildes in Europa.

Einerseits wird das Kosovo nach Informationen des Auswärtigen Amtes mittlerweile von der knappen Mehrheit der Länder der Welt als Staat anerkannt. Die Eigenstaatlichkeit der ehemaligen autonomen serbischen Provinz, die im Februar 2008 ihre Unabhängigkeit erklärte, wird allerdings von Serbien angefochten. Laut der Belgrader Verfassung ist Kosovo weiterhin integraler Bestandteil Serbiens. Noch gibt es daher keine international unstrittige Grenze, was zu zahlreichen rechtlichen Schwierigkeiten führt.

Einige EU-Mitglieder haben daher weiterhin große Vorbehalte gegen ein souveränes Kosovo und wenden sich strikt gegen Erleichterungen bei der Reisefreiheit in die EU für Bürger des Kosovso. Vor allem Länder wie Spanien verhielten sich aus Furcht vor Separatismus im eigenen Land äußerst zurückhaltend gegenüber Zugeständnissen an das Kosovo, während aus deutscher Sicht einer Visaliberalisierung nichts im Wege stehe, so Juratovic.

Mitrovica: Hochburg des kosovo-albanisch-serbischen Konflikts

Der unklaren Statusfrage des Kosovos liegt der Konflikt zwischen der dortigen serbischen Minderheit, die nach Souveränität strebt, und der albanisch-kosovarischen Bevölkerungsmehrheit, deren radikaler Teil sich am liebsten Albanien anschließen würde, zugrunde. Ausdruck finde die tiefe kosovo-albanisch-serbische Spaltung nirgendwo so deutlich wie in der zwischen Albanern und Serben geteilten Stadt Mitrovica, erklärt Juaratovic. Die deutschen Abgeordneten sprachen dort mit Vertretern der kosovarisch-serbischen Zivilgesellschaft wie auch mit Angehörigen der albanischen Bevölkerungsgruppe.

Sie besuchten mit der Austerlitz-Brücke, die den serbischen und den albanischen Teil Mitrovicas verbindet, einen Ort, der wie kaum ein anderer symbolhaft für den Kosovo-Konflikt steht. Eigentlich ein schlichter, funktionaler Betonbau über den Fluss Ibar, ist die Brücke  immer wieder Ort von Provokationen und Protesten zwischen beiden Bevölkerungsgruppen. Kosovarische Polizei-Einheiten sowie Angehörige der internationalen Schutztruppe halten hier permanent Wache. Von den Einheimischen werde die Brücke im Stadtzentrum wegen ihres Rufes als Ort der Konflikte gemieden, so Juratovic.

Kosovo als EU-Kandidat

Auch das Kosovo sei als Kandidat für die EU zu behandeln, mahnt Juratovic. Dem Land sei ebenso wie seinen Nachbarn die Perspektive einer Mitgliedschaft in Aussicht gestellt worden. Und Pristina wolle beim Thema EU-Beitritt gleichberechtigt behandelt werden, genauso wie Kroatien, das bereits 2013 der Union beigetreten ist, und wie Albanien, Nordmazedonien oder Serbien, die auf ihre Gelegenheit warten. Nirgendwo blockierten sich freilich die ethnischen Bevölkerungsgruppen in einem der neuen  Staatswesen des Balkans so sehr wie im Kosovo und bremsten sich damit auch selbst aus auf ihrem möglichen Weg in die EU, gibt der Außenpolitiker zu bedenken.

Zwar gebe es Versuche aus der Zivilgesellschaft, Brücken der Versöhnung zu bauen, zur Entspannung beizutragen. Aber das sei ein äußerst langwieriges und frustrierendes Geschäft. Jede noch so unbedeutende praktische Frage des Alltags sei im Kosovo emotional aufgeladen, weiß Juratovic. „Jedes Entgegenkommen gegenüber der anderen Seite wird von den eigenen Leuten als Verrat gewertet.“ Und die Fronten hätten sich in letzter Zeit weiter verhärtet. Eine Verständigung mit Serbien sei schwieriger geworden, nachdem im Oktober unter den Kosovo-Albanern die antiserbischen Nationalisten die Wahl gewonnen hätten.

„Frühe Fehler der EU“

Juratovic weist darauf hin, dass die EU bei ihrem Umgang mit dem „Pulvergemisch der Nationalismen“ des Balkans von Beginn an Fehler gemacht habe. „Wir haben uns nicht genug Mühe gemacht, echte demokratische Institutionen aufzubauen und haben nie darauf bestanden, unsere Werte in der Zusammenarbeit richtig zu verankern, ja als Voraussetzung für Zusammenarbeit zu betrachten. Ohne dieses Verständnis aber verlieren die Integration und die Erweiterung an Sinn.“

Die Balkanländer hätten das Thema Werte, das stets lediglich „als Hintergrundrauschen“ der Zusammenarbeit mitgelaufen sei, schließlich ignoriert. Die EU habe den Fokus zu einfach auf Pluralismus und den Aufbau funktionierender staatlicher Institutionen gerichtet, statt auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu bestehen. So seien Nationalisten für den Zerfall Jugoslawiens belohnt worden, die Macht der alten Eliten habe sich verfestigt. „Wir haben aber nicht einfach den Zerfall Jugoslawiens finanzieren wollen und haben nicht gemeint: Jetzt soll jeder für sich nationalistisch sein.“

Zuzuschreiben sei diese Entwicklung einer Verkettung unglücklicher Umstände, erinnert sich Juratovic. Die EU war damals abgelenkt und überfordert. Es war die Zeit des Völkermords in Ruanda und anderer weltpolitischer Ereignisse – und der Balkan lief irgendwie im Schatten der großen Politik nebenher. Jetzt müsse man aber mit der Situation umgehen und vorausschauen.

„Deutsch-französische Einigung über Balkan nötig“

Zu einem geeigneten Zeitpunkt gelte es aber zunächst Frankreich umzustimmen. Dazu müsse die kroatische Präsidentschaft den Beitritt der Westbalkanstaaten am besten im März auf die Tagesordnung setzen. Dabei gelte es, eine Reihe nationaler und internationaler Termine im Auge zu behalten – von den Kommunalwahlen in Frankreich im März über die Parlamentswahlen in Nordmazedonien im April bis zum für Mai geplanten Westbalkan-Gipfel in Zagreb.

Er rate den Kroaten, das Thema bereits frühzeitig auf die Agenda zu setzen und nicht bis Mai zu warten, so Juratovic. „Wir müssen den Menschen auf dem Balkan, in Nordmazedonien einen Durchbruch präsentieren, den Politikern dort etwas Greifbares in die Hände geben – sonst räumen die Populisten ab.“ Die Balkanländer müssten zudem ihr Lobbying in eigener Sache in Paris noch verstärken. Letzten Endes aber müssten sich Deutschland und Frankreich in der Balkan-Frage einmal grundsätzlich einigen, so Juratovic: „Wir werden in irgendeiner Form einen Kompromiss machen müssen.“ (ll/14.01.2020)

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