1. Untersuchungsausschuss

„Falsche Einschätzungen“ im Berliner Landes­kriminalamt

Straßenbeschilderung Breitscheidplatz

Der Untersuchungsausschuss befragt drei Polizeibeamtinnen zum Fall des Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri. (picture-alliance/Pacific Press Agency)

Das Berliner Landeskriminalamt hat sich im Umgang mit dem späteren Attentäter Anis Amri von falschen Einschätzungen leiten lassen. Dies räumte die damalige Abteilungsleiterin des Polizeilichen Staatsschutzes (LKA5), Jutta Porzucek, am Donnerstag, 30. Januar 2020, vor dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) unter Vorsitz des Abgeordneten Klaus Dieter Gröhler (CDU/CSU) ein: „Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass der spätere Täter nicht die Gefährlichkeit aufwies, die er dann unter Beweis gestellt hat.“ Sie selbst sei mit operativen Entscheidungen allerdings zu keinem Zeitpunkt befasst gewesen, betonte die heute 58-jährige Zeugin, die seit einem Jahr im Rang einer Polizeidirektorin beim Polizeipräsidenten für die Sicherheit im Berliner Norden zuständig ist.

Zeugin: Dezernate handeln „sehr autark“

Auch den Namen Anis Amri, sagte Porzucek, habe sie erst nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 bewusst zur Kenntnis genommen. Es könne sein, dass der Mann bereits vorher in einer Besprechung in ihrer Gegenwart erwähnt worden sei: „Er hat aber wie viele Namen bei mir – ich habe den nicht abgespeichert.“ Sie sei als Abteilungsleiterin über Details des Ermittlungsgeschäfts nur soweit informiert worden „wie notwendig“. Darüber zu entscheiden, habe den ihr untergebenen Dezernaten oblegen, die die Zeugin als „sehr autark, sehr kompetent und fachverantwortlich“ beschrieb.

Sie habe in ihrer Abteilung über „total kompetente Führungskräfte“ verfügt, die durchaus in der Lage gewesen seien, eigenständig zu beurteilen, was die Chefin erfahren musste. Im Fall Amri sei dies im Laufe des Jahres 2016 kein einziges Mal für notwendig erachtet worden. Ihr sei auch nicht zur Kenntnis gelangt, was im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) der deutschen Sicherheitsbehörden über Amri besprochen wurde. Dies habe ohnehin nicht zu ihren „standardmäßigen Aufgaben“ gehört: „Es hätte eine Rücksprache mit mir gegeben, wenn die Einschätzung der Mitarbeiter so gewesen wäre, dass ich das als Dienstellenleiterin wissen musste.“ Dass das Berliner LKA im GTAZ in der Regel durch subalternes Personal vertreten war, sei ihr damals „als problembehaftet nicht aufgefallen“.

Fehleinschätzung im Umgang mit Amri

Aus heutiger Sicht sei klar, dass ihre Behörde sich im Umgang mit Amri falsch verhalten habe, sagte die Zeugin: „Ich glaube nur, dass es nach damaligem Wissensstand durchaus Erklärungen gegeben haben kann, zu einer solchen felhlerhaften Einschätzung zu kommen.“ Amri sei einer von „sehr vielen Gefährdern“ gewesen, deren Zahl die Zeugin „im mittleren zweistelligen Bereich“ verortete: „Wir haben andere Personen gehabt, die uns zu diesem Zeitpunkt wesentlich mehr Gefährlichkeit entgegengebracht haben.“ Auf Nachfrage konnte sich die Zeugin allerdings an keinen einzigen Namen aus dem Kreis der damaligen Gefährder erinnern: „Ich bin seit über einem Jahr raus aus dem Staatsschutz, insofern brauche ich die heute nicht mehr zu kennen. Ich brauchte mir die Namen nicht zu merken.“

Dass Amri im Sommer 2016 nur an zwanzig Tagen in sehr eingeschränktem Maße observiert wurde, habe mit Sicherheit nichts mit Personalmangel zu tun gehabt, betonte die Zeugin. Sie wäre sonst darüber informiert worden und hätte für Abhilfe gesorgt. Vielmehr sei der „Mehrwert“ einer weiteren und intensiveren Observation wohl nicht gesehen worden. Dass Amri im Laufe des Jahres 2016 ständig als Nummer eins unter den islamistischen Gefährdern in Berlin gegolten habe, schloss die Zeugin aus. Warum? „Weil er dann observiert worden wäre – wir sind Fachleute.“

„Amri kontrolliert an die Landespolizei übergeben“

Im weiteren Verlauf der Sitzung berichteten zwei Beamtinnen der Bundespolizei dem Untersuchungsausschuss über ihre Rolle beim gescheiterten Ausreiseversuch Amris im Sommer 2016. Es sei ihnen darum gegangen zu verhindern, dass ein erkannter islamistischer Gefährder unkontrolliert in Europa herumfahren und womöglich als Dschihadist nach Syrien gelangen könne, sagten Polizeidirektorin Julia Buchen und Kriminalhauptkommissarin Jana Seeber. Amri war am 30. Juli 2016 kurz nach Mitternacht in Friedrichshafen von Beamten der Bundespolizei aus einem Flixbus geholt und an der beabsichtigten Weiterreise nach Zürich gehindert worden.

Die Zeugin Buchen hatte damals in der Bundespolizeidirektion Stuttgart nächtlichen Bereitschaftsdienst als „Entscheidungsbeamtin“ für knifflige Fälle, die auch in Abwesenheit der hauptamtlich Verantwortlichen einer raschen Lösung bedurften. Nach eigenen Worten war sie es, die nach einigen Telefonaten mit der unmittelbar zuständigen Bundespolizeiinspektion Konstanz und dem Bundespolizeipräsidium in Potsdam schließlich anordnete, Amri nach Paragraf 46 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes die Ausreise zu verwehren. „Mir war wichtig, dass Amri nicht unkontrolliert in ein Nachbarland ausreist, sondern kontrolliert an die Landespolizei übergeben wird“, begründete sie vor dem Ausschuss ihre Entscheidung.

„Amri war kein normaler Reisender“

Nach Aktenlage wurde Amri um 0.11 Uhr in Friedrichshafen aus dem Bus geholt. Um 0.46 Uhr erreichte die Zeugin Buchen zu Hause ein Anruf aus ihrer Dienststelle, mit dem sie über den Fall unterrichtet und zugleich über die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden zur Person Amris informiert wurde. Der Mann, sagte sie, habe ein Straftatenregister aufzuweisen gehabt, das „mir immer noch eine Gänsehaut verschafft“. Die Beamten in Friedrichshafen hatten bei Amri einen gefälschten italienischen Personalausweis gefunden sowie, eingenäht in eine Jacke, auf den zweiten Blick noch einen weiteren. Für sie sei damit klar gewesen, sagte Buchen, dass Amri „kein normaler Reisender“ war.

Mit dem Dienstgruppenleiter der Polizeiinspektion in Konstanz führte die Zeugin noch eine längere Diskussion über die Rechtsgrundlagen einer möglichen Ausreiseuntersagung. Als Handhabe kam Amris Status als eingestufter islamischer Gefährder in Frage, was der Konstanzer Kollege indes nicht für gerichtsfest gehalten habe. Der einfachere Weg sei gewesen, Amri die Weiterreise zu verwehren, weil er keinen gültigen Ausweis besaß: „Meine Motivation, Amri im Land zu behalten, war nicht, ihn zwingend im Land zu behalten, sondern präventionspolizeilich zu verhindern, dass Amri nach Syrien ausreist, sich als Terrorist ausbilden lässt, nach Deutschland zurückkehrt oder in Italien einen Anschlag begeht.“ Dazu bestehe seit 2014 auch eine völkerrechtliche Verpflichtung durch eine einschlägige Resolution des UN-Sicherheitsrats.

„Amri die Ausreise verwehren“

Auch die Zeugin Seeber hatte damals Nachtschicht als Sachbearbeiterin im Führungs- und Lagedienst des Bundespolizeipräsidiums. Sie hatte Amri seit Dienstbeginn um 18.30 Uhr auf dem Schirm, nachdem das Berliner Landeskriminalamt am Nachmittag entdeckt hatte, dass er sich in südlicher Richtung bewegte, und seine Reiseroute verfolgte.

In mehreren Telefonaten mit dem Dienstgruppenleiter in Konstanz drang auch Seeber darauf, ihm die Ausreise zu verwehren, da die Gefahr nicht auszuschließen sei, dass er nach Syrien in den Dschihad strebte. (wid/31.01.2020)

Liste der geladenen Zeugen

  • Jutta Porzucek, Direktorin beim Polizeipräsidenten, Leiterin der Direktion 1 der Berliner Polizei
  • Julia Buchen, Polizeidirektorin, Bundespolizeidirektion Stuttgart
  • Jana Seeber, Polizeihauptkommissarin, Bundespolizeipräsidium Potsdam
  • M. S., Regierungsdirektor, Bundesnachrichtendienst (nichtöffentlich)  



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