1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: Berliner Polizei war „ein Stück weit überfordert“

Verkehrsbarrikaden am Berliner Breitscheidplatz

Verkehrsbarrikaden am Berliner Breitscheidplatz (© picture alliance/ZUMA Press)

Die Berliner Polizei war am Abend des radikalislamischen Terroranschlags vom 19. Dezember 2016 auf dem Breitscheidplatz nach den Worten eines zuständigen Beamten „ein Stück weit überfordert“. Es habe fünf Stunden gedauert, bis das Landeskriminalamt mit hinreichender Personalstärke am Tatort gewesen sei, sagte der unmittelbar nach dem Attentat verantwortliche Einsatzleiter Jörg E. am Donnerstag, 12. März 2020, dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) unter Vorsitz von Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU). Der heute 54-jährige Kriminalhauptkommissar arbeitet seit zehn Jahren im Kriminaldauerdienst der für die Bezirke Spandau und Charlottenburg-Wilmersdorf zuständigen Berliner Polizeidirektion 2 und war dort am Abend des 19. Dezember 2016 als Schichtleiter eingesetzt.

„Gespenstische Stille am Tatort“

Um 20.02 Uhr sei über Funk die Meldung eingegangen, dass auf dem Breitscheidplatz ein Lastwagen in den Weihnachtsmarkt gerast sei, sagte der Zeuge und betonte, er habe von vornherein nicht geglaubt, dass es sich um einen Unfall handelte. Die Bilder des islamistischen Terroranschlags in Nizza im Juli desselben Jahres seien ihm durch den Kopf gegangen. Ein „Bauchgefühl“ habe ihm gesagt, dass hier ein vergleichbares Szenario vorlag.

Als er gegen 20.25 Uhr mit drei ihm unterstehenden Ermittlerteams am Breitscheidplatz eingetroffen sei, habe dort zu seiner Überraschung eine „gespenstische Stille“ geherrscht. Die Szene sei vom Blaulicht der Einsatzwagen beleuchtet gewesen. Feuerwehrleute hätten sich schweigend und konzentriert um die Verletzten gekümmert. Der Tatort sei mit Flatterband abgesperrt, die Plane des Lastwagens aufgeschlitzt gewesen, was erforderlich war, um die Ladung zu identifizieren.

„Zeugensammelstelle eingerichtet“

Die Leiche des vom Attentäter Anis Amri erschossenen polnischen Fahrers sei bereits aus dem Führerhaus geborgen gewesen. Ihm sei mitgeteilt worden, der Mann werde in einem Rettungswagen reanimiert, berichtete der Zeuge. Dass er einen Kopfschuss hatte, sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennbar gewesen. Erst als weit nach Mitternacht ein Foto der Leiche auf dem Bildschirm  eines Polizeicomputers vergrößert worden sei, sei das Einschussloch entdeckt worden.

Seine erste Sorge sei gewesen, Aussagen zum Tatgeschehen zu gewinnen, sagte Engel. Eine Zeugensammelstelle sei zunächst bei einem Zelt eingerichtet worden, das die Feuerwehr zur Erstversorgung der Leichtverletzten aufgebaut habe, später in den Räumen einer Autovermietung im Europacenter. Dort seien zwei seiner Teams damit beschäftigt gewesen, Aussagen aufzunehmen. Das dritte Team habe sich an der Absperrung postiert, um Zeugen in Empfang zu nehmen und zur Sammelstelle zu geleiten.

„Keine Handy-Videos festgestellt“

An diesem Abend seien nur Aussagen von Zeugen aufgenommen worden, die sich selber gemeldet hätten. Viele Menschen seien nach dem Anschlag im ersten Schrecken weggelaufen, aber später zum Tatort zurückgekehrt. Die Befragungen am Tatabend hätten jedoch keine fahndungsrelevanten Hinweise erbracht, sagte Engel. Es seien auch keine Handy-Videos festgestellt worden.

Dass zunächst ein Pakistaner als Tatverdächtiger festgenommen wurde, habe er zwischen 21 und 21.30 Uhr erfahren, berichtete der Beamte weiter. Ein Zeuge hatte angegeben, er habe den Mann aus dem Führerhaus klettern und wegrennen sehen. Er habe eine Gegenüberstellung des Zeugen mit dem Festgenommenen veranlasst, sagte Engel. Bereits um 22 Uhr habe ihn der damit betraute Kollege informiert, dass der Pakistaner als Täter nicht infrage kam. Warum er dennoch bis zum Folgetag festgehalten wurde, wisse er nicht.

Mehr als 600 Hinweise aus der Bevölkerung

Nach dem radikalislamischen Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz hat das Bundeskriminalamt (BKA) mehr als 600 Hinweise aus der Bevölkerung in Form von Fotos und Videos erhalten. Auf einem entsprechenden Internetportal seien 651 Datensätze eingegangen, bei denen es sich aber nicht ausschließlich um relevantes Bildmaterial handelte, berichtete ein damals mit der Auswertung befasster Beamter im weiteren Verlauf der Sitzung.

Der heute 47-jährige Kriminalhauptkommissar T. V. ist seit 1992 im BKA tätig, seit Herbst 2016 im Ermittlungsbereich des Polizeilichen Staatsschutzes. Seit Mitte Februar 2017 war er der „EG Video“ des Berliner Landeskriminalamts zugeteilt, die im brandenburgischen Schulzendorf das Bildmaterial sichtete.

Plattform Ziel eines Hackerangriffs

Unter dem Arbeitstitel „Boston Cloud“ schaltete das BKA am Morgen nach dem Anschlag ein Internetportal frei, wo Hinweisgeber auch anonym ermittlungsrelevante Videos hochladen konnten. Bereits am selben Nachmittag wurde die Plattform zum Ziel eines zweistündigen Hackerangriffs.

Unter den gesammelten Datensätzen seien daher auch einige, die die eigenen IT-Experten bei der Abwehr dieser Attacke zu Testzwecken aufgespielt hätten, sagte der Zeuge. In anderen Fällen hätten Bürger sich einen Scherz gemacht und Katzenvideos oder Diebstahlsanzeigen hochgeladen. Es seien auch Hinweise auf Bilder eingegangen, die andernorts in sozialen Netzwerken kursierten.

Aufnahmen aus Überwachungskameras

Die Ausbeute der „Boston Cloud“ habe in der Gesamtmasse des Bildmaterials, das in Schulzendorf gesichtet wurde, nur einen  „veschwindend“ geringen Prozentsatz ausgemacht, sagte der Zeuge. Zum weit überwiegenden Großteil habe es sich um Aufnahmen aus Überwachungskameras gehandelt.

Die Auswertung des Bildmaterials hat seither hin und wieder Anlass zu spekulativen Erörterungen gegeben. Im Mittelpunkt standen dabei das Bild eines Mannes in blauen Handschuhen sowie das sogenannte „Ersthelfervideo“. Bei dem Behandschuhten soll es sich um Bilel ben Ammar gehandelt haben, einen engen Freund des Attentäters Anis Amri, der diesem tatkräftig Beihilfe geleistet und nach dem Anschlag den Weg freigeschlagen haben soll. Das „Ersthelfervideo“ soll Aufschluss über das Schicksal eines am Tatort Anwesenden geben, der dort unter ungeklärten Umständen eine schwere Kopfverletzung mit bleibenden gesundheitlichen Folgen erlitt.

Videosequenzen sorgen für Aufsehen

Zu beiden Sachverhalten hatte der Zeuge allerdings nichts Neues beizutragen. Es habe im Kollegenkreis „unterschiedliche Auffassungen“ gegeben, ob der Mann mit den blauen Handschuhen Ben Ammar war. Er selbst wie letztlich die Mehrheit seien der Überzeugung gewesen, dass Ben Ammar nicht im Bild war. Bei dem „Ersthelfervideo“ handele es sich um eine Sequenz, an deren Ende „wahrscheinlich eine körperlich-verbale Auseinandersetzung wahrscheinlich zweier Männer“ zu sehen sei. Doch seien „weder Anlass noch Verlauf noch Ausgang dieser Auseinandersetzung zu erkennen“.

Für Aufsehen sorgte die Vorführung mehrerer Videosequenzen aus Überwachungskameras der Berliner Verkehrsbetriebe. Man sieht hier Anis Amri Minuten nach dem Anschlag völlig entspannt, proper gekleidet und federnden Schrittes durch eine Unterführung schlendern. Nichts lässt vermuten, dass er gerade einen Weihnachtsmarkt überrollt und zwölf Menschen umgebracht hat. Den AfD-Obmann Stefan Keuter bewegte der Eindruck dieser Bilder zu der in eine Frage gekleideten Andeutung, dass Amri womöglich gar nicht der Täter gewesen sei. (wid/12.03.2020)

Liste der geladenen Zeugen

  • A. H., Kriminalhauptkommissar, Bundeskriminalamt
  • T. V., Kriminalhauptkommissar, Bundeskriminalamt
  • Jörg E., Kriminalhauptkommissar, Polizei Berlin

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