1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: BKA konnte Bedrohungen im Frühjahr 2016 noch nicht beurteilen

Gelbes Schild mit Bundesadler und dem Schriftzug Bundeskriminalamt

Der Untersuchungsausschuss befragte am 7. Mai drei Mitarbeiter des Bundeskriminalamts als Zeugen. (© picture alliance/dpa)

Das Bundeskriminalamt (BKA) war im Frühjahr 2016 noch nicht in der Lage, Bedrohungen zu beurteilen, die von der persönlichen Verfassung gewaltbereiter Verdächtiger ausgingen. Diese Fähigkeit sei erst Mitte 2017, also nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, entwickelt worden, sagte ein damals im zuständigen Referat ST33 tätiger Beamter, der heutige Kriminaldirektor Martin Kurzhals, am Donnerstag, 7. Mai 2020, dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) unter Vorsitz von Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU). Das Referat ST33 befasste sich mit „Gefährdungssachbearbeitung“ und „Phänomenauswertung“.

„Schnellfeuergewehre für Anschläge in Deutschland“

Dabei sei es aber lediglich um Sachverhalte, nicht um die Personen der möglichen Täter gegangen, betonte Kurzhals. Nach diesem Maßstab beurteilte das Referat im Februar 2016 ein Anschlagsszenario, das ein Informant des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts aus dem Mund des späteren Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri gehört haben wollte, zunächst als „eher auszuschließen“, später immerhin als „eher unwahrscheinlich“.

Demnach habe Amri einen Raubüberfall begehen und mit dem erbeuteten Geld entweder in Paris oder in Neapel Schnellfeuergewehre der Marke AK47 erwerben wollen, um diese wiederum in Deutschland für Anschläge zu nutzen.

„Maschinengewehrfeuer im Hintergrund“

Auf einen nach der Dringlichkeit von oben nach unten ansteigenden Skala bewertete ein Sachbearbeiter des Referats ST33 dieses Szenario am 4. Februar mit sieben von acht möglichen Punkten. In den folgenden Tagen liefen weiterführende Erkenntnisse aus abgehörten Telefonaten Amris ein, darunter drei Audiodateien, die offensichtlich Gespräche mit Partnern aus Kriegsgebieten wiedergaben. Im Hintergrund sei Maschinengewehrfeuer zu hören gewesen.

Daraufhin sei am 18. Februar das geschilderte Szenario auf den Wert von fünf Punkten hochgestuft worden. Dies sei schon „bemerkenswert hoch gegriffen“ gewesen, betonte der Zeuge: „Nicht viele Sachverhalte wurden auf fünf oder höher gesetzt.“

„Aha-Effekt nach Aussprache beim Generalbundesanwalt“

Dennoch blieb ein Dissens mit dem Düsseldorfer Landeskriminalamt (LKA), das die Glaubwürdigkeit seines unter dem Kürzel „VP01“ geführten Informanten in Zweifel gezogen sah. Die Zuständigen im BKA wiederum waren irritiert, weil derselbe Gewährsmann zeitgleich noch ein anderes Anschlagszenario in Erfahrung gebracht haben wollte.

Dass Möchtegern-Attentäter einem Unbeteiligten unabhängig voneinander gleich zweimal ihre Pläne ausplauderten, galt als unwahrscheinlich. Einen „Aha-Effekt“ brachte nach den Worten des Zeugen eine Aussprache am 23. Februar 2016 beim Generalbundesanwalt. Hier teilten die Vertreter aus Nordrhein-Westfalen mit, sie hätten ihren Informanten mit der „Legende“ in die Szene geschickt, er sei „Anschlagschiene“ und auf der Suche nach Mittätern. „Wir waren sehr überrascht“, sagte der Zeuge. Doch seien die Darstellungen der VP01 jetzt plausibel erschienen.

„Äußerste Gereiztheit gegen die Düsseldorfer Kollegen“

Nach der Besprechung beim Generalbundesanwalt verbreitete das nordrhein-westfälische LKA die Einschätzung, dass Amri seine Attentatspläne intensiviere und mit Sicherheit entschlossen sei, sie auszuführen. Im BKA galt das als völlig übertrieben und hatte einen internen Mailwechsel zur Folge, aus dem äußerste Gereiztheit gegen die Düsseldorfer Kollegen sprach.

Dennoch habe zu keinem Zeit die Absicht bestanden, die VP01 „totzuschreiben“, wie ein Hauptkommissar aus Düsseldorf nach der Besprechung beim Generalbundesanwalt vertraulich erfahren haben wollte. Er sei „fast vom Hocker gefallen“, als er davon hörte, sagte Kurzhals: „Ich halte das für eine phantastische Geschichte.“

Kritik am BKA zurückgewiesen

Im weiteren Verlauf der Sitzung wies ein ranghoher Beamter des BKA Kritik am Umgang seiner Behörde mit dem Fall des späteren Attentäters Anis Amri energisch zurück. Insbesondere über das angeblich spannungsreiche Verhältnis zum nordrhein-westfälischen LKA in diesem Zusammenhang seien völlig falsche Vorstellungen im Umlauf, betonte der Leitende Kriminaldirektor Sven Kurenbach.

Der heute 54-jährige Zeuge trug 2016 als Gruppenleiter im Polizeilichen Staatsschutz die Verantwortung für die Abwehr des radikalislamischen Terrorismus. Mit derselben Materie ist er seit November 2019 als Leiter der damals neu gebildeten Abteilung TE befasst.

„Ein schriftliches Ersuchen hat es nie gegeben“

Zu den Meinungsverschiedenheiten mit dem Düsseldorfer LKA über die Brisanz des Falles Amri erklärte Kurenbach, weder habe seine Behörde beabsichtigt, einen hochkarätigen V-Mann des LKA zum Schweigen zu bringen, noch habe sie sich einer Bitte verweigert, Ermittlungen des LKA gegen den Hildesheimer Kreis des islamistischen Predigers Abu Walaa an sich zu ziehen. Ein formales, schriftliches Ersuchen in diesem Sinne, wie es unbedingt erforderlich gewesen wäre, habe es zu keinem Zeitpunkt gegeben.

Kurenbach erinnerte sich, dass in einer Sitzung des Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrums (GTAZ) der deutschen Sicherheitsbehörden der telefonisch zugeschaltete Düsseldorfer Ermittlungsleiter, Kriminalhauptkommissar M., die Anregung geäußert habe, das BKA könnte den Fall vielleicht an sich ziehen. Dies habe aber weiter keine Folgen gezeitigt. In den Jahren 2015 und 2016 seien solche Anregungen aus Länderbehörden an die Adresse des BKA nicht selten gewesen. Die rechtlichen Hürden für die Übernahme eines Verfahrens in Bundeszuständigkeit seien jedoch hoch, weil der Gesetzgeber die originäre Zuständigkeit den Ländern zugeordnet habe.

„Ein Gespräch dieses Inhalts hat nie stattgefunden“

Kurenbach widersprach auch dem Vorwurf, dass die abweichende Ansicht des Düsseldorfer LKA zur Gefährlichkeit Amris in den Protokollen des GTAZ, für die das BKA die Federführung innehat, nicht berücksichtigt worden sei. Es sei jederzeit möglich gewesen, solche Protokolle nachzubessern. Im gesamten Verlauf des Jahres 2016 habe das LKA in keinem einigen Fall einen Änderungswunsch geäußert. Es habe auch niemals zu diesem Thema das persönliche Gespräch mit Vertretern des BKA gesucht.

Völlig unverständlich sei ihm, wie in Düsseldorf der Eindruck habe aufkommen können, im BKA bestehe eine „Anweisung von ganz oben“, einen hochkarätigen V-Mann des LKA im radikalislamischen Milieu „totzuschreiben“, sagte Kurenbach. Von einem entsprechenden vertraulichen Hinweis eines BKA-Kollegen hatte Kriminalhauptkommissar M. im November als Zeuge vor dem Ausschuss berichtet. Seither grübele er darüber nach, welches Missverständnis dazu geführt haben könnte, dass M. zu einer solchen Aussage gelangte. Sicher sei jedoch, dass ein Gespräch dieses Inhalts nie stattgefunden habe.

„Befremdliches Verhalten“

Als befremdlich habe er auch das Verhalten des Zeugen M. ihm selber gegenüber empfunden, gab Kurenbach zu verstehen. Er sei M. bei zwei Anlässen im Juli 2019 sowie ein weiteres Mal eine Woche nach dessen Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss im November zufällig begegnet.

Im Juli hätten sie beide völlig entspannt eine Stunde lang miteinander geplaudert. Im November habe M. um Verständnis für seine Aussage geworben, ohne schlüssig erklären zu können, warum er das Thema im Juli nicht angesprochen hatte. (wid/07.05.2020)

Liste der geladenen Zeugen

  • Sven Kurenbach, Leitender Kriminaldirektor, Bundeskriminalamt
  • Martin Kurzhals, Kriminaldirektor, Bundeskriminalamt
  • M.G., Kriminalhauptkommissar, Bundeskriminalamt

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