1. Untersuchungsausschuss

Zeugin: Amri gab sich als „Emir“ einer deutschen IS-Zelle aus

Breitscheidplatz in Berlin

Die Ermittlungen des Bundeskriminalamtes zum Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz waren Gegenstand der Zeugenvernehmungen. (picture alliance/Bildagentur-online)

Der spätere Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri hat sich im Herbst 2016 seinem Neffen in Tunesien gegenüber als „Emir“, also Anführer einer deutschen Zelle des sogenannten Islamischen Staates (IS) ausgegeben. Zum Wahrheitsgehalt dieser Behauptung lasse sich allerdings nichts Sicheres feststellen, sagte eine Beamtin aus dem Bundeskrimialamt (BKA) am Donnerstag, 14. Mai 2020, dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“).

Die heute 40-jährige Kriminalhauptkommissarin N. S. ist seit 2002 im BKA tätig und dort seit 2005 mit der Abwehr des radikalislamischen Terrorismus befasst. Nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz war sie an der Aufklärung der Kontakte des Attentäters Amri zu Gewährsleuten beim IS beteiligt.

„Ich habe eine Gruppe von Brüdern“

„Ich habe eine Gruppe von Brüdern, die mir in Deutschland angehören“, teilte Amri seinem Neffen mit, wie die Zeugin berichtete. Er habe damals versucht, den jungen Mann für den Dschihad zu rekrutieren und zur Ausreise aus Tunesien zu bewegen, nach Syrien, um sich dem IS anzuschließen, oder nach Deutschland, wo er sich seiner Führung unterstellen sollte.

Nicht auszuschließen sei, dass mit der „Gruppe von Brüdern“ der Dagestaner Magomet Ali Chamagow und der französische Konvertit Clément Baur gemeint seien, mit denen gemeinsam Amri im Herbst 2016 Überlegungen anstellte, einen Sprengstoffanschlag auf das Berliner Gesundbrunnen-Center zu verüben.

„Emotional und ideologisch begleitet“

Seinerseits stand Amri spätestens seit Herbst 2016 in engem Kontakt mit einem tunesischen Landsmann, der ihn vermutlich von Libyen aus in der Zeit vor der Tat, wie die Zeugin formulierte, „emotional und ideologisch“ begleitet habe. Den Ermittlern wurde er nach dem Anschlag als „Mouadh Tounsi“ alias „Momo1“ bekannt.

Der IS habe über Mentoren verfügt, deren Funktion darin bestanden habe, Anhänger im Ausland zu Attentaten zu motivieren, sie „bei der Stange zu halten“ und nach verübter Tat die Führungsebene zu informieren, damit sich der IS zeitnah die Urheberschaft zuschreiben könne. „Momo1“, gegen den ein Haftbefehl der Bundesanwaltschaft wegen Beihilfe besteht, sei einer dieser Mentoren gewesen, meinte die Zeugin.

„Frohe Botschaft für Märtyrer“

Amri tauschte mit „Momo1“ bis unmittelbar vor der Tat am Abend des 19. Dezember 2016 Nachrichten aus. Zuvor hatte er allerdings den gesamten bisherigen Chatverlauf auf seinem Mobiltelefon gelöscht. Deshalb sei zwar mit Sicherheit davon auszugehen, dass „Momo1“ über Planung und Vorbereitung des Attentats genau im Bilde war. Nachvollziehen lasse sich der Informations- und Gedankenaustausch allerdings nicht mehr.

Ebenso wenig sei bekannt, wie und wann der Kontakt mit „Momo1“ zustande kam. Sicher sei, dass er spätestens am 10. November 2016 bestand. Damals schickte „Momo1“ ein 143 Seiten starkes PDF-Dokument des IS an Amri mit dem Titel „Die frohe Botschaft zur Rechtleitung für diejenigen, die Märtyrer-Operationen durchführen“.

„Ich sitze jetzt in der Karre“

Unmittelbar bevor er am Tatabend den Lastwagen kaperte, mit dem er in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz fuhr, nahm Amri um 19.15 Uhr die Verbindung zu „Momo1“ wieder auf: „Bleib in Kontakt mit mir.“ Später meldete er: „Ich sitze jetzt in der Karre.“

Dann schickte er ein Foto des Armaturenbretts. Zuletzt gegen 20 Uhr, als er den Weihnachtsmarkt erreichte, bat er „Momo1“, für ihn zu beten. Dieser meldete sich wenige Stunden, nachdem Amri in Norditalien erschossen worden war, am Morgen des 23. Dezember ein letztes Mal auf dessen Mobiltelefon: „Hallo, wie geht’s?“, fragte er auf Französisch.

„Entschluss zum Anschlag erst nach langem Zögern“

Amri hat sich erst nach langem Zögern entschlossen, einen Anschlag in Deutschland zu verüben, nachdem sein Versuch gescheitert war, das Land zu verlassen. Diese These vertrat ein weiterer Beamter des BKA im weiteren Verlauf der Sitzung. Der Erste Kriminalhauptkommissar A. M. war in den Wochen nach dem Anschlag im Bereich „Zentrale Auswertung“ der in den Ermittlungen federführenden Besonderen Aufbauorganisation (BAO) „City“ damit beschäftigt, alle verfügbaren Informationen über Amri zusammenzutragen. Am 6. März 2017 legte er einen ersten umfassenden Bericht über dessen Werdegang während seines Deutschland-Aufenthalts vor.

Nach seiner Darstellung gab Amri im Zeitraum zwischen Dezember 2015 und Februar 2016 „unspezifische Überlegungen“ zu erkennen, einen Anschlag zu begehen, allerdings damals noch „begleitet von Ausreiseabsichten“. Er habe einen Eindruck von Unsicherheit und Wankelmut vermittelt, zugleich freilich sei seine Gefährlichkeit durchaus erkennbar gewesen. Erst nachdem er Ende Juli 2016 an der Grenze zur Schweiz bei dem Versuch gestoppt worden war, Deutschland zu verlassen, habe der „Wille zum Anschlag“ endgültig überwogen und sich im Herbst zunehmend konkretisiert und verfestigt.

Sprengstoff in Berlin-Buch gehortet

Erst seit Anfang 2018 ist den deutschen Behörden bekannt, dass Amri das Attentat offenbar zunächst gemeinsam mit dem französischen Konvertiten Clément Baur verüben wollte. Diesen hatte er Anfang 2016 kennengelernt und war ihm im Frühherbst in Berlin wieder begegnet. In der Wohnung des gemeinsamen Bekannten Magomet Ali Chamagow in Berlin-Buch horteten sie Sprangstoff und planten eine Explosion im Berliner Gesundbrunnen-Center.

Als am 26. Oktober 2016 die Polizei bei Chamagow vor der Tür stand, packte Baur die Panik. Am 30. Oktober setzte er sich nach Frankreich ab, nachdem er am Vortag ein letztes Mal mit Amri zusammengekommen war. Am 18. April 2017 nahm die französische Polizei Baur in Marseille fest. In seinem Besitz waren drei Kilo Sprengsstoff und mehrere Schusswaffen.

„Zwei Anschlagsstränge“

Nach Baurs Abreise aus Berlin hätten sich „zwei Anschlagsstränge weiterentwickelt“, sagte der Zeuge: „Der eine endete am Breitscheidplatz, der andere wurde unterbrochen von den französischen Ermittlern.“ Einen oder zwei Tage nach Baurs Abreise leistete Amri den Treueid auf den Islamischen Staat (IS). Spätestens seit dem 10. November stand er in Verbindung mit seinem IS-Mentor Mouadh Tounsi alias „Momo1“. Seit dem 28. November klapperte er täglich das Berliner Krauseufer ab, um unter den dort abgestellten Lastwagen nach einem für die Tat geeigneten Fahrzeug zu suchen.

Der Zeuge vertrat die These, dass sich Amri erst am Abend des 19. Dezember 2016 spontan entschlossen habe, die Tat zu begehen, als er zufällig den passenden Lastwagen fand. Er betonte auch mehrfach, Amri habe als Einzeltäter gehandelt. Es gebe „keine Anhaltspunkte über die Einbindung weiterer in Deutschland ansässiger Personen“. Dies gelte auch für Amris Bekannten Bilel ben Ammar.

„Nicht vertrauenswürdiger Schwätzer“

Der Zeuge widersprach dem Eindruck, Ben Ammar sei bis zuletzt Amris engster Vertrauter gewesen. Bereits im Dezember 2015 und erneut mehrfach im April 2016 habe sich Amri höchst abfällig über Ben Ammar geäußert.

Er habe ihn für einen nicht vertrauenswürdigen Schwätzer gehalten. Amri sei extrem misstrauisch, fast paranoid gewesen. Clément Baur sei für ihn zuletzt der einzige verbliebene vertrauensvolle Kontakt gewesen. (wid/14.05.2020)

Liste der geladenen Zeugen

  • N. S., Kriminalhauptkommissarin, Bundeskriminalamt
  • A. M., Erster Kriminalhauptkommissar, Bundeskriminalamt
  • R. K., Erster Kriminalhauptkommissar, Bundeskriminalamt

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