1. Untersuchungsausschuss

Islamisti­schen Gefähr­der aus Dagestan polizeilich ob­serviert

Gesundbrunnen-Center steht als Aufschrift auf einer Häuserfassade.

Von dem Anschlagsplan gegen das Berliner Gesundbrunnen-Center haben deutsche Behörden erst 2018 aus einem abgehörten Gespräch erfahren. (© picture alliance/Bildagentur-online)

Ein Beamter des Berliner Landeskriminalamts (LKA) hat dem 1. Untersuchungsausschuss  („Breitscheidplatz“) unter Vorsitz von Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU) über die zweimalige Observation des islamistischen Gefährders Magomet Ali Chamagow im Laufe des Jahres 2016 berichtet. Dabei sei „nebenbei“ ein Anschlag in Berlin verhindert worden, sagte Kriminalhauptkommissar R. W. in seiner Vernehmung am Donnerstag, 18. Juni 2020. Der heute 44-jährige Zeuge leitet eine „Mobile Ensatzgruppe“ in der unter anderem für verdeckte Observationen zuständigen Abteilung 6 des Berliner LKA.

Chamagow eine Zeitlang observiert

Wie die deutschen Behörden erst 2018 erfuhren, war der gebürtige Dagestaner Chamagow im Herbst 2016, während das LKA ihn zeitweilig observieren ließ, gemeinsam mit dem französischen Konvertiten Clément Baur und dem späteren Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri mit der Vorbereitung eines Sprengstoffanschlags auf das Berliner Gesundbrunnen-Center beschäftigt.

Er selbst, sagte der Zeuge, sei mit Chamagow erstmals im März 2016 in Berührung gekommen, als dieser nach der islamistischen Anschlagserie in Brüssel eine Zeitlang oberserviert worden sein. Ein weiteres Mal hätten seine Mitarbeiter Chamagow am 25. und 26. Oktober 2016 beobachtet.

Chamagow aus der Wohnung gelockt

Dem habe das „Gefährderkonzept“ der Berliner Polizei zugrunde gelegen, erkannte Verdachtspersonen im Wege einer „legendierten Kontrolle“ in unregelmäßigen Abständen in den Blick zu nehmen. Eine durchgehende Observation sei wegen der „Masse der Gefährder“ nicht möglich gewesen. Vor Chamagows Haus sei an den beiden Oktobertagen zudem eine Kamera installiert gewesen. Das Observationsteam, dem er selber nicht angehört habe, habe Chamagow am 25. Oktober den ganzen Tag lang nicht zu Gesicht bekommen. Für eine erfolgreiche „legendierte Kontrolle“ sei die Sichtung der Zielperson indes unabdingbar, um den Nachweis zu führen, dass sich ein erkannter Gefährder zu einem bestimmten Zeitpunkt in Berlin aufhielt.

Auch am 26. Oktober habe sich Chamagow zunächst stundenlang nicht blicken lassen. Schließlich sei er in Begleitung eines unbekannten Mannes aufgetaucht und mit diesem in seiner Wohnung im dritten Obergeschoss seines Hauses in Berlin-Buch verschwunden. Zwar sei damit die Sichtung der Zielperson erfolgt, die Beamten, berichtete der Zeuge, hätten aber gerne noch den Begleiter identifiziert und in der Hoffnung, einen Blick auf den Unbekannten zu erhaschen, beschlossen, Chamagow nochmals aus der Wohnung zu locken.

In Panik über den Balkon getürmt

Unter dem Vorwand, sie seien wegen ruhestörenden Lärms alarmiert worden, hätten deshalb zwei uniformierte Streifenbeamte bei ihm geklingelt. Chamagow habe aufgemacht und seinen Ausweis gezeigt, sich im Übrigen aber äußerst reserviert verhalten. Bei Clément Baur, der sich in der Wohnung aufhielt, hinterließ der unangekündigte Besuch allerdings einen nachhaltigen Eindruck. Wie die französische Polizei erst viel später ermittelte, türmte er in Panik über den Balkon aus dem dritten Stock und setzte sich nach Frankreich ab. Die Anschlagsplanung für das Gesundbrunnen-Center hatte sich damit erledigt.

Auf den ersten Blick, meinte der Zeuge, könnte man sagen, der Einsatz am 26. Oktober sei „schief gelaufen“. Indes: „Wir vermuten, dass wir durch die Flucht des Herrn Baur einen Anschlag in Berlin nebenbei verhindert haben.“ Der Zeuge war im Februar und Juni 2016 an acht Tagen auch mit der Observation des späteren Attentäters Amri befasst. Dieser sei seines konspirativen Verhaltens wegen „etwas herausfordernder“ gewesen als andere: „Man musste sich bei ihm mehr bemühen.“

„Amri hatte in Deutschland keine Mitwisser“

Im weiteren Verlauf der Sitzung bekräftigte ein leitender Beamter des Bundeskriminalamtes (BKA) die These, dass der Attentäter Anis Amri in Deutschland keine Mitwisser hatte. „Es gibt viele Kontaktpersonen, um die wir uns gekümmert haben. Von keiner dieser Kontaktpersonen liegt eine bestätigte Aussage vor, dass sie was gewusst hat. Das finde ich schade“, sagte der Erste Kriminalhauptkommissar T. M. 

Der heute 44-jährige Zeuge ist nach eigenen Worten seit 18 Jahren im Polizeilichen Staatsschutz mit der Abwehr des radikalislamischen Terrorismus befasst. Nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz gehörte er der federführenden Besonderen Aufbauorganisation (BAO) „City“ an und leitet derzeit die Ermittlungsgruppe (EG) „City“, die sich bis heute um die Aufklärung der Hintergründe des Anschlags bemüht.

„Momo1 hat Amri wesentlich beeinflusst“

Es gebe allerdings eine Person, die man als „Mittäter“ Amris bezeichnen könne, meinte der Zeuge, allerdings nicht in Deutschland. Es handele sich um Mouadh Tounsi alias „Momo1“, der bis zur letzten Minute vor dem Anschlag mit Amri in Kontakt stand. Er wirkte freilich von einem Stützpunkt des sogenannten Islamischen Staates (IS) in Libyen aus auf den tunesischen Attentäter ein. Als „Führungsoffizier“ Amris beim IS mochte der Zeuge ihn nicht bezeichnen, wohl aber als die „Person, die ihn wesentlich beeinflusst hat“. Er sei erstaunt gewesen, sagte der Zeuge, „wie eng die Führung durch Momo1 stattgefunden hat“.

In der BAO „City“ war der Zeuge im Zentralen Einsatzabschnitt tätig, und zwar im Unterabschnitt „Ermittlungen“. Amri sei ihm seit spätestens Anfang 2016 als „Randfigur“ im Zusammenhang mit anderen Verfahren bekannt gewesen, berichtete er. Als in der Abendbesprechung des Unterabschnitts am 20. Dezember 2016, dem Tag nach dem Anschlag, Amris Foto auf dem Tisch gelegen habe, sei ihm der Name „sofort geläufig“ gewesen. „Ich war überrascht, ich war tatsächlich überrascht, dass der Anschlag durch eine Person, mit der man schon mal zu tun hatte, die namentlich bekannt war, verübt worden war“, sagte er.

„Amri handelte mit Drogen“

Der Zeuge berichtete auch über Aussagen von Gewährsleuten, die Amri während seines Aufenthalts in Deutschland begegnet waren. Im Juli 2017 habe er in Tunesien einen gewissen Mohammed Siddiq Daawi vernommen, der Amri im Herbst 2016, wenige Wochen vor dem Anschlag, kennengelernt hatte, als er in Berlin seinen Onkel besuchte. Er sei mit Amri mehrfach unterwegs gewesen, sie hätten gemeinsam auch eine Moschee besucht, habe Daawi berichtet.

Ihm sei aufgefallen, dass Amri mit Drogen handelte. Er habe ihm deswegen Vorwürfe gemacht. Amri habe entgegnet, dies sei keine Sünde. Er verkaufe das Rauschgift schließlich an Ungläubige, die man ohnehin „zerstören“ müsse. Amri habe den Eindruck eines Menschen gemacht, der von „enthusiastischem Gedankengut“ beseelt war. Vor der Rückreise am 25. November habe Amri ihm einen Rucksack mit Schokolade, einem Smartphone und einem Fotoapparat für seine Mutter in Tunesien mitgegeben, den er der alten Dame eine Woche später ausgehändigt habe.

Einen weiteren Bekannten Amris, Schamil Idrissow, habe er in österreichischer Untersuchungshaft vernommen, berichtete der Zeuge. Idrissow habe Amri als unauffälligen Typ geschildert, mit dem man sich kaum habe unterhalten können. Ihm sei nicht einmal aufgefallen, dass Amri sich mit Reiseplänen zum IS trug. (wid/18.06.2020)

Liste der geladenen Zeugen

  • R. W., Kriminalhauptkommissar, Landeskriminalamt Berlin
  • T. M., Erster Kriminalhauptkommissar, Bundeskriminalamt


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