Kinderkommission

Expertin fordert Digi­tali­sierung der Behinderten­hilfe

Drei Kinder arbeiten mit Tablets in einem Klassenraum

Die Kinderkommission befasste sich in einem öffentlichen Expertengespräch mit inklusiven Partizipationsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen. (picture alliance/Julian Stratenschulte/dpa)

Digitale Medien und Assistenzhilfen sind ein wesentliches Bildungsinstrument für Kinder und Jugendliche mit Behinderung, weil sie Kommunikationssituationen schaffen und so zur Teilhabe beitragen. So die Schlussfolgerung einer öffentlichen Expertenanhörung der Kinderkommission (Kiko) am Mittwoch, 1. Juli 2020. Die Sitzung unter der Leitung von Matthias Seestern-Pauly (FDP) trug den Titel „Partizipation von Kindern und Jugendlichen  Inklusive Partizipation“.

Wie wichtig Medien- und Sprachbildung für Kinder mit Behinderungen sei und welche Rolle dabei sowohl digitale Angebote als auch technische Assistenzsysteme spielten, das unterstrich Prof. Dr. Isabel Zorn vom Institut für Medienpädagogik und Medienforschung der Technischen Hochschule in Köln, die als Sachverständige zugeschaltet war. 

„Digitale Ungleichheit in der Gesellschaft“

Solche Bildungsangebote, verbunden mit den technischen Anwendungen, befähigten überhaupt erst zu gesellschaftlicher und politischer Teilhabe. Es gelte, Kinder mit deren Hilfe zu ertüchtigen, sich zu artikulieren und mit eigenen Unsicherheiten umzugehen. Kinder und Jugendliche vor der Sphäre des Digitalen schützen zu wollen, sei dagegen der falsche Weg, mahnte Zorn. „Digitale Medien haben einen hohen Stellenwert für eine selbstbestimmte Lebensführung.“

Leider herrsche eine hohe digitale Ungleichheit in der Gesellschaft. Je höher der Bildungsgrad der Betroffenen und deren Familie, desto stärker nutzten diese digitale Angebote und profitierten von Informationen. Wissenschaftliche Studien belegten den Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Hintergrund und digitaler Kompetenz auch bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. Leider seien in dieser Gruppe die Defizite noch höher als im Durchschnitt der Bevölkerung.

„Eklatante Wissenskluft“

Die Wissenskluft zum Durchschnitt der Gesellschaft sei umso eklatanter bei Kindern und Jugendlichen in Betreuungseinrichtungen. Dort seien der Zugang zum Internet und seinen Angeboten und die technische Ausstattung meist „erbärmlich“, und die dort tätigen Fachkräfte böten wenig, um Medienwissen zu vermitteln. „Wer in stationären Wohneinrichtungen lebt, ist noch stärker benachteiligt. Dabei wäre der Auftrag von Einrichtungen, das zu kompensieren, was fehlt.“

Einfachste technische Lösungen würden oft nicht eingesetzt, um beispielsweise Bildtelefonie zwischen Kindern in Heimen und ihren Eltern zu ermöglichen. Oder Beamer beim Vorlesen von Bilderbüchern, weil ein Bilderbuch für eine Gruppe, die im Kreis sitzt, zum Betrachten zu klein ist. Hochwertige Inhalte, die es auch online gebe, müssten bekannter gemacht werden.

Hilfsmittelprodukte meist sehr teuer

„Wo es besonders wichtig wäre, bekommt man besonders wenig“, stellte Zorn fest. „Wenn aber Assistenzgeräte und digitale Angebote so wichtig sind, dann müssen wir auch die Mittel dafür zur Verfügung stellen“ und Einrichtungen der Behindertenhilfe entsprechend ausstatten: mit Technik, die den Anschluss an die Welt ermögliche und mit Mitarbeitern, die den richtigen Umgang damit vermitteln könnten. Das sei eine Frage der finanziellen Ausstattung und der Ausbildung. 

Spezielle Assistenzgeräte und digitale, barrierefreie Angebote böten für Behinderte, beispielsweise mit Sehbehinderung, Hörschwäche oder anderen Einschränkungen „große Möglichkeiten“, ob es sich nun um eine Computersteuerung mit der Zunge handele oder eine Smart-Home-Umgebung mit Bodensensoren, die anzeigen, ob jemand im Raum liege. 

Hilfsmittelprodukte seien allerdings meist sehr teuer. Zorn stellte die kritische Frage, ob dies so sein müsse. „Was unterscheidet die spezifische Assistenztechnik eigentlich von normaler Smart-Home-Technik?“, die sich im Alltag immer weiter verbreite, weil es bequem ist. Egal, ob Sprachassistenten, Smart Watch oder Apps zur Organisation. Die nutze sie auch gerne. Dabei habe ihr noch nie jemand die Diagnose Erinnerungs- oder Konzentrationsschwäche oder Vergesslichkeit gestellt. Aber sobald man eine ärztliche Diagnose habe, stehe man spezifischen, kostenintensiven Assistenzgeräten und Anwendungen gegenüber. Ebenso wie bei Menschen ohne Behinderung dienten solche ganz marktüblichen Hilfsmittel Behinderten zur Simulation und Kompensation mangelnder Sinneserfahrungen und sollten auch Menschen mit Behinderung zur Verfügung stehen.

Digitalisierung in dem Bereich der Behindertenhilfe

Es gelte, Anwendungen und Geräte, die Teilhabe ermöglichen, weil sie Kontakte ermöglichen, das Sprachvermögen fördern oder einfach die Lebensführung erleichtern, zur Verfügung zu stellen. So helfe die mobile Appbe my eyes“ mit ihrem weltweiten Netzwerk Sehbehinderten und Blinden dabei, Gegenstände zu erkennen und beispielsweise mit dem Handy auszulesen, ob die Milch im Kühlschrank noch haltbar sei. 

Zorn empfahl für Kinder mit Behinderung den Zugang zu digitalen Geräten und Inhalten zu fördern sowie Betreuungseinrichtungen technisch besser auszustatten und deren Mitarbeiter entsprechend auszubilden. Der Gesetzgeber müsse die Digitalisierung in dem Bereich der Behindertenhilfe stärker berücksichtigen und die Finanzierung entsprechender Leistungen erleichtern. Warum es Geld für Möbel und andere Einrichtungsgegenstände gebe, aber für Smartphones oder Laptops für die Gruppe keins da sei, frage sie sich. Der Wissenschaft schrieb sie ins Stammbuch, mehr Forschung im Bereich der Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung zu betreiben, um die Datenlage zu verbessern. Dazu brauche es allerdings spezielle Förderprogramme auch für die Fachhochschulen. (ll/02.07.2020)

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