1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: Keine Vorfest­legung auf die These einer Einzel­täterschaft

Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf dem Berliner Breitscheidplatz

Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf dem Berliner Breitscheidplatz, auf dem sich am 19. Dezember 2016 das Attentat ereignete. (© picture alliance/SULUPRESS.DE)

Vor dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) hat ein Zeuge aus der Bundesanwaltschaft erneut der Darstellung widersprochen, die Behörden hätten sich nach dem radikalislamischen Anschlag an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von vornherein auf die These einer Einzeltäterschaft festgelegt. Es wäre generell ein Missverständnis, anzunehmen, Justiz und Polizei gingen mit einer vorgefassten Hypothese an einen Ermittlungsfall heran, von der sie sich im weiteren Verlauf womöglich nicht mehr trennen könnten, sagte der Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof Horst-Rüdiger Salzmann am Donnerstag, 10. September 2020, in der Sitzung unter Leitung von Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU). Der Zeuge leitet in Karlsruhe das mit Straftaten im radikalislamischen Milieu befasste Referat TE3.

„Eine Einzeltäterthese ist keine bedeutsame Kategorie“

Allerdings sei es so, erklärte Salzmann, dass sich „direkte Mittäter am Tatort Berlin“ bisher nicht hätten feststellen lassen. So habe er sich auch in seiner Vernehmung durch den Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses am 14. August 2020 ausgedrückt.

Dass der Berliner „Tagesspiegel“ anschließend seine Aussage in einer Schlagzeile dahingehend zusammenfasst habe, er halte den Urheber des Anschlags Anis Amri für einen „Einzeltäter“, sei  irreführend: „Eine Einzeltäterthese ist keine für den Staatsanwalt bedeutsame Kategorie. Ich sehe aber derzeit keinen strafrechtlich relevanten Verdacht gegen eine andere Person begründet.“ Es sei immerhin nicht ausgeschlossen, dass es in künftigen Ermittlungen gelinge, Komplizen Amris am Tatort Berlin namhaft zu machen.

„In keinem Fall hat sich ein Treffer ergeben“

Salzmann verteidigte auch die Entscheidung, an der er beteiligt war, Amris Vertrauten Bilel ben Ammar abzuschieben, nachdem sich ein Tatverdacht gegen ihn nicht habe erhärten lassen. Ben Ammar habe im Januar 2017 freiwillig eine DNA-Probe abgegeben, die mit allen im Zusammenhang mit den Anschlag gesicherten einschlägigen Spuren abgeglichen worden sei. Dabei habe sich in keinem Fall ein Treffer ergeben, sodass auch auf diesem Wege „Ben Ammar nicht in strafrechtlich relevanter Weise an den Anschlag herangebracht“ worden sei.

Auch im Fall eines am Tatort Anwesenden, der nach dem Anschlag unter nach wie vor ungeklärten Umständen eine Kopfverletzung erlitten und bleibenden Schaden davongetragen hatte, seien alle Ermittlungsansätze ausgeschöpft worden, betonte Salzmann. Zunächst hatte es geheißen, ein „Presseorgan“ sei im Besitz eines Videos, auf dem zu sehen sei, wie ein Komplize Amris den Mann mit einem Kantholz niedergeschlagen habe. Leider habe die Redaktion es abgelehnt, das Video herauszugeben, was den Schluss zulasse, dass es womöglich gar nicht existiere, die Berichterstattung also „nichts wert“ sei.

„Niemand hat von einer Rangelei etwas wahrgenommen“

Im September 2019 sei das Verletzungsopfer dann auf einem Video identifiziert worden, auf dem sekundenlang eine Rangelei eher zu erahnen als zu sehen sei. Die Behörden hätten sich die Mühe gemacht, bis 2020 alle Personen zu ermitteln und zu vernehmen, die sich zum Zeitpunkt der Entstehung des Videos an den dort abgebildeten Weihnachtsmarktsbuden aufgehalten hätten. Niemand habe von einer solchen Rangelei etwas wahrgenommen.

Vorwürfe gegen den mittlerweile durch die Medien bekannten Polizeiinformanten Murat Cem, der unter der Chiffre VP01 für das nordrhein-westfälischen Landeskriminalamt tätig gewesen war, er habe Amri zur Tat angestiftet, halte er ebenfalls für ausgeräumt, betonte Salzmann. Kein Zeuge, den er dazu befragt habe, habe etwas Verwertbares liefern können.

„Hat sich erübrigt, jeder Spur minutiös nachzugehen“

Aus Sicht des Bundeskriminalamts (BKA) bedarf es keines Nachweises mehr, dass der Tunesier Anis Amri am Steuer des Lastwagens saß, mit dem im Dezember 2016 der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche verübt wurde. Aus diesem Grund habe es sich auch erübrigt, jeder einzelnen Spur minutiös nachzugehen, gab der Erste Kriminalhauptkommissar M. G. im weiteren Verlauf der Sitzung zu verstehen.

Der heute 41-jährige Zeuge gehört der für Terrorabwehr zuständigen Abteilung TE des BKA an und nahm nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz nahm er in der ermittelnden Besonderen Aufbauorganisation (BAO) „City“ verschiedene Aufgaben wahr. Vor dem Ausschuss ist er erstmals am 7. Mai 2020 aufgetreten.

Zweifeln an der Täterschaft Amris widersprochen

Mit seinen Einlassungen widersprach der Zeuge gelegentlich geäußerten Zweifeln an der Täterschaft Amris, die in der Regel mit Hinweisen einhergehen, dass gar nicht geklärt sei, ob der Tunesier einen Schwerlaster ohne fremde Hilfe habe fahren könne, und Amri im Übrigen auch kaum eindeutig zuzuordnendes Spurenmaterial am Tatfahrzeug hinterlassen habe.

„Anhand der Menge der Spuren kann man nicht unbedingt sagen, da stimmt was nicht“, betonte der Zeuge. Das Fehlen von Fingerabdrücken im Inneren des Führerhauses etwa besage in keiner Weise, dass Amri nicht darin gesessen haben könne. Die Erfahrung zeige, dass es durchaus möglich sei, einen Gegenstand auch mehrfach anzufassen, ohne Abdrücke zu hinterlassen.

„Die Erkenntnislage war üppig und dicht“

Nach Amris Tod in Italien habe die deutsche Polizei darauf verzichtet, die Anhaftungen an seinen Schuhsohlen zu analysieren, seine Kleidung mit Faserspuren aus der Fahrerkabine abzugleichen oder seine Hinterlassenschaft auf Glassplitter zu durchsuchen: „Weil wir schon so viele andere Beweise hatten, dass Amri im Lkw war, brauchten wir das nicht.“ Man müsse sich immer fragen, ob ein solcher Abgleich sinnvoll sei und Erkenntnisse liefern könne. Unabhängig von den vorhandenen Spuren sei im Fall Amri „die Erkenntnislage so üppig und dicht“ gewesen, dass man sich in jedem anderen Ermitlungsverfahren „nur die Finger danach lecken könnte“, meinte der Zeuge.

Das BKA verzichtete auch darauf, die Tatwaffe anzufordern, die die italienische Polizei bei Amri sichergestellt hatte. Dies hätte „für die Ermittlungen keinen inhaltlichen Wert mehr“ gehabt, meinte der Zeuge. Die Italiener hätten die Waffe gründlich auf DNA-Spuren untersucht, auch Probeschüsse abgegeben – „das ist, was man machen kann, mehr ist nicht drin“. Die Waffe sei in Italien überdies noch für die Untersuchung der Todesumstände Amris benötigt worden.

„Mittäterschaft war in keinem Fall nachweisbar“

Dass Amris Leiche keinerlei Verletzung aufgewiesen habe, die er sich bei der Kollision des Lastwagens mit der Budengasse des Weihnachtsmarkts hätte zuziehen können, spreche ebenfalls nicht gegen seine Täterschaft, sagte der Zeuge. So ein Schwerlaster sei ein solides Gefährt. Zwar habe die Kabine einen ziemlich verwüsteten Eindruck gemacht. Doch der Bereich des Fahrersitzes sei relativ unversehrt gewesen.

Der Zeuge räumte ein, dass in den Ermittlungen zwei große Fragen offen geblieben seien, die Herkunft der Waffe und Amris Fluchtweg von Berlin bis zur niederändischen Grenze, insgesamt 33 Stunden, in denen sein Verbleib nicht mehr zu klären sei: „Wir gehen da nicht leichtfertig mit um.“ Nach dem Anschlag seien alle Kontaktpersonen Amris in Berlin überprüft worden, doch in keinem Fall sei eine Mittäterschaft nachweisbar gewesen. (wid/10.09.2020)

Liste der geladenen Zeugen

  • Horst-Rüdiger Salzmann, Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Generalbundesanwaltschaft
  • M. G., Erster Kriminalhauptkommissar, Bundeskriminalamt
  • Christoph Hammerstein, Bundesamt für Verfassungsschutz


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