Zeuge: Suche nach Mittätern Amris lief durchweg ins Leere
Die Bemühungen des Bundeskriminalamts (BKA), nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz Mittäter ausfindig zu machen, sind nach Darstellung eines beteiligten Beamten durchweg ins Leere gelaufen. Es habe zwar mehrere Kontaktpersonen des Attentäters Anis Amri gegeben, die ihn unmittelbar vor der Tat noch gesehen hätten, doch hätten sie allesamt glaubhaft machen können, von seiner Absicht, mit einem Lastwagen einen Weihnachtsmarkt zu überrollen, nichts gewusst zu haben, berichtete Kriminalhauptkommissar A. S. am Donnerstag, 17. September 2020, dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) unter Leitung von Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU).
„15-köpfiges Team zur Personensachbearbeitung geleitet“
Der heute 38-jährige Zeuge ist seit 2011 im Referat TE33 des BKA mit Ermittlungen gegen radikalislamische Terroristen befasst. Nach dem Anschlag im Dezember 2016 war er in der federführenden Besonderen Aufbauorganisation (BAO) „City“ tätig.
Er habe dort anfangs, berichtete er, ein schließlich 15-köpfiges Team zur „Personensachbearbeitung“ des Attentäters geleitet: „Wir haben versucht, uns ganz eng an Amri zu orientieren.“ Eine Hauptaufgabe sei gewesen, Amris Mobiltelefon auszuwerten, um festzustellen, wo er sich in den Tagen und Stunden vor dem Anschlag aufgehalten hatte.
„Mit Amri spazieren gegangen“
Daraus habe sich ergeben, dass sich Amri am Tattag, dem 19. Dezember, bis etwa 14.15 Uhr in seiner Wohnung aufgehalten habe. Gegen 15 Uhr habe er auf dem Parkplatz eines Möbelmarkts im Stadtteil Wedding zwei Bekannte getroffen, die das Berliner Landeskriminalamt nach Bildern einer Überwachungskamera als Bilal Mahmoud und Walid Zaid identifiziert habe. Beide hätten in Vernehmungen angegeben, sie seien mit Amri spazieren gegangen, hätten gemeinsam in einem Grill etwas gegessen und sich dann getrennt.
Zaid wurde am späten Abend am Tatort, dem Breitscheidplatz, angetroffen. Seine Angabe, er sei dort nur als Schaulustiger gewesen, habe sich aber nicht widerlegen lassen, sagte der Zeuge. Zudem habe die Überwachung seiner Telekommunikation ergeben, dass er von dem Attentat überrascht gewesen sei und Amri als Urheber zunächst nicht gekannt habe.
„Amri nahm keine Fahrstunden bei seinem Vermieter“
Was sich auch nicht mit letzter Sicherheit habe klären lassen, sei die Frage, wie Amri gelernt hatte, den Schwerlaster zu steuern. Zwar war der Wohnungsgeber, der ihn zuletzt als Untermieter beherbergt hatte, ausgebildeter Lastwagenfahrer und zehn Jahre lang bei einem Frachtunternehmen beschäftigt gewesen. Das sei, meinte der Zeuge, ein „blöder Zufall“, der die Vemutung nahelegte, Amri könnte bei seinem Vermieter Fahrstunden genommen haben. Dies sei aber, wie der Mann in seiner Vernehmung „glaubhaft“ habe machen können, nicht der Fall gewesen.
Aus der Presse, fuhr der Zeuge fort, habe er erfahren, dass Amri angeblich von seinem Bruder in Tunesien im Umgang mit einem Lastwagen unterrichtet worden sei. Ob die Ermittler diesem Hinweis an Ort und Stelle nachgegangen seien, könne er nicht sagen.
„Amri hat zerstreut und aufgeregt gewirkt“
Amris Vermieter sei diesem, wie er der Polizei berichtet habe, unmittelbar nach der Tat in der gemeinsamen Wohnung zuletzt begegnet. Amri habe „zerstreut“ und „aufgeregt“ gewirkt, seine Sachen gepackt, die Schuhe gewechselt und die Wohnung verlassen.
Im Sande verlaufen seien auch Ermittlungen nach einem Hinweis auf einen Komplizen namens Ahmed Hamami, der Amri laut Erkenntnissen der italienischen Polizei Schießunterricht erteilt haben soll. Zudem sei Amris Mobiltelefon zuletzt am 6. Februar 2017 aus dem Sudan angerufen worden. Die Polizei habe dem Vorfall „hohe Bedeutung“ beigemessen und „umfangreiche Ermittlungen“ angestellt. Doch auch diese Spur habe sich „aufgelöst“.
„Amri-Defizit der Justiz“
Im weiteren Verlauf der Sitzung stelle ein Vertreter der Bundesanwaltschaft hat Ausschuss die Konsequenzen dar, die seine Behörde aus dem nicht verhinderten islamistischen Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Dezember 2016 gezogen hat. Die zwischen Februar und Mai 2017 gefassten Beschlüsse seien „die schnellsten und effektivsten Strukturmaßnahmen in der Justiz“ gewesen, „die ich in meiner Dienstzeit bundesweit erlebt habe“, sagte der Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof Thomas Beck. Der heute 64-jährige Zeuge leitet seit Anfang 2014 die Abteilung Terrorismus in der Bundesanwaltschaft und ist seit Mitte 2018 Ständiger Vertreter des Generalbundesanwalts.
Nach den Worten des Zeugen war die Kernfrage, die sich nach dem Anschlag der Justiz stellte, wie es hätte gelingen können, den Attentäter Anis Amri rechtzeitig zu stoppen. Beck meinte, dies sei unter anderem deshalb gescheitert, weil versäumt worden sei, die gegen Amri in verschiedenen Bundesländern anhängigen Ermittlungen wegen diverser kleinerer Delikte in einer Hand zu vereinen und mit dem Gewicht eines gebündelten Verfahrens gegebenenfalls einen Haftbefehl zu erwirken. Unterblieben sei dies, weil niemand die verfügbaren Informationen zielgerichtet zusammengeführt habe. Dies sei ein struktureller Mangel gewesen; Beck sprach vom „Amri-Defizit“ der Justiz.
„Fehlender Informationsaustausch“
Am 3. März 2017 hätten Vertreter des Gereralbundesanwalts und der Generalstaatsanwaltschaften der Länder in einer Sondersitzung der „AG Extremismus“ erstmals über Möglichkeiten der Abhilfe beraten. Dabei habe sich unter anderen herausgestellt, dass abgesehen von Berlin keine Generalstaatswaltschaft über die Zahl der in ihrem jeweiligen Bundesland ansässigen islamistischen Gefährder im Bilde gewesen sei.
Es habe an Informationsaustausch und steter Kooperation zwischen der Justiz und den Landeskriminalämtern gefehlt. Bei dem Sondertreffen in Karlsruhe habe Konsens über die Notwendigkeit bestanden, bei den Landesjustizbehörden eigene Staatsschutzzentren einzurichten, die untereinander und mit dem Generalbundesanwalt in ständigem Kontakt stünden.
„Justizielles Gefährdermanagement“
Ein entsprechender Entwurf sei bei einem regulären Treffen der „AG Extremismus“ am 10. und 11. April 2017 zustande gekommen und schließlich am 23. Mai 2017 mit den „Weimarer Beschlüssen“ des Generalbundesanwalts und der Generalstaatsanwaltschaften verabschiedet worden. Damit sei erstmals in der Bundesrepublik ein „justizielles Gefährdermanagement“ etabliert worden, dessen Funktionsweise der Zeuge als „Dreiklang“ umschrieb.
Zum einen werde seither in jedem Einzelfall der Anfangsverdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat zu prüfen sein. Zum anderen würden in Fällen, in denen ein solcher Verdacht sich nicht auf Anhieb erhärten lasse, Ermittlungen wegen geringfügigerer Delikte bei einer Generalstaatsanwaltschaft gebündelt, um gegen Verdächtige mit mehr Durchschlagskraft vorgehen zu können. Drittens unterlägen Gefähder auch nach einer Haftentlassung einer schärferen Aufsicht, bis hin zu der Verpflichtung, Fußfesseln zu tragen.
„Es darf kein Erkalten eines Gefährders geben“
„Das neue System wird gelebt“, sagte Beck. In den Jahren 2018 und 2019 hätten in Karlsruhe bereits zwei Staatsschutzkonferenzen stattgefunden; die für dieses Jahr geplante sei coronabedingt ausgefallen. Was bleibe, sei der „fatale Befund“, dass das Berliner Landeskriminalamt am 21. September 2016 die Überwachung Amris eingestellt habe, weil sich der Terrorverdacht gegen ihn zunächst nicht erhärtet habe.
Nur drei Tage später habe er einem Schweizer das ATC-Smartphone gestohlen, mit dem er seither seine Kommunikation abwickelte, und das nach dem Anschlag im Kühlerrost des Tatfahrzeugs entdeckt wurde. Daraus folge, dass, auch wenn „repressive Instrumente nicht greifen“, dennoch weiterhin „präventiv-polizeiliche und nachrichtendienstliche Maßnahmen“ wirken müssten: „Es darf kein Erkalten eines Gefährders geben.“ (wid/17.09.2020)
Liste der geladenen Zeugen
- A. S., Kriminalhauptkommissar, Bundeskriminalamt
- Thomas Beck, Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Generalbundesanwaltschaft
- Referentin, Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat