Geschichte

Vor 30 Jahren: Bundestag tritt erstmals als gesamtdeutsches Parlament zusammen

Erste gesamtdeutsche Bundestagssitzung im Reichstagsgebäude am 4. Oktober 1990.

Erste gesamtdeutsche Bundestagssitzung im Reichstagsgebäude am 4. Oktober 1990 (© DBT)

„Nach 57 Jahren versammeln wir uns als frei gewählte Abgeordnete des ganzen deutschen Volkes hier im Reichstag in Berlin.“ So eröffnete vor 30 Jahren, am 4. Oktober 1990, am Tag nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit, Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth um 10 Uhr im Berliner Reichstagsgebäude die erste Sitzung des Bundestages als gesamtdeutsches Parlament.

Symbolträchtig waren die 663 Volksvertreter im Berliner Reichstagsgebäude und nicht im Bonner Plenarsaal, dem eigentlichen Parlamentssitz, zusammengetreten, 519 Mitglieder des alten Bundestages und 144 von der Volkskammer der DDR am 28. September 1990 entsendete Mitglieder.

„Welch ein Tag in der parlamentarischen Geschichte unseres Landes“

„Ein freies und geeintes Parlament in einem freien und geeinten Berlin, in einem freien und geeinten Deutschland — welch ein Tag in der parlamentarischen Geschichte unseres Landes!“, unterstrich die Bundestagspräsidentin die Bedeutung dieser 228. Sitzung des 11. Deutschen Bundestages, die sich auch in der Anwesenheit zahlreicher namhafter Gäste widerspiegelte.

Neben Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker (1920-2015) waren auch die ehemaligen Bundespräsidenten Walter Scheel (1919-2016) und Prof. Dr. Karl Carstens (1914-1992) zu Gast auf der Tribüne, dazu die früheren Bundestagspräsidenten Kai-Uwe von Hassel (1913–1997) und Dr. Rainer Barzel (1924–2006). In ihrer Eröffnungsrede begrüßte sie zahlreiche Ehrengäste und bedankte sich bei allen, die sich auf dem Weg zur deutschen Einheit verdient gemacht hatten. Mit besonderer Freude begrüßte sie auch den früheren SPD-Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik, Josef Felder (1900-2000).

„Mit der heutigen Sitzung kann dieses Haus wieder seiner eigentlichen Bestimmung, der parlamentarischen Demokratie in Deutschland, dienen. Hier soll für das Wohl des ganzen deutschen Volkes gearbeitet werden“, betonte sie. Gleichzeitig hob sie die Verpflichtung der Deutschen aus der Vergangenheit hervor: „Unsere Geschichte legt uns im Innern wie nach außen eine besondere Verantwortung auf: Sie fordert von uns, für Frieden und den Schutz der Menschenrechte einzutreten. Sie verlangt von uns, allezeit die Würde des Menschen zu achten und zu schützen.“

„Die staatliche Einheit ist hergestellt“

Abschließend appellierte sie an die Volksvertreter: „Die staatliche Einheit ist hergestellt. Für die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Einheit ist der Grundstein gelegt. Jetzt gilt es, Schäden zu beseitigen, Wunden zu heilen, die Folgen 40-jähriger Trennung und Unfreiheit zu überwinden. Dazu bedarf es der gemeinsamen Geduld, des Augenmaßes und der Solidarität. Dazu bedarf es der großen Anstrengung aller Verstandeskräfte, aber auch des Herzens. Es ist ein guter Weg zum Wohle unseres ganzen Volkes. Wir alle wollen jetzt gemeinsam mit Mut und Zuversicht ans Werk gehen.“

Als erster Tagesordnungspunkt folgte die Vereidigung der fünf neuen „Minister für besondere Aufgaben“ in der ersten gesamtdeutschen Regierung. Die Minister ohne Geschäftsbereich – die letzte Volkskammerpräsidentin Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU), der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière (CDU), der parlamentarische Staatssekretär und ostdeutsche Verhandlungsführer bei den Gesprächen über den Einigungsvertrag, Dr.-Ing. Günther Krause (CDU), und die Vorsitzenden der FDP-Volkskammerfraktion Prof. Dr.-Ing. Rainer Ortleb sowie der DSU-Volkskammerfraktion Dr. Hansjoachim Walther (1939-2005) – waren bereits am Vortag vom Bundespräsidenten ernannt worden.

Kohl: Im vereinten Europa dem Frieden in der Welt dienen 

Im Anschluss gab Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl (1930-2017) eine Regierungserklärung zu den Grundsätzen der Politik der ersten gesamtdeutschen Regierung ab. Darin betonte auch er: „Die Politik der Bundesregierung wird geprägt sein vom Bewusstsein für die deutsche Geschichte in allen ihren Teilen und der daraus folgenden Verantwortung.“ Und: „Im Inneren wie nach außen wollen wir gute Nachbarn sein. Deutsche Sonderwege oder nationalistische Alleingänge wird es auch in Zukunft nicht geben“, versicherte er. „Wir wollen getreu der Präambel unserer Verfassung als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt dienen.“

Auch er bedankte sich bei allen, die die Einheit erst möglich gemacht hatten, vor allem den Bürgerrechts- und Reformbewegungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Besonders betonte er den „unschätzbaren Beitrag zur Überwindung der Teilung“ des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow.

„Deutschland wirtschaftlich, sozial und kulturell vereinen“

Weiter skizzierte der Bundeskanzler die anstehenden Herausforderungen. „Wirtschaftliche und soziale Fragen sind jetzt dringlich, aber sie sind wahrlich nicht die einzigen, die wir lösen müssen. Ich denke vor allem auch an die schwerwiegenden Folgen, die vier Jahrzehnte kommunistischer Diktatur im geistigen Leben und in den Seelen der Menschen hinterlassen haben.“ Hauptaufgabe der nächsten Jahre werde es sein, Deutschland nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial und kulturell zu vereinen.

Dazu unterstrich er aber auch, „dass wir auch unter den schwierigen Bedingungen des Übergangs, der Umstrukturierung und der Neuorientierung an dem festhalten, was sich durch 40 Jahre bewährt hat: an einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die Chancen für Leistung und Engagement eröffnet und die zugleich dort Hilfe und Unterstützung gewährt, wo die eigene Kraft nicht ausreicht.“

Neun Sitzungen bis gesamtdeutschen Wahl

Als eine seiner ersten Amtshandlungen nahm der erste gesamtdeutsche Bundestag am 5. Oktober im Bonner Plenarsaal den Zwei-Plus-Vier-Vertrag an, der eine Voraussetzung für den Einigungsvertrag war. Insgesamt neunmal kamen die Abgeordneten dieses nach der Wiedervereinigung entstandenen Parlaments aus Ost und West bis zu ihrer letzten Sitzung am 22. November 1990 zusammen.

Am 2. Dezember 1990 wählten die Deutschen ihr erstes gemeinsames Parlament nach dem Zweiten Weltkrieg. Bereits im darauffolgenden Jahr, am 20. Juni 1991, beschlossen die Abgeordneten nach ausgiebiger Debatte mit 338 zu 320 Stimmen den Umzug des Parlaments und der Regierung von Bonn nach Berlin. (klz/28.09.2020)