Berghegger: Europa hat sich in einer Situation der Not solidarisch gezeigt
Abgeordnete der Parlamente der EU-Mitgliedsländer und des Europaparlaments sind am Montag, 12. Oktober 2020, in einer Videokonferenz zur Herbstausgabe der „Interparlamentarischen Konferenz über Stabilität, wirtschaftspolitische Koordinierung und Steuerung in der Europäischen Union“ (SWKS-Konferenz) zusammengekommen, um sich über haushalts-, finanz- und wirtschaftspolitische Fragen auszutauschen. Die ökonomischen Folgen der Pandemie und die wirtschaftliche Erholung standen im Mittelpunkt der Konferenz. In einer Situation der Not habe sich Europa solidarisch und handlungsfähig gezeigt und „ein Fiskalprogramm ungekannten Ausmaßes aufgelegt“, sagt Dr. André Berghegger (CDU/CSU), Leiter der Delegation der Bundestagsabgeordneten zur SWKS-Konferenz und Vorsitzender der Konferenz im Rahmen der parlamentarischen Dimension der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, im Interview. „Zum jetzigen Zeitpunkt hat die Eindämmung des wirtschaftlichen Einbruchs Vorrang gegenüber der Einhaltung der europäischen Fiskalregeln.“ Dabei gelte es, die Mittel „klug einzusetzen, sodass sie Investitionen fördern, die zukünftiges Wachstum generieren“, so der Finanzpolitiker, der mahnt, „nach der Krise zu nachhaltigem Wirtschaften und solider Haushaltspolitik zurückzukehren“. Das Interview im Wortlaut:
Herr Dr. Berghegger, die Corona-Pandemie hat die Volkswirtschaften der EU in die schwerste Rezession seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise ab 2007 gestürzt. Die EU-Mitgliedsländer und EU-Kommission haben milliardenschwere Wiederaufbauprogramme auf den Weg gebracht. Welche Rückmeldungen haben Sie von Ihren Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Parlamenten zur wirtschaftlichen Erholung in ihren Ländern: Reichen die Hilfen? Wo läuft es erfolgreich, in welchen Bereichen bestehen die größten Herausforderungen?
Die Rückmeldungen fallen von Staat zu Staat unterschiedlich aus. Es ist deutlich geworden, dass nicht alle Staaten in der Lage sind, ihren Volkswirtschaften ausreichend zu helfen und deshalb auf zusätzliche Maßnahmen der Europäischen Union hoffen. Die Erwartungen gehen dabei aber auseinander: Einerseits wurden in den Redebeiträgen weitere Schritte in Richtung Fiskalunion angeregt und die Politik der Europäischen Zentralbank verteidigt, andererseits stand die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in der Kritik. Ein gemeinsamer Nenner aller Teilnehmer ist die Betonung der Bedeutung des gemeinsamen europäischen Handelns und der Abhängigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten voneinander.
Welche Voraussetzungen sollten geschaffen werden, damit die Mittel zur wirtschaftlichen Erholung, die über die unmittelbare Krisenbewältigung und den Gesundheitssektor hinausreichen, nachhaltig eingesetzt werden und in zukunftsfeste Bereiche fließen?
Die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, nationale Aufbau- und Resilienzpläne bei der Europäischen Kommission einzureichen, die diese bewertet. Auch der Rat und damit die Mitgliedstaaten sind bei der Mittelvergabe eingebunden. Die Mittel sollen mit einem Schwerpunkt auf die digitale und ökologische Transformation unserer Volkswirtschaften ausgegeben werden und Auszahlungen nur in Tranchen und nach Erreichung von Meilensteinen erfolgen. Das ist ganz zentral für einen zielgerichteten Mitteleinsatz. Für mich steht die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und des Potentialwachstums im Vordergrund. Europa darf in vielen Bereichen nicht den Anschluss an die dynamischen Wirtschaftsräume der Welt verlieren.
Wie sollte sich die EU wirtschaftlich und finanzpolitisch aufstellen, um derartigen Krisen künftig besser zu begegnen?
In der Krise haben wir gezeigt, dass wir sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene handlungsfähig sind. Um in Zukunft im Gesundheitsbereich besser vorbereitet zu sein, halte ich eine europäische Produktion von Arzneimitteln, Schutzausrüstung und medizinischen Geräten für sinnvoll. Finanzpolitisch müssen wir nach der Krise zu nachhaltigem Wirtschaften und solider Haushaltspolitik zurückkehren, um auch in Zukunft Spielräume zu haben, um in Krisensituationen schnell und umfassend reagieren zu können.
Demnächst muss erneut entschieden werden, ob die Schuldenregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts weiterhin ausgesetzt bleiben. Haben Sie nach dem Meinungsaustausch auf der Konferenz den Eindruck, dass es eine Bereitschaft gibt, die gemeinsamen europäischen Fiskalregeln zur Haushaltsdisziplin und Staatsverschuldung angesichts der Gesundheits- und Wirtschaftskrise weiterhin zu lockern?
Bei der Aussetzung des haushaltspolitischen Rahmens zu Beginn der Pandemie bekannten sich die Mitgliedstaaten weiterhin uneingeschränkt zur Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Die Krisensituation bietet die Chance für eine Reflexion des bestehenden haushalts- und fiskalpolitischen Regelwerks. Gemeinsame Regeln bedürfen hinreichender Verbindlichkeit, Kontrolle und Durchsetzung. Noch ist nicht erkennbar, wann und wie die Covid-19-Pandemie ein Ende finden wird. Mittel- und langfristig werden Wirtschaft und Gesellschaft aber zu einem Weg finden müssen, bei dem sie nicht im aktuellen Maße auf staatliche Programme angewiesen sind. Zum jetzigen Zeitpunkt hat die Eindämmung des wirtschaftlichen Einbruchs Vorrang gegenüber der Einhaltung der europäischen Fiskalregeln. Die Gewährung von finanziellen Hilfen sollte dabei aber mit finanzieller Solidität einhergehen.
Das Programm „Next Generation EU“ ist ausweislich seiner Begründung und der Rechtsgrundlage des Aufbauinstruments (Artikel 122 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) als temporäres Instrument zur Bekämpfung der Folgen der Covid-19-Pandemie konzipiert. Wie stehen Sie zu den Forderungen einzelner Mitgliedstaaten oder aus der Europäischen Zentralbank, das Programm als dauerhaftes Finanzierungsinstrument der EU auszugestalten?
Ich denke, wir brauchen in der derzeitigen Lage Hilfen, die substanziell sind. Letztendlich ist es immer auch im deutschen Interesse, dass es Europa gut geht. Und mir ist trotzdem bewusst, dass hier ein Präzedenzfall geschaffen wird. Es wird eine europäische Schuld aufgenommen, und diese Schuld wird langfristig sein. Sie wird nicht in drei Jahren zurückgezahlt, sondern eher in Jahrzehnten. Für mich ist der Fonds eine besondere Antwort auf eine besondere Situation – also nur temporär. Wenn wir Grundlegendes ändern wollten in der Haushaltsführung der Europäischen Union oder wenn wir ihr etwa das Recht zur Steuerschöpfung geben wollten, dann müssten wir die Verträge ändern. Damit würde sich allerdings die Statik aus Kompetenz und Kontrolle verändern. Das wird sicherlich schon seit Jahren gefordert, aber ohne eine Vertragsänderung wird dies nicht möglich sein. Auch mit Blick auf unser Bundesverfassungsgericht kann ich nur vor schleichenden Kompetenzübertragungen warnen.
Im bisherigen Verlauf der Krise stand die Exekutive im Vordergrund. Bei der Ausgestaltung und Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität wird eine größere Mitsprache der Parlamentarier gefordert. Welche Rolle sollten dabei die nationalen Parlamente und – bezogen auf Deutschland – der Deutsche Bundestag spielen?
Es ist richtig, dass in der Krise die Stunde der Exekutive schlägt. Große Macht verlangt jedoch ständige Kontrolle. Die üben wir Parlamentarier allerdings auch gegenwärtig schon aus. Insofern wäre es falsch, wenn der Eindruck entstünde, dass wir jetzt erst damit beginnen. National begleiten wir die Krisenpolitik schon lange. Viele Maßnahmen wurden im Bundestag debattiert und beschlossen, und in den Ausschüssen berichtet uns die Bundesregierung regelmäßig. Gleiches gilt auch für die europäische Ebene, wo ebenfalls eine ständige Rückkopplung zwischen Bundesregierung sowie europäischen Institutionen einerseits und dem Deutschen Bundestag andererseits stattfindet. Sobald die rechtlichen Voraussetzungen für die EU-Programme gelegt sind, wird es an die Umsetzung gehen. Wir müssen uns vor Augen führen, dass sehr viel Geld in recht kurzer Zeit investiert werden soll. Deshalb müssen die nationalen Aufbaupläne mit großer Sorgfalt erstellt werden. Hier werden einmal mehr wir Parlamentarier gefragt sein, unsere Ideen einzubringen und uns an der Umsetzung aktiv zu beteiligen.
Sie haben vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung der Geldpolitik zur Krisenbekämpfung auf der SWKS-Konferenz zum ersten Mal den Dialog mit der Europäischen Zentralbank (EZB) gesucht. Könnte dies der Auftakt einer regelmäßigen Begleitung der EZB-Politik in diesem Forum sein?
Dieses Thema wird ja nicht erst seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihekaufprogramm PSPP der Europäischen Zentralbank diskutiert. Nach den Vorgaben des Gerichts muss der Deutsche Bundestag seine Integrationsverantwortung auch hinsichtlich geldpolitischer Entscheidungen des EZB-Rats nachkommen. Er tut dies auch. Zuletzt haben sich der Haushaltsausschuss, der Finanzausschuss und der EU-Ausschuss auf einen regelmäßigen geldpolitischen Dialog verständigt. Allerdings kann diese Rolle der Bundestag nicht allein wahrnehmen. Alle nationalen Parlamente und das Europäische Parlament sind hier gefordert. Wir haben in unserer SWKS-Konferenz mit EZB-Direktorin Isabel Schnabel von der EZB und Bundesfinanzminister Olaf Scholz genau zu dem Thema Geldpolitik diskutiert. Ich spreche mich dafür aus, dass wir bei der SWKS ein regelmäßiges Gesprächsformat zwischen EZB und den Parlamenten in der EU etablieren.
Bei der SWKS-Konferenz treffen sich die Parlamentarier der EU-Mitgliedstaaten, um sich über ihre nationalen Wege und Erfahrungen auszutauschen und abzustimmen. Reichen die bisherigen Bemühungen als gemeinsame, europäische Antwort auf die Krise?
Wir sollten zunächst einmal ohne Selbstzufriedenheit aber mit gesundem Selbstbewusstsein auf das Erreichte blicken: Europa hat sich in einer Situation der Not solidarisch gezeigt und ein Fiskalprogramm ungekannten Ausmaßes aufgelegt. Kein Mitgliedstaat ist in Zahlungsschwierigkeiten gekommen. Wir haben ein starkes Signal an unsere Bürger und nicht zuletzt an die Finanzmärkte gesendet. Nun geht es an die Umsetzung. Wir befinden uns nämlich zusätzlich zu der Krise, die die Pandemie verursacht hat, auch in einer digitalen und ökologischen Transformation. Deshalb müssen wir die Mittel klug einsetzen, sodass sie Investitionen fördern, die zukünftiges Wachstum generieren. Auf diese Weise vermeiden wir auch einen Generationenkonflikt, denn die aufgenommenen Mittel werden zurückgezahlt werden müssen. All diese Aufgaben werden die EU und die Mitgliedstaaten sicher noch einige Zeit beschäftigen. Ob wir perspektivisch zu einer Verstetigung kommen, zum Beispiel im Sinne eines – von Bundestagspräsident Schäuble schon vor langer Zeit vorgeschlagenen – Europäischen Währungsfonds, wird die Zeit zeigen.
(ll/13.10.2020)